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Im weicheren Schnee weiter unten am Berg waren Mickerlings Fußabdrücke deutlich zu sehen. Mädchen kannte sie wie ihre eigenen. Sie konnte sich jede seiner Bewegungen ganz genau vorstellen. Er hatte auf der Schneedecke gestanden. Zwar trug er seltsame dünne Lederlappen an den Füßen, aber die Abdrücke und die Art, wie er sein Gewicht verlagerte, waren immer noch deutlich und vertraut. Er oder jemand, der bei ihm war, hatte das Fleisch für sie aufgehängt. Er hatte sich umgeschaut und in der Hütte nachgesehen. Eindeutig hatte er etwas im Lager gesucht. Da er jemand war, der mit den Augen suchte, überraschte es Mädchen nicht, dass ihr Bau unentdeckt geblieben war. Aber als der Schnee morgens hart genug war, um darauf zu gehen, hatte er versucht, sie zu finden.

Doch es gab noch andere Fußspuren. Sie waren schmal und nur ein bisschen breiter und größer als Mickerlings, aber dennoch sehr ähnlich. Es waren die Abdrücke, denen sie vom Ausguck am Treffpunkt gefolgt waren.

Mädchen ging immer mit Blick auf die Spuren den Berg hinunter. Es sah aus, als wären die beiden ganz entspannt gelaufen. Es gab keine Schleifspuren, die anzeigten, dass Mickerling von einem Größeren gezwungen worden war. Manchmal verliefen die Spuren nebeneinander und fast wie im Gleichschritt, als hätte der andere Mickerlings Hand gehalten. Da der Junge sich nicht bedroht gefühlt hatte, entspannte sich auch Mädchen. Sie hatte diesen Weg eingeschlagen, als sie ihn vor Wintereinbruch gesucht hatte, dann aber angehalten und war zurückgekehrt, bevor sie die Stelle erreichte, an der sie sich jetzt befand. Sie folgte ihnen vom Fluss hinunter in die trockenere Gegend des Bergs, wo nur noch Schnee unter den Felsüberhängen lag, die tagsüber Schatten warfen. Immer weiter ging sie bergab, auf die Ebene zu. Sie nutzte den Tag zum Laufen und die Nacht zum Ausruhen, und marschierte frühmorgens wieder los. Mittlerweile hatte sie Gras unter ihren Füßen, und der Wald war nicht mehr so dicht. Sie hielt sich unter den Bäumen und bewegte sich von einem Stamm zum nächsten. Wenn sie zwischen zwei Bäumen war, fühlte sich ihr Kopf im grellen Sonnenlicht nackt an.

Schon bald roch Mädchen in der Ferne ein Feuer. Sie hätte es viel früher gewittert, hätte der Wind nicht von ihr weggeblasen. Sie kletterte auf einen der Bäume, dessen Äste dick und breit waren von der vielen Sonne, die er ganz für sich allein hatte. Da er noch kein Laub hatte, konnte sie gut Ausschau halten. Sie presste ihren Körper fest an den Ast, um nicht gesehen zu werden. In der Ferne entdeckte sie eine Herde. Zumindest dachte sie das zunächst: Eine Herde Bisons, die mit ihren runden Rücken die Sonne genossen. Aber nachdem sie eine Weile dorthin gestarrt hatte, erkannte sie, dass sie sich nicht bewegten. Und das Fell stimmte auch nicht: Es war seltsam geformt, oben spitz und ganz hell.

Rotwild? Sie wusste es nicht. Noch einmal starrte sie dorthin und dachte nach. Erst später sollte sie erfahren, dass dies eine neue Art Hütte war, denn in diesem Augenblick wurde sie abgelenkt. Sie sah einen Körper, der sich bewegte.

Er war weit entfernt, es würde lange dauern, ihn zu erreichen, aber er kam in ihre Richtung. Ein Zweibeiner mit straff gewickeltem Leder am Körper. Dahinter folgte ein ähnlich aussehender, aber viel kleinerer Körper. Er hatte einen runden Kopf und dunkle Haare. Sicher sein konnte sie sich nicht, aber er wippte beim Gehen so wie Mickerling.

Mädchen beobachtete, wie die beiden näher kamen. Sie kletterte vom Baum und wartete am Stamm. Die Gefahr war ihr bewusst. Wann immer ein Tier auf ein anderes traf, bestand zunächst Gefahr. Andererseits wollte sie unbedingt Mickerling wiedersehen und wusste, er würde ihr ein Zeichen geben, wenn er sich mit einem feindlichen Tier näherte.

Sie trat ein paar Schritte vor und rief verhalten »Aruu«, um die Körper zu warnen, dass sie sie gesehen hatte. Der größere Körper schrak zusammen, als hätte er Mädchen vorher noch nicht richtig wahrgenommen. In diesem Augenblick ließ Mädchen ihren Speer fallen, um zu zeigen, dass von ihr keine Gefahr ausging. Mit beiden Füßen fest auf dem Boden behauptete sie ihre Stellung. Dann hob sie die Hand, spreizte die Finger und zeigte ihre offene Handfläche.

Sie betrachtete den Zweibeiner, der da vor ihr stand. Er sah in gewisser Weise aus wie Mickerling, hatte die gleichen moosähnlichen Haare, die gleiche dunkle Haut und die gleichen leuchtenden Augen. Sein Gang war ebenso leichtfüßig, bei jedem Schritt ein langsamer Bogen, und die Füße berührten ganz leise den Boden. Aber der Körper war größer als Mickerlings, mit runden Muskeln – und mit Brüsten. Er trug das Meer um den Hals, aber nicht nur einmal, sondern es waren viele Meere nebeneinander an einen Riemen gefädelt, wie eine zweite Zahnreihe. Es war wie Familie, aber nicht wie ihre Familie.

Dennoch hatte sie seit Monaten niemanden gesehen, der der Familie so ähnelte. Die Unterschiede schwanden, und Mädchen sah, was gleich war. Ihr Atem stockte, Tränen traten in ihre Augen, und in ihrer Brust entfaltete sich ein großes Staunen.

Die Frau hatte nicht das Gefühl, in tödlicher Gefahr zu sein. Als das Mädchen vor ihr auftauchte, sagte sie in scharfem Tonfall etwas zu dem Jungen, der sie begleitete. Trotz seiner Einwände befahl sie ihm, sich auf einem Baum zu verstecken. Also kletterte er wie geheißen einen dünnen Stamm hinauf, blieb aber auf dem untersten Ast, sodass er gute Sicht auf sie hatte. Als der Junge auf dem Baum war, zögerte die Frau. Sie hatte ihre Waffe, einen dünnen Speer, noch in der Hand. Nervös spielte sie mit den Fingern am Schaft. Sie wollte nicht bedrohlich wirken, aber auch nicht ohne Mittel dastehen, sich zu verteidigen. Schließlich trat sie noch ein paar Schritte vor und blieb stehen.

Sie starrte auf Mädchen, diese ungeheuerliche Kreatur. Nichts hatte sie auf diesen Anblick vorbereitet. Zwar hatte sie Geschichten von solchen Wesen gehört, aber nie eines mit eigenen Augen gesehen. Obwohl der Junge, auf seine stockende Art, den Körper in allen Einzelheiten beschrieben hatte, war er dennoch ein überwältigender Anblick. Wäre Mädchen so groß und stark gewesen wie noch im Sommer zuvor, mit schimmernden Muskeln in Jagdkluft, hätte die Frau Angst bekommen.

Auch so erkannte die Frau nach nur einem Blick, dass sie die Schwächere war, und die Knie wurden ihr weich. Obwohl Mädchen im Winter dem Tode nahe gewesen war, wirkte ihr Körper massiv und stark. Es war ein Körper mit dichterer Muskelmasse, die Kraft und Schnelligkeit verlieh, außerdem verfügte er über ausgezeichnete Sinnesorgane und eine scharfe Intelligenz. Die Augen lagen in tiefen Höhlen unter der Stirn und waren schwer zu deuten. Das Mädchen hatte einen roten Haarschopf, und auf ihrer niedrigen Stirn saßen Hörner.

Die Frau hätte sich, wie vielleicht andere in ihrer Lage, von ihren Eindrücken überwältigen lassen und mit dem Speer zustoßen können. Aber diese Frau war anders. Sie konnte einfach nicht aufhören, Mädchen anzustarren. Außerdem hatte sie dem Jungen zugehört. Er hatte ihr Geschichten darüber erzählt, dass dieses Wesen so freundlich gewesen war, ihm über ein Jahr lang Essen und Sicherheit zu gewähren. Der Beweis dafür war, dass Junge noch lebte. Außerdem hatte er der Frau erklärt, wie sie das Mädchen begrüßen sollte.

Sie legte den Speer auf den Boden, weil ihre Neugier über ihre Angst siegte. Sie beschloss, den Worten des Jungen über dieses Wesen Glauben zu schenken. Langsam ging sie auf Mädchen zu und atmete dabei tief ein und aus, um ihre Angst zu bezwingen. Dann hob sie die rechte Hand und zeigte ihre Handfläche. Wie der Junge ihr beigebracht hatte, spreizte sie die Finger.

Immer weiter trat sie auf Mädchen zu, bis sie direkt vor ihr stand. Sie konnte den säuerlichen Geruch eines hungrigen Magens riechen und die fettigen Überreste einer fremdartigen Fleischmahlzeit auf ihrer Haut. Die Frau blickte Mädchen in die Augen. Dabei kamen ihr die Tränen. Sie drückte ihre Hand gegen Mädchens größere Hand. Das gleiche Blut strömte in ihren Adern. Ihre Herzen schlugen im Gleichtakt. Sie beide dachten dasselbe: Wir sind nicht allein.