MICHAIL

Bericht über meine Reise in die Mongolei und das, was ich dort fand

Aufgezeichnet in St. Petersburg, im September 1883

KAPITEL 1

Eine außergewöhnliche Entdeckung

Im Haus herrscht Stille, nur das Dienstmädchen rumort in der Küche, und ich sitze an meinem Schreibtisch und habe beschlossen, meinen Bericht aufzuzeichnen. Ich versuche schon seit geraumer Zeit, diese Worte zu Papier zu bringen, in langen Briefen, die alle an denselben Mann gerichtet sind, doch bislang ist jeder einzelne von ihnen als zusammengeknüllter Schneeball im Papierkorb gelandet. Heute, nach einem Spaziergang im Sommergarten, habe ich endlich verstanden, dass meine Versuche einer Korrespondenz zu nichts führen werden. Ein Brief ist nicht die geeignete Form, und Wolff soll auch nicht mein Leser sein. Diese Erzählung handelt nicht von ihm oder mir, sondern von den Wildpferden und dem Leben von Mensch und Tier in der Steppe. Es ist ihre Geschichte, und jemand muss sie aufschreiben, ehe sie in Vergessenheit gerät.

Hoffentlich wird mein Text den ein oder anderen Leser erreichen. Die Geschichte über unsere Suche nach den Wildpferden müsste alle fesseln, die wenigstens ein Quäntchen zoologisches und ethnographisches Interesse besitzen, und sollten Sie zu diesen Lesern gehören, möchte ich Sie bitten, ein Nachsehen mit meinen womöglich überflüssigen und langwierigen Exkursen zu haben. Aus Respekt vor den tatsächlichen Ereignissen habe ich es nicht gewagt, allzu viel auszusparen, denn wer weiß schon, was sich als bedeutsam für die Nachwelt erweisen wird?

Mein Bericht beginnt an einem gewöhnlichen Montagmorgen im Mai 1880 mit dem Klappern von Hufen und dem lauten Brrrr des Kutschers auf der Straße vor unserer Wohnung. Anschließend hörte ich eine Wagentür, die geöffnet wurde, und Schritte auf dem Boden, ehe schon in der nächsten Sekunde der Türhammer dreimal hart und energisch gegen das Holz geschlagen wurde.

Damals wie heute saß ich in meinem Arbeitszimmer im ersten Stock, Mutter war soeben hinausgegangen, um einige Besorgungen zu machen, und ich war allein und wollte gerade zum zweiten Mal den Jahresbericht durchgehen, ehe ich mich zu meinem Arbeitsplatz begab. Ich verspürte eine leise Irritation angesichts des metallischen Klopfens, aber auch eine gewisse Erleichterung. Die Bilanz des Zoos war alles andere als eine erbauliche Lektüre. Sooft ich auch darauf blickte, die Zahlen verbesserten sich doch nicht. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, sie könnten sich bewegen, den Platz tauschen, Minus könnte zu Plus werden und Plus zu Minus, sie könnten zum Leben erweckt werden und ebenso irrational, spontan und warmblütig werden wie die Tiere, die sie repräsentierten. Am Vorabend hatte ich das Rechnungsbuch sogar nach dem Genuss einiger Lebenswässerchen eingehender studiert und gehofft, der Rausch würde sie zum Tanzen bringen. Doch selbst das half nichts. Mein Fachgebiet ist die Naturwissenschaft, zu der man bekanntlich auch die Mathematik zählt, aber der Weg von den lebenden Wesen, denen ich mich als assistierender Direktor im Zoo von Petersburg verschrieben hatte, bis hin zu diesen blauen Tintenstrichen auf grauweißem Papier, erschien mir weiter als von der Erde bis zum Merkur.

Die Krux war Berta, ein deutsches Nilpferd, auf dessen Kauf ich einige Monate zuvor beharrt hatte. Der Direktor überließ diese Angelegenheiten mir, er kümmerte sich um den Betrieb und die Angestellten, die Tiere aber waren meine Angelegenheit, und damit fiel Berta in meine Verantwortung; samt aller Herausforderungen, die ihre Anschaffung mit sich brachte. Tatsächlich zog sie die Besucher an, ja, die Petersburger liebten dieses große, behäbige Tier, und vor ihrem Gehege sammelte sich stets eine kleine Menschenschar und jubelte, wann immer sie auch nur das kleinste Schnaufen oder Grunzen von sich gab. Für mich bot sie dagegen schon lange keinen Anlass zum Jubel mehr. Natürlich war sie ein, wie soll man sagen, auffälliges Tier, viele bezeichneten sie gar als stattlich, aber die Kosten für ihren Transport von Hamburg waren noch viel stattlicher gewesen. Ich hatte mich schlicht und ergreifend an der stattlichen Berta verhoben.

Pjotr, unser Diener, trat leise ins Zimmer und stellte das silberne Tablett mit der Visitenkarte vor mir ab, während er auf seine zurückhaltende Art den Besuch anmeldete.

Ich nahm die Karte entgegen und studierte sie.

»Iwan Poljakow, Zoologisches Institut?«

»Wenn der Herr gestatten«, ergänzte Pjotr, »möchte ich darauf hinweisen, dass Poljakow ganz rotwangig und atemlos war. Als sei es dringlich.«

»Danke, Pjotr. Seien Sie doch so freundlich und bitten Sie ihn herein.«

Schon in der nächsten Minute ging die Tür auf, und Poljakow stand vor mir. Der Biologe war mein engster Mitarbeiter am Institut, dennoch trafen wir uns nicht oft. Von Zeit zu Zeit kam es vor, dass er mich zu Neuigkeiten über größere Tiertransporte informierte, die für weitere Neuanschaffungen interessant sein könnten, zu Hause aufgesucht hatte er mich jedoch noch nie. In der Tat war er sowohl rotwangig als auch atemlos, Pjotr hatte allerdings verschwiegen, dass Poljakow außerdem so breit grinste, dass er dabei all seine braunen Zähne offenbarte.

»Treten Sie ein«, bat ich.

»Mein werter Michail Alexandrowitsch«, sagte Poljakow. »Mein guter Freund.«

»Bester Iwan Poljakow«, erwiderte ich. »Ich hoffe, alles steht zum Besten bei Ihnen und Ihrer reizenden Familie. Ihrer bezaubernden Frau und Ihren ebenso entzückenden Kindern.«

»Ähm, ja.« Er stutzte ein wenig. »Gewiss.«

Vermutlich waren meine Floskeln wieder einmal übertrieben gewesen. Situationen wie diese, in denen ich mit anderen Männern allein war, brachten mich gern einmal aus der Fassung. Ich hütete mich davor, allzu aufdringlich oder überschwänglich zu sein, und fürchtete zugleich, dadurch arrogant zu wirken.

Poljakow schien meine Nervosität aber gar nicht wahrzunehmen. Ohne meine Aufforderung abzuwarten, nahm er am Salontisch Platz. Dann bemerkte er seinen Fauxpas und sprang wieder auf, als sei er vom Stuhl gebissen worden.

»Ich bitte Sie, mein Freund, setzen Sie sich doch!«, sagte ich. »Verzeihen Sie meine Trägheit, ich bin ein wenig zerstreut, die Bilanzen. Es ist wieder diese Zeit im Jahr, Sie wissen ja, wie das ist …«

Ich beendete meinen Satz nicht, weil mir auffiel, dass er keineswegs wusste, wie es war, und ich nicht mit seinem Verständnis rechnen konnte. Als Angestellter des Zoologischen Instituts wurde ihm sein Salär in einem so gleichmäßigen Takt überwiesen, wie die kaiserliche Garde marschierte.

»Wie auch immer«, fuhr ich fort. »Ich sehe doch, dass Ihnen etwas auf der Seele brennt. Und nun kommt Pjotr auch schon mit dem Samowar, lassen Sie uns doch ein Gläschen Tee genießen, bitte schön.«

»Tee? Das wäre doch nicht nötig gewesen, aber wenn Sie ihn mir schon so freundlich anbieten …«

Mit einer flinken Bewegung nahm er das Glas, das Pjotr ihm reichte, seine Hand zitterte leicht, und als er es mit einem leisen Klirren auf dem Tisch absetzte, schwappten einige Tropfen über. Dann nahm er die Zuckerzange, gab nicht weniger als vier Würfel hinein, rührte fünf Mal um und kippte das Getränk in drei großen Schlucken herunter.

»Da scheint es aber jemandem zu schmecken!«

Er zog ironisch eine Augenbraue hoch, und mir wurde bewusst, dass ich wie meine eigene Mutter klang.

»Ich möchte, dass Sie mich ins Institut begleiten«, bat Poljakow. »Es gibt etwas, das ich Ihnen zeigen muss. Gestern Abend kam ein Bote mit einer Sendung aus der Mongolei zu mir.«

»Aus der Mongolei? Und um mir das zu berichten, sind Sie persönlich erschienen?«

»Die Sendung stammt von Oberst Przewalski. Er befindet sich derzeit noch auf der Heimreise, aber die Sendung traf vor ihm ein. Und ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie diese Objekte in Augenschein nähmen.«

»Und um welche Objekte genau handelt es sich?«

»Ein Fell und einen Schädel.«

»Ein totes Tier? Ich befasse mich eigentlich lieber mit den lebenden.«

»Von einem Pferd, einem Wildpferd.«

»Ach, wirklich?«

»Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen«, sagte er und öffnete den Mund erneut zu einem großen, braunen Grinsen.

Ehe ich mit meiner Darstellung der Ereignisse fortfahre, erscheint es mir vonnöten, einige biographische Informationen über die Hauptperson dieser Erzählung vorwegzuschicken, also mich, den Verfasser höchstselbst. Hauptperson nicht in dem Sinne, dass ich die zentrale Figur in diesem eigenartigen Abenteuer wäre, so etwas würde ich mir nie anmaßen, und ich bin mir verhältnismäßig sicher, dass mein Name später einmal nicht in den Geschichtsbüchern auftauchen wird. Möglicherweise wird er aber immerhin Ihnen, werter Leser, in Erinnerung bleiben.

Mein Name ist Michail Alexandrowitsch Kowrow, ich wurde 1848 in Petersburg geboren, dem Jahr der Aufstände in Paris, in deren Folge König Louis-Philippe abdankte. Die Unruhen breiteten sich auch im übrigen Europa aus, und in Österreich musste der Kanzler seinen Hut nehmen. Unser eigener Kaiser bewies jedoch wie immer Stärke, und als erste Funken von Ungehorsam in Moldawien und der Walachei entfacht wurden, erstickte er sie im Keim. Ich selbst ahnte natürlich nichts von all dem, mein Leben beschränkte sich ganz auf die liebevollen Arme meiner Mutter und die strenge, aber gerechte Justiz meines Vaters. Wir hatten ein gutes Leben. Mein Vater, Alexander Kowrow, genoss als Rittmeister der Kavallerie große Anerkennung. Er hatte Mutter erst spät kennengelernt, und sie bekamen nur ein Kind. Dennoch gewann ich den Eindruck, ihre Ehe und ihr kurzes Zusammenleben wären sowohl glücklich als auch erfüllend gewesen, und sie hätten einen tiefen Respekt voreinander gehabt.

Als ich sieben Jahre alt war, nahm dieses Dasein eine jähe Wende. Das fatale Ereignis, das alles auf den Kopf stellen sollte, trug sich an einem Nachmittag im Januar zu. Draußen herrschte bereits nächtliche Finsternis, wie immer in den Winternachmittagen hier im Norden, die so anders waren als die weißen Nächte im Mai oder Juni. Mein Vater befand sich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause und wollte eine Straße überqueren. Ich weiß nicht, ob er die in wilder Fahrt herannahende Kutsche noch sah, und ich weiß auch nicht, wie schnell er starb. Und seine Schmerzen mag ich mir gar nicht ausmalen. Sowohl der Kutscher als auch die Fußgänger, die sich zufällig in der Nähe befanden, berichteten vom Geräusch der Hufe, die den Körper meines Vaters auf dem Kopfsteinpflaster trafen, harte Hufeisen auf weichem Menschenleib. Ich versuchte mir immer wieder vorzustellen, wie es geklungen haben muss, einmal legte ich mich sogar auf den Boden der Bibliothek und ließ ein rostiges Hufeisen auf meinen nackten Jungenbauch fallen, was allerdings gar kein besonderes Geräusch erzeugte.

Dies geschah im Übrigen beinahe zur selben Zeit, als sich Zar Nikolaus I. eine fürchterliche Lungenentzündung zuzog, eine ärztliche Behandlung ablehnte und bedauerlicherweise kurz darauf verstarb. Während das ganze Land trauerte, trauerten auch wir. Der Zar lag zwei Wochen auf dem Paradebett, und meine Mutter schloss sich weinend in ihrem Zimmer ein. Als sie es endlich wieder verließ, tat sie es nur, um den toten Zaren zu sehen. Ich erinnere mich, wie wir ungeheuer langsam am aufgebahrten Nikolaus I. vorbeidefilierten, wie Mutter mein Gesicht an ihre Rockschöße presste und schluchzte, sie wisse nicht, für wen sie mehr weine, für den Landesvater oder meinen Vater, während ich vorsichtig den Kopf zur Seite drehte, um einen Blick auf die Leiche zu erhaschen. Seither habe ich große Lebenseinschnitte stets mit der Zarenfamilie in Verbindung gebracht.

Anschließend blieben Mutter und ich allein. Immerhin waren wir jedoch nicht mittellos, sondern hatten dank der Pension meines Vaters ein gutes Auskommen. Wir konnten nicht mehr so leben wie zuvor, behielten aber unser Zuhause, die großzügige Wohnung in der Kriwtsow-Gasse, und hatten genügend Mittel, um ein bescheidenes, aber doch verhältnismäßig angenehmes Dasein zu führen.

Meine Kindheit werde ich immer mit den großen, stillen Zimmern unserer Wohnung und der Wärme meiner Mutter in Verbindung bringen. Sie war immer aufopferungsvoll gewesen. Was mein Wohlergehen anbelangte, machte sie keinerlei Kompromisse. Bei Tisch bekam ich immer die besten Fleischstücke, und ich wurde auf eine ausgezeichnete Schule geschickt.

Die Schule, ja … der Leser möge es mir erlauben, auch einen kurzen Abstecher zu diesem kurzen und brutalen Abschnitt meines Lebens zu machen. An meinen ersten Schultag erinnere ich mich noch allzu gut. Mutter hatte mich bis zum Tor gebracht, mir drei Abschiedsküsse gegeben und mir nachgewunken, als ich über den Hof auf das große, dunkle Gebäude zustrebte. Ich wechselte mit keinem der anderen Kinder ein Wort und kannte auch keines von ihnen. Das System sprach mich aber sofort an. Es war, als wäre die Schule in einer langen Kolonne organisiert, als wären wir keine einzelnen Kinder, sondern Teil einer Kette. Wir saßen in Reih und Glied, wir marschierten im Takt. Zumindest, bis die Schulglocke schellte. Danach blieb ich mit einem Mal allein zurück.

Mit der kühlen Ignoranz der ersten Wochen hätte ich leben können, doch nachdem sich die Konstellationen gefestigt und die meisten ihren Platz gefunden hatten, entstand eine neue Dynamik: Die anderen Jungen fingen an, nach einer Bestätigung dafür zu suchen, dass genau diese Konstellationen zusammengehörten. Und die Bestätigung suchten sie gern im Konflikt mit den anderen Gruppen, häufiger aber, indem sie die wenigen von uns bloßstellten, die nicht dazugehörten.

Ich erinnere mich an meine neue Schiefertafel. Sie war mein ganzer Stolz gewesen, als ich in der Schule anfing. Ich erinnere mich, wie sie kaputtgeschlagen wurde, wie die Jungen wetteten, was härter war, mein Kopf oder die Tafel.

Es war mein Kopf.

Als ich zum dritten Mal mit unerklärlichen Verletzungen nach Hause kam und nicht verraten wollte, wie sie entstanden waren, erzählte Mutter mir, sie habe sich nach einem Privatlehrer für mich erkundigt.

»Privatlehrer?« Es war das schönste Wort, das ich je gehört hatte.

Anschließend spielte sich der Großteil meines Lebens in unserer Wohnung ab, mit den besten Lehrern, die es in ganz Petersburg gab, ich wurde auf Russisch und Französisch unterrichtet und musste unsere Straße nie mehr verlassen.

Nur drei Hauseingänge entfernt, gegenüber von unserem Gebäude, befand sich die Geographische Gesellschaft. Schon früh waren mir die verschiedenen Herren aufgefallen, die dort ein- und ausgingen. Oft war ihre Kleidung schmutzig und staubig, sie kamen fast immer allein, trugen Leinensäcke voller Flecken und Koffer, deren ursprüngliche Farbe unter Kerben und Kratzern verschwunden waren, ihre Haut war wettergegerbt, die Hände braun und sehnig und ebenso verschlissen und zerkratzt wie ihr Gepäck. Eifrig lauschte ich ihren Gesprächen, entwickelte ein Talent dafür, mich in ihrer Nähe aufzuhalten und alles aufzuschnappen. Mit gespitzten Ohren versuchte ich zu erfahren, wo sie gewesen waren, wie sie gereist waren und mit wem, und nicht zuletzt, welche Tiere sie gesehen oder sogar gefangen hatten. Die Fauna dort draußen sei ganz anders als das uns vertraute, russische Tierleben, hörte ich sie erzählen. Sie sprachen von Vögeln und anderen Arten, die so farbenfroh und merkwürdig waren, dass man es sich kaum vorstellen konnte, ehe man sie nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Ich bettelte Mutter nach neuen Büchern an, und jeden Freitag schleifte ich sie in die Kunstkammer, die naturwissenschaftliche Sammlung Peters des Großen, wo man neben vielen missgebildeten Föten in Gläsern auch ausgestopfte Tiere aus allen Ecken der Welt bestaunen konnte.

...


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