Pressspan

Am Sonntag hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich mir weniger um Caitlin und die Leitung der Ausgrabungen Sorgen machte, als vielmehr um ganz Praktisches, wie etwa das Einlagern von Sachen. Simon erklärte sich einverstanden, als letzte Amtshandlung vor der Heimfahrt eine Ikea-Filiale außerhalb von Avignon aufzusuchen.

Auf der Fahrt dorthin musste ich ständig an etwas denken, das Caitlin gesagt hatte. Sie hatte erwähnt, am nächsten Tag würde eine Videokonferenz mit dem Museumskomitee stattfinden. Die Vorstellung, nicht daran teilzunehmen, weckte in mir die schlimmsten Befürchtungen.

»Einem Journalisten die Ausgrabungsstätte zeigen?« Ich konnte meine Gedanken einfach nicht für mich behalten. »Das zeigt doch nur, wie wenig sie über die Auswirkungen dieses Projekts weiß. Sie hat bestimmt nicht die geringste Ahnung davon, wie revolutionär meine Deutungen der Funde sein könnten. Die Menschen möchten sich einfach nicht gern vorstellen, dass sie eng mit den Neandertalern verwandt sind, und zwar wegen deren Darstellung in der Vergangenheit. Niemand sieht sich gerne als haariges Ungeheuer.«

»Rose?«

»Simon?«

»Angesichts deiner Lage frage ich mich, ob es tatsächlich sinnvoll ist, jetzt zu Ikea zu fahren.«

»Meiner Lage?«

»Du bist schwanger. Wir sind pleite.«

»Die Einkäufe sind fürs Projekt.«

»Können wir uns auch Fleischbällchen leisten?«

»Ach, wenn du doch das Baby bekommen könntest.« Ich betrachtete die am Fenster vorbeiziehende Landschaft. »Du wärst viel besser dazu geeignet, findest du nicht auch?«

»O ja, ganz großartig.« Simon umklammerte fest das Lenkrad. »Ich würde schwanger, barfuß und einsam durch unsere Wohnung irren und mich fragen, wann mein Mann nach Hause kommt.«

»Wieso barfuß?«

»Da du dich in ein wildes Tier verwandelt hast, Rose, wirst du meine Pantoffeln zum Frühstück verspeisen.«

»Wenigstens bin ich nicht haarig.«

Wir kamen an einem blühenden Lavendelfeld vorbei, dessen leuchtende, duftende Büsche in ordentlichen Reihen gepflanzt waren. In der Mitte stand ein kleines, robust wirkendes Steinhäuschen, das aussah, als hätte es seit eh und je den näher drängenden Pflanzen getrotzt.

»Aber Caitlin ist doch eine renommierte Wissenschaftlerin«, wandte Simon ein. »Habe ich Recht?«

»Auf ihrem Fachgebiet die beste.«

»Und das Museum würde doch auch nur jemanden einsetzen, der sich auskennt.«

»Vielleicht aber auch nicht.«

»Hast du Zweifel, weil sie eine Frau ist?« Er warf mir ein triumphierendes Lächeln zu.

»In diese Falle werde ich dir nicht tappen.« Ich seufzte. »Obwohl es ehrlich gesagt eine wichtige Frage ist. Ich glaube tatsächlich, dass Guy mit Absicht jemand Fachfremden eingestellt hat, damit eine Art Machtvakuum entsteht und Guy mehr Handhabe hat. So können sich Experten einmischen, und Guy kann sich aussuchen, was er macht – je nachdem, was mehr Besucherzahlen verspricht und seine privaten Investoren zufriedenstellt. Für morgen ist eine Videokonferenz geplant. Dabei nimmt auch einer der von ihm angestellten externen Berater teil. Sehr passend, findest du nicht?«

»Weißt du denn, was dieser Berater sagen wird?«

»Er hat seinen Befund zwar noch nicht veröffentlicht, wird aber von Guy bezahlt. Also wird er das sagen, was Guy von ihm hören will.«

»Wer ist denn eigentlich dieser Guy?«

»Guy Henri.«

»Der Kurator vom Museum in Arles? Ich wusste gar nicht, dass du mit ihm zusammenarbeitest.«

»Caitlin wird nicht wissen, wie die Expertenmeinung zu deuten ist. Die Wissenschaft wird den Kürzeren ziehen. Und auf lange Sicht wird mein Ruf leiden.«

»Verstehe.«

»Und genau deshalb, Simon … will ich …«

»Ja?«

»Ich finde, ich sollte das Baby hier bekommen.«

»Wo? Bei Ikea?«

»In Frankreich.«

Simon schwieg. Ich entdeckte einen leuchtend blauen Quader am Horizont. Ikea hatte seine Filiale nur außerhalb von Avignons Stadtmauern errichten dürfen.

»Ich will weiterhin ein Auge auf das Projekt haben können«, erklärte ich.

An seinem Kiefer zuckte ein kleiner Muskel. »Rose?«

»Simon?«

»Wir leben in London. Ich …«, er zeigte mit dem Finger auf seine Brust, »… lebe in London.«

»Ich weiß.«

»Verdammt: Du bist so schwierig.«

»Schieb’s nicht auf die Hormone.«

Simon verkniff sich, was auch immer er hatte sagen wollen, und steuerte den Wagen in eine Nische des riesigen, aber bereits überfüllten Parkplatzes. »Lass uns erst mal reingehen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wir reden später darüber.«

Der fensterlose Bau bot keinerlei Möglichkeit, die Umgebung außerhalb wahrzunehmen. Kaum hatten wir ihn betreten, wusste ich, warum: Ich hätte überall auf der Welt sein können. Ich konnte einfach meine Augen schließen, mich auf ein weiches Sofa mit zu vielen Kissen fallen lassen und den Duft der Stoffimprägnierung einatmen.

Simon schien sich ebenfalls zu entspannen. Vermutlich war Ikea für ihn ein schlichteres Abenteuer als die meisten, die ich ihm bislang zugemutet hatte. Da er am Stadtrand von Bournemouth aufgewachsen war, hatte er sich schon in jungen Jahren an Zersiedelung und Big-Box-Läden gewöhnt. Außerdem mochte er die Fleischbällchen, die es nur bei Ikea gab.

Er führte mich die gelbe Linie entlang an den verschiedenen Schauräumen vorbei, in denen ich mir ganz normale Bewohner vorstellte. Für jeden von ihnen erfand ich eine Lebensgeschichte.

»Siehst du, wie sie den Tisch schon fürs Abendessen gedeckt hat, obwohl es erst zehn Uhr morgens ist?«, fragte ich missbilligend. »Weil sie sich einfach nicht entspannen kann. Im Hier und Jetzt leben. Und er regt sich darüber auf, wenn sie den Tisch deckt, weil er eigentlich nur mit einem Teller Nudeln vor dem Fernseher sein Spiel sehen will.«

»Glaubst du, die beiden bleiben zusammen?« Simon rückte ihre Servietten zurecht und betrachtete besorgt ihre Anrichte.

»Auf gar keinen Fall«, antwortete ich. Wir schlenderten zum nächsten Schauraum in der Esszimmerabteilung. »Die Armen, das hält nicht mal ein Jahr.«

»Dies hier sieht verdächtig arrangiert aus, findest du nicht?« Simon zeigte auf einen Tisch in einem weiteren Raum. Dort lagen mehr Utensilien als eigentlich nötig. Und die Teller waren in seltsamen Konstellationen angeordnet. »Kontrollfreaks«, nickte ich.

»Hinter Perfektionismus steckt immer der Versuch, alles zu kontrollieren.« Simon rieb sich nachdenklich übers Kinn. Er machte sich ernsthaft Sorgen um die Bewohner.

Als wir zu den Schlafzimmern kamen, sahen wir ein überdimensioniertes Bett mit besonders vielen Kissen. Simon warf sich darauf und fing an zu schnarchen. Ein kleines Mädchen steckte seinen Kopf in den Schauraum, um einen Blick auf ihn zu werfen. Ich war mir nicht sicher, ob Simon sie bemerkte, aber als sie näher ans Bett trat, rollte er sich plötzlich zu ihr und gähnte laut. Das Mädchen kreischte auf und rannte davon.

Kurz darauf saßen wir vor einem Teller mit Fleischklößchen, Salat und dem merkwürdig leckeren Waffelgebäck, das niemand sonst in Europa so hinkriegt.

»Hast du dich je gefragt«, setzte ich an, während ich meine Augen über die Tische schweifen ließ, »wieso du hier auf diesem Planeten gelandet bist?«

»Ich hatte befürchtet, dass so was kommen würde.« Simon schenkte mir ein mattes Lächeln. »Megastores wie dieser hier ziehen dich magisch an, aber kaum bist du drinnen, kriegst du eine Existenzkrise.«

»Im Ernst, Simon. Warum mühen wir uns so ab?«

»Diese Frage haben sich auch viele große Philosophen gestellt.«

»All diese Wegwerfmöbel in flachen Paketen, die dafür sorgen, dass sich die Pärchen beim Zusammenbauen streiten. Und am Ende landen sie sowieso auf dem Müll. Wieso müssen wir uns so abplagen?«

»Es ist sinnlos.«

»Ich weiß, warum«, sagte ich.

Simon hielt mit einem Fleischbällchen auf seiner Gabel inne und zog die Augenbrauen Richtung der Neonlichter über uns. »Ach ja?«

Wir führten diese Unterhaltung nicht zum ersten Mal. Mindestens einmal pro Jahr, meist öfter, stellte ich ihm diese Frage. Simons Antwort lautete stets, seiner Meinung nach hätte das alles keinen Sinn. Er stand einfach jeden Morgen aufs Neue auf. Wenn man das Bedürfnis nach einer höheren Bedeutung verlor, wurden kleinere Dinge wichtiger. Er liebte Tee am Morgen, vor allem, wenn er kochend heiß war. Für ihn ergaben Tee und eine ungelesene Zeitung Sinn genug. Mich hingegen trieb, solange ich denken kann, die Suche nach dem Sinn des Lebens um. Ich sprach oft darüber. Als ich Simon das erste Mal fragte, ob er seiner Meinung nach aus einem bestimmten Grund auf dem Planeten Erde gelandet sei, hatte er die Frage wirklich ernst genommen. Er blieb stehen, setzte sich auf einen Stuhl und dachte schweigend darüber nach. So lange bis er zu einem Schluss gekommen war. Es war nicht seine Antwort, die mich fasziniert hatte, sondern dass Simon das Denken als etwas betrachtete, das man unabhängig von anderen Tätigkeiten tun musste. Und nachdem er die Frage einmal ganz durchdacht hatte, tat er seine Überzeugung kund.

»Nein.«

»Es gibt keinen Grund dafür, jeden Morgen aus dem Bett zu steigen?«, hatte ich nachgehakt.

»Darüber denke ich nicht nach. Habe ich noch nie.«

»Aber wirst du darüber nachdenken?«

Als er mich ansah, hatte ich erkannt: Er ging bereits davon aus, dass wir unser Leben zusammen verbringen würden. »Mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben, weil du mich ständig aufs Neue fragen wirst.«

Da habe ich mich in ihn verliebt.

Diese neue Wendung in unserer aktuellen Unterhaltung – dass ich nach all unseren gemeinsamen Jahren eine Antwort darauf hätte, warum wir hier waren, und zwar eine, die zum selben Zeitpunkt wie ein Teller Fleischbällchen erschien, erwischte ihn kalt. Er schien sich zu wappnen, weil er erkannte, dass er sich nun mit welcher Antwort auch immer abplagen musste. Also aß er das Fleischbällchen auf seiner Gabel und spießte gleich ein neues auf. »Du weißt also, wieso wir auf diesem Planeten gelandet sind?«, fragte er und schwenkte sein Fleischbällchen. »Nach all dieser Zeit findest du ausgerechnet hier die Antwort?«

»Ich frage mich nicht mehr.«

»Genau dasselbe wollte ich auch sagen. Dass ich plötzlich einen größeren Sinn hinter all dem sehe.« Er grinste breit.

»Ich habe sie gefunden.« Ich grinste ebenfalls.

»Das Baby.«

»Die Neandertalerin.«

»Oh.«

»Ich hab da dieses Gefühl, Simon, dass sie meine Theorien bestätigen wird, wenn ich sie erst mal vollständig ausgegraben habe.«

»Ach ja?« Simon steckte sich das Fleischbällchen in den Mund, wandte den Blick ab und kaute heftig. »Da hast du sicher recht.«

Wir fanden das perfekte Regalsystem für die kleine Nische an der Flügeltür der Wohnung. Zwar machte ich mir Sorgen, es würde nicht in den Wagen passen, aber Simon winkte nur ab. Kein Problem, schließlich wäre alles in einem flachen Paket zusammengepackt. Ich war nicht überzeugt, nickte aber nur, weil ich langsam müde wurde. Wir hatten lange gebraucht, bis wir alle Regalböden, Schubladen und Verstrebungen hatten, die dazu notwendig waren. Mit einem Bleistiftstummel hakte ich alles ab, was Simon auf den Wagen lud. Er musste noch zweimal zurückrennen, um letzte Einzelteile zu holen. Wir hatten einen kleinen Streit über die Aussprache einer schwedischen Bezeichnung und einen zweiten über die Nummern der Gänge. Die Nummerierung erschien mir total unlogisch. Dann war da die Sache mit den Schrauben. Ich war sicher, dass sie schon mit inbegriffen waren, während Simon meinte, wir müssten sie separat kaufen. Wie sich herausstellte, war beides richtig.

Als wir schließlich fertig waren, mussten wir fast eine Stunde an der Kasse warten. Dann wobbelten ich und der Einkaufswagen mit dem schleifenden Rad endlich zum Mietwagen zurück. Simon schob alle Regale in den Fußraum des Beifahrersitzes. Wohin meine Füße sollten, schien ihn nicht zu kümmern, aber sie taten ohnehin so weh, dass ich sie nur zu gerne zurückgelassen hätte. Ich nahm die kleinen Drahtkörbe, um sie auf dem Schoß zu halten – oder dem, was von meinem Schoß noch übriggeblieben war. Die Verstrebungen des Regals kamen in die Lücke zwischen den Vordersitzen.

»Sind wir dann fertig mit Nestbau?«, erkundigte sich Simon. Ihm tat der Rücken ebenfalls weh.

»Ich brauche ein Nickerchen«, sagte ich.

Als letztes musste noch die Regalwand in den Wagen. Ich machte Platz, während Simon versuchte, sie hineinzumanövrieren. Er schob sie ein Stück hinein und drückte. Da das Ende zu weit aus dem Kofferraum herausragte, musste er stärker pressen. Es wollte sich jedoch nicht bewegen. Als mir klar wurde, dass es nicht passen würde, kippte bei mir ein Schalter um. Das hatte ich ihm doch schon im Laden gesagt! Die Vorstellung, wieder zurück zu müssen und mich in die unendliche Schlange am Lieferungsschalter zu stellen, war einfach unerträglich.

»Ich hab dich gewarnt«, sagte ich scharf.

»Aber du hast auch gesagt, wir sollten es versuchen.«

»Du denkst nie vorausschauend.«

»Du rennst ständig in fremde Länder davon.«

»Ich kann nicht rennen. Ich bin so dick wie ein Polstersessel.«

»Ich ziehe nach London, und du haust nach Frankreich ab«, zischte er. »Wie soll ich dafür planen?«

»Du könntest damit anfangen, einen Mietwagen zu nehmen, der groß genug für mich ist.«

»Ich versuche, Geld zu sparen.«

»Weil du keins mehr verdienst.«

Simon wich vom Wagen zurück. Seine Miene verhärtete sich, und einen Augenblick sah er so aus, als wollte er einfach verschwinden, aber dann knurrte er gequält. Es war ein Laut, den ich noch nie von ihm gehört hatte. Plötzlich wirkte Simon sehr groß und wild, hatte die Zähne gefletscht und die Augen weit aufgerissen. All seine Hilflosigkeit und Verzweiflung kamen als Wut heraus. Das kleine Mädchen, das er zuvor versehentlich erschreckt hatte, ging gerade mit seinen Eltern zum Wagen. Es erstarrte vor Angst, riss den Mund auf und kreischte los.

Ich wandte Simon den Rücken zu. Mir taten die Füße weh, und ich war erschöpft. Ich machte mir Sorgen um meine Neandertalerin, die noch ausgegraben werden musste. Ich wollte, dass Simon sich mehr anstrengte. Er sollte sich nicht über die nicht passenden Teile aufregen, sondern die Sache in Ordnung bringen. Er sollte mich wieder in Ordnung bringen, denn mittlerweile fühlte ich mich so kaputt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Mein Körper gehörte mir nicht mehr. Er machte einfach nicht mehr, was ich wollte. Also ließ ich mich auf die Stoßstange sinken und hörte mir Simons Knurren an.

Schließlich holte er tief Luft und kam zu mir herum.

»Rose?«, fragte er übertrieben ruhig.

»Ja?«

»Steig ein.«

»Dann haben wir schon zwei Teile, die nicht reinpassen.«

»Wir fahren nach London.«

»Jetzt?«

»Auf der Stelle. Mir reicht’s. Das Baby kommt. Ich lass die Regale liefern. Wir fahren nach Hause.«

»Ich nicht. Ich kann nicht.«

»Dir ist diese Neandertalerin wichtiger als ich.«

»Ich habe mein ganzes Leben darauf hingearbeitet.«

»Tja, ich auch.« Er stampfte zum Gebäude davon.

Nach langer, langer Zeit in der Schlange kam er zurück. Ich hatte mich zum Warten auf den Beifahrersitz gezwängt. Simon stieg ein und legte den Kopf aufs Lenkrad. Er wirkte vollkommen geschlagen. »Möchtest du, dass ich hierbleibe?«, fragte er.

»Nein.«

»Ich darf die letzte Seminarwoche nicht ausfallen lassen, sonst habe ich nicht die geringste Chance auf neue Seminare.«

»Ich weiß.«

»Und wo soll ich hier arbeiten? Ich kann ja nicht mal die Sprache. Das ist dir doch alles klar.«

»Ja«, sagte ich.

»Wir müssen dieses Baby ernähren«, sagte er leise und traurig. »Das kann ich nur, wenn ich Geld verdiene.«

Seit ich Simon kannte, war ich stärker und mutiger gewesen, hatte in beruflicher Hinsicht mehr riskiert als zuvor. Er hatte auf mich aufgepasst, sodass ich mich sicher genug fühlte, etwas zu wagen. Durch sein flexibles Denken war auch ich flexibler geworden. Aber vermutlich gibt es kein größeres Risiko, als mit jemandem ein Kind zu bekommen. Und in diesem Augenblick hatte ich Angst. Simon passte nicht auf mich auf. Oder wenn, dann wusste er nicht, wovor er mich schützen musste. Das Baby war in mir. Er hatte keine Ahnung, wie sich das anfühlte.

»Wir sind die einzigen Primaten, die die Futtersuche delegieren«, murmelte ich in dem Versuch, mich zu erklären.

»Wie bitte?« Entnervt sah Simon mich an.

»Das hat Caitlin neulich gesagt. All die anderen Primatenweibchen können schon wenige Stunden nach der Geburt selbst auf Futtersuche gehen. Sie können ihre Jungen mittragen und säugen, während sie für sich selbst Nahrung suchen. Menschen können das nicht. Wir müssen uns dafür auf andere verlassen. Dadurch wird eine Frau sehr verwundbar.«

»Klingt irgendwie bedrohlich.«

»Ja. Caitlin will, dass ich gehe …«

»Bist du sicher?«

»… aber ich muss bleiben.«

»Rose«, sagte er mit leiser Stimme. »Das Baby kommt bald.«

»Erst in zwei Wochen.« Ich zwang mich zu lächeln.

Als wir zurück im Ort waren, stieg ich aus dem Wagen. »Es tut mir leid, Rose«, sagte Simon mit brüchiger Stimme, »dass du das Gefühl hast, ich wäre für die Futtersuche nicht geeignet. Ich versuche, es besser zu machen. Ich besorge mir für September eine Stelle, versprochen.« Er fuhr los, um einen Parkplatz zu suchen. Dann wollte er zur Wohnung kommen, um seine Sachen zu holen. Aber für mich fühlte es sich an, als würde er für immer fahren.

Ich stand da und sah dem winzigen Wagen nach. Der Schmerz in meiner Brust strahlte bis in die letzten Fasern meines Körpers aus. Ich versuchte zu ergründen, ob ich mich schuldig fühlte, verärgert oder wütend, aber mir war körperlich so unwohl, dass ich mich für nichts davon entscheiden konnte. Ich fand einfach keine Worte für das Gefühl, das mich erfasst hatte. Selbst wenn Simon behauptete, er wollte mit mir zusammen sein, war es doch keine Garantie. Das Leben und Arbeitsstellen waren genauso unvorhersehbar wie Bindungen. Es war egal, dass er versuchte, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Schließlich war ich diejenige, die das Baby bekam. Er hatte eine Wahl. Ich hatte keine.