Als Mädchen das Bewusstsein wiedererlangte und merkte, dass sie in dem engen Tunnel auf dem Rücken lag, war alles um sie herum still. Alle Lebewesen in der Umgebung des Flusses schienen verstummt zu sein, doch sie wusste, dass sie die Ohren spitzten. Mädchens nächste Entscheidung konnte eine Chance auf Essen bedeuten. Sie konnte sogar eine Veränderung in der Ordnung des Landes nach sich ziehen.
Die Äste der Bäume bewegten sich ganz sacht. Die Eichhörnchen hörten auf zu keckern und zuckten nur mit den Schwänzen. Die Familie der Dachse, die sich tagsüber verborgen hielt, war zwar wach, blieb aber mit gespitzten Ohren in ihrem Versteck. Auch die Bärin rührte sich nicht, aber ihr Interesse am Ganzen war so gering, dass sie eingenickt war. Ihr langer Waffenstillstand mit der Familie bedeutete, dass sie jetzt Energie sparen konnte, denn falls die Familie bei der Jagd erfolgreich war, hatte sie später etwas zu fressen. Der junge Leopard hielt sich weiterhin vorsichtig vom Wind abgewandt.
Nur der Fluss strömte unbeeindruckt weiter. Irdische Fragen wie die, wer was zu fressen bekam, betrafen ihn nicht. Ihn interessierte nur, wie er am leichtesten an der Bergflanke herunterfließen konnte. Er floss einfach weiter. Nichts konnte ihn aufhalten, und in dieser Hinsicht war er die stärkste Kraft in diesem Land.
In Mädchens Kopf tauchten all diese Gedanken in Form von Bildern auf. Das Bison, Er und Krumm, Große Mutter und Mickerling: Wo waren sie nur? An ihrem Hinterkopf spürte sie den harten Boden unter sich. Die Sonne bemühte sich nach Kräften, ihr Wärme zu spenden. Mädchen holte tief Luft und stellte fast überrascht fest, dass ihr Mund nicht voll Wasser war. Andererseits war der Fluss immer noch teilweise gefroren … lag sie auf dem Eis? Sie hob den Kopf und blickte an sich herunter. Ihre Füße befanden sich noch am Ende ihrer Beine. Ihre Zehen wackelten zur Begrüßung. Zu ihrem Erstaunen hatte ihr Kopf sich nicht von ihrem Fleisch gelöst. »Harz«, murmelte sie. Klebt noch.
Sie tastete nach der Muschel, die sie an einem Riemen um den Hals trug. Auch sie war noch da. Sie stützte sich auf den Speer und richtete sich auf. Sofort drehte sich alles, und der Boden kippte unter ihr weg. Sie taumelte zur Seite und versuchte, sich aufrecht zu halten. Wo war Er? Und wo Krumm? Sie tastete über ihren Kopf: da, eine große Beule. Sie war beim Fallen gegen die Felswand geprallt, und weißes Feuer war in ihren Augen aufgelodert. Jetzt rieb sie sich den Kopf und schlich vorsichtig durch den Tunnel zum relativ sicheren Felssims. Große Mutter und Mickerling versteckten sich immer noch zwischen den Baumwurzeln, wo sie sie zurückgelassen hatten. Erst als Mädchen »Aruu?« rief, wagten sie es, sich zu zeigen.
Als Erstes lugte Mickerlings schmaler Kopf zwischen den Wurzeln hervor. Große Mutter hatte den Jungen dicht an sich gezogen, um ihn zu beschützen. Vor lauter Sorge hatte sich sein Gesichtchen zusammengezogen. Seine Haare wirkten wie ein Flecken mit dunklem Moos; auf seiner breiten Stirn fing sich die Sonne. Mädchen fragte sich flüchtig, wie alt er wohl wirklich war. Da er so schmal war, konnte sie das nur schwer einschätzen, aber als sie ihn genauer musterte, erkannte sie, dass er wohlauf war.
Die Zeit schritt stets im Kreislauf der Jahreszeiten voran, doch es gab immer auch leichte Abweichungen. Wenn das Land viel Regen aufnahm, veränderte das den Zeitpunkt der Haselnussernte. Auch die Stärke der Sonne beeinflusste den Zeitpunkt der Ernte. Wenn das Eis schmolz, fingen die Fische an zu springen. Davor aber gingen die Bisons über die Furt.
Als sie jedoch in diesem Moment Mickerling betrachtete, hatte sie trotz der Benommenheit, die der Schlag auf den Kopf ausgelöst hatte, vor Augen, wie die Zeit voranschreiten würde. Das Land würde sich verändern, und Mickerling würde wachsen. Die Erde würde frieren, so wie seine weichen Füße hart und glänzend werden würden. Der Fluss würde vom Regen anschwellen, während sein gewölbter Bauch flach wie eine Eisdecke werden würde. Die Felsen des Landes würden immer flacher werden, während seine breite Stirn härter und runder werden würde, um seine Augen zu schützen. In Mädchens Geist geschah all dies gleichzeitig. Und doch geschah nichts davon. Sie schüttelte den Kopf, um wieder klar zu sehen. Es war gefährlich, dass ihre Zuneigung zu Mickerling sie ablenkte. Sie war mit den Sinnen nicht mehr bei der Jagd. Lauerte irgendwo Gefahr?
Als der Junge sie ansah, hob er seinen kleinen Finger. Das war ihr Zeichen. Als Mickerling am Treffpunkt in ihre Hütte gezogen war, hatte er sehr oft ganz still in einer dunklen Ecke gesessen. Mädchen war einmal in die Hütte gekommen, um sich davon zu erholen, dass sie sich ihren kleinen Finger unter einem Stein gequetscht hatte. Um nicht irgendwo anzustoßen, hatte sie den Finger in die Luft gehalten. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, fiel ihr auf, dass der Junge in der Ecke saß und genau wie sie den kleinen Finger hochhielt. Seitdem war das ihr Zeichen. Zwar konnte es vielerlei bedeuten, je nach den Umständen, aber in diesem Moment wusste sie, dass Mickerling fragen wollte: Alles in Ordnung mit dir?
Zur Beruhigung hob auch sie den kleinen Finger. Mickerling nickte und zog wieder den Kopf ein. Da tauchte Große Mutters Kopf auf. Ihr faltiger Mund verzog sich zu einem Lächeln, als sie Mädchen entdeckte. Die Erleichterung hüllte sie ein wie ein Sonnenstrahl und wärmte sie.
Mädchen blickte den Pfad entlang und folgte mit dem Blick den Spuren bis hinunter zum Fluss. Sie sah, dass die Bisonkuh über ihren Körper hinweg aus dem Tunnel gestürmt war. Wieso war sie nicht zerquetscht worden? Das hätte ihr durchaus zustoßen können … oder auch Krumm. Wo war er nur? Der Fluss war immer noch teilweise vereist. Die Hufspuren führten durch den Schlamm bis hinaus aufs Eis, wo es so dick war, dass es das Tier tragen konnte. Und da lag es, lang hingestreckt. Es zuckte noch, aber an einer Flanke hatte es eine große Wunde. Mädchen ging davon aus, dass es sich nicht wieder erheben würde. Eine große Blutlache breitete sich auf dem Eis aus. Und da war auch Er und hielt Wache beim Bison, mit erhobenem Speer, in sicherer Entfernung, aber bereit, wenn nötig zuzustoßen. Offenbar hatte er die Bisonkuh von hinten mit dem Speer angegriffen. Es war gefährlich, in die Nähe eines verendenden Tieres zu kommen. Wie ein Wolf würde Er sich etwas abseits halten, bis es starb.
Mädchen rannte durch den Schlamm. Wo war Krumm? Er war zwischen sie und das heranstürmende Bison gesprungen. Mädchen blickte zurück zum Tunnel und dann zu beiden Seiten des Ufers, aber eigentlich wusste sie es bereits. Krumms Körper lag auf dem Boden. Er musste von den spitzen Hörnern der Bisonkuh aufgespießt und mitgeschleift worden sein, und dann, als Er sie von hinten angriff, von ihren scharfen Hufen niedergetrampelt. Mädchen hielt kurz Ausschau nach anderen Tieren, aber die hatten sich wegen des Tumults tief ins Wäldchen zurückgezogen. Mädchen rannte zu Krumm und ging in die Knie.
Sein Puls war schwach. Es war viel zu viel Blut. Krumm veränderte sich bereits. Seine Haut sah aus wie ausgewrungenes Leder. In seinem Kopf war ein Loch, aus dem eine breiige Masse drang. Seine Beine lagen in einem unnatürlichen Winkel. Nur sein verkrüppelter Arm wirkte unverändert. Als Mädchen das sah, spürte sie einen Stich in ihrem Herzen. Dies war der einzige Körperteil, den er sich gerne hätte zertrampeln lassen. Sie hob seinen Körper auf und wiegte ihn in ihren Armen. Er fühlte sich schon kleiner und leichter an, als hätte seine Reise auf die andere Seite der Erde bereits begonnen. Sie drückte seinen Kopf an ihre Brust und summte, damit er die Schwingungen spürte.
Vorsichtig stand sie auf und trug Krumm den Pfad hinunter auf das dicke Eis. Große Mutter hatte es wohl ebenfalls schon gewusst, denn sie saß traurig schweigend auf dem Eis und nutzte einen Teil ihres Umhangs als Schutz für ihr breites Hinterteil. Als Mickerling und Er mit Große Mutter einen Kreis bildeten, legte Mädchen Krumm in die Mitte und bettete seinen zertrümmerten, blutenden Kopf auf den Schoß der alten Frau. Alle summten und wiegten sich hin und her, damit Krumm sich warm fühlte, geborgen in der Familie. Ein Körper mochte sich nicht allein fühlen, wenn er seine letzte Veränderung durchlief. Wenn ein Körper starb, war dies oft die letzte Bitte, verdeutlicht, indem man die Hände aufs Herz legte: Halte mich fest. Es war das Wichtigste, mit der Familie in Verbindung zu bleiben. Und so hielten sie Krumm abwechselnd fest. Sie alle summten gemeinsam, damit er auch hörte, dass er nicht allein war. Dies spürte die sterbende Bisonkuh ebenfalls. Schon bald fühlte auch sie sich getröstet. Auf diese Art ließen alle die Veränderung geschehen.
Mädchen blieb jedoch wachsam. Eigentlich hätte die Traurigkeit sie überflutet, aber die Zeit nach dem Erlegen eines Tiers war gefährlich. Für Fleischfresser war ein frisch getötetes Beutetier wertvoller als ein lebendes. Wenn ein anderes Tier es wagen würde, die Familie herauszufordern, dann jetzt. Der Aufruhr hatte bestimmt schon alle Lebewesen im Umkreis alarmiert.
Als Mädchen von hinten ein Geräusch hörte, schnellte sie herum. Was war das? Ein Blöken. Ein kaum merklicher Lufthauch streifte ihre Wange – nicht stark genug, um Gefahr zu vermelden. Dennoch schaute sie genauer hin.
Das Bisonkalb kauerte auf dem kalten Schlamm am Ufer. Mädchen konnte seine Angst als unangenehmen Luftzug an den Lippen spüren. Seine dürren Beine zitterten. Es hielt die Augen gesenkt. Überleben würde es nicht. Die Strecke bis zur Sommerweide konnte es nicht alleine schaffen. Die anderen Bisons aus der Herde, die nach dem Aufruhr ins Wäldchen zurückgeflüchtet waren, würden es wahrscheinlich nicht aufnehmen, sondern an ihm vorbeitrampeln und es allein in der Kälte zurücklassen. Nur in den besten Zeiten, zum Beispiel mitten im Sommer, lohnte sich das Risiko, ein junges Kalb aufzunehmen. Schon bald würde es durch die Kälte der Nacht oder die Wölfe in der Nähe verenden. Seine letzten Stunden würden voller Angst und Schmerzen sein. In Mädchens Augen wirkte das Kalb wie das einsamste Wesen der Welt. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlte, ohne Familie zu sein. Ein einzelner, einsamer Körper.
Über das Eis ging Mädchen zum Kalb. Es rannte nicht weg, sondern ließ zu, dass sie eines seiner kleinen Hörner packte. Sie drückte seinen Kopf gegen ihren Oberschenkel, tätschelte es, spendete ihm einen Moment der Wärme. Sie hauchte es an, damit es ihren warmen Atem spürte. Als sie Schritte hinter sich hörte und sich umdrehte, sah sie, dass Er sich näherte. Sie nickte und wandte sich wieder dem Kalb zu. Sie packte die Hörner und hielt es fest. Er stieß seinen Speer in seine Flanke, drehte ihn und hebelte ihn hoch, um dafür zu sorgen, dass das Kalb nicht weglaufen konnte. Mädchen zog ihren Arm mit dem Speer zurück und stieß ihn dem Tier tief in den Hals. Auch sie drehte die Steinspitze darin herum, damit das Blut besser herausströmte. Das Kalb knickte ein, sank in die Knie, sodass sein ganzes Gewicht darauf ruhte. Ihr Bruder drückte es mit einem weiteren Stoß seines Speers auf die Seite. Das Blut spritzte heraus, bis es zusammenbrach. Da presste Er ein Knie auf den Hals des Kalbs, drückte mit beiden Händen zu und bedeutete Mädchen, sich als Erste zu bedienen. Mädchen hielt ihren Mund an die Ader am Hals und trank. Sofort spürte sie die Hitze seines Körpers. Das Leben des Kalbs war vorbei. Sein Leben würde der Familie vor dem Fischsprung Kraft verleihen. Krumms Leben würde in ihr und dem Rest der Familie weitergehen. Dieses Versprechen nahm sie beim Trinken in sich auf. Und Krumm starb kurze Zeit später.