3

Als Mädchen fertig war, kraxelte sie den schmalen Pfad zur Feuerstelle hinunter und kam gerade in dem Augenblick an, als Er ihren neuen Speer bewunderte. Sie alle hatten ihre Aufgabe bei dem, was sie herstellten, und das galt auch bei diesem Speer. Krumm hatte den Schaft gefunden und in die richtige Form geschnitzt, Mickerling hatte die Sehne vorbereitet, mit der die Speerspitze vor der Versiegelung am Stock befestigt wurde, Mädchen hatte die Spitze selbst behauen, und Er hatte alle Teile zu einer Waffe zusammengefügt. Keiner von ihnen konnte sich getrennt von den anderen betrachten.

Mädchen streckte die Hand aus und berührte Ers Schulter. Er schaute sich nicht um; das war auch nicht nötig, da ihm Mädchens Geruch so vertraut war. Sie spürte das Pochen seines Herzens. Jeder von ihnen konnte die körperlichen Reaktionen der anderen spüren, und zwar dort, wo ihre Haut besonders dünn war: an den Handgelenken, an der Wange oder an der Kehle. Mädchen bemerkte, dass sich Ers Glied wieder aufrichtete. Dazu musste er nur ganz kurz ihren Geruch aufnehmen. Sie wusste, wie sie aussah: Für die Jagd hatte sie gehärtete Tierhäute ganz eng um ihre Schienbeine und Unterarme gewickelt. Die schwarze Erdfarbe in ihrem Gesicht zeigte die beiden Familienstreifen auf jeder Wange. Ihr dichter roter Haarschopf leuchtete auf ihrem Kopf. Sie hatte eine Muschel an einem dünnen Riemen um ihren Hals gebunden. Ihre Haut spannte sich über ihren Muskeln und glänzte vom Haselnussöl. Sie spürte, welche Wirkung ihre Stärke auf ihn hatte. Am liebsten hätte sie ihre Zähne in sein Fleisch gebohrt. Doch sie hielt den Blick gesenkt und wandte sich in eine andere Richtung. Wenn Große Mutter sie dabei ertappte, wie sie Er ansah, würde es Ärger geben.

In den Jahren zuvor hatten sie die Abende nach der Jagd mit Essen und Verdauen im Schutz einer Höhle verbracht, die in die Felswand in der Nähe ihrer Frühlingshütte hineinragte. Zuerst machten sie Feuer, und die Flammen erhellten das Dunkel. Dann baute sich Große Mutter davor auf, sodass sie mit ihrem Körper Schatten an die Wand werfen und mit diesen Schatten und einer Mischung aus Lauten und Singsang Geschichten erzählen konnte. Sie fand, dies wäre die Anstrengung ihrer Kehle wert.

Die Geschichte, die sie am häufigsten erzählte und die sie alle sehr gerne sahen, war von Große Mutter als Warnung gemeint. Es ging um einen Bruder und eine Schwester, die eine Schwäche füreinander hatten. Es war zu einer Zeit, als sich viele Familien am Treffpunkt begegneten. Als die beiden Geschwister nicht voneinander lassen konnten, wurde ein Mann in der Familie auserwählt, der sie töten sollte. Zwar gelang es ihnen zu fliehen, aber nur, indem sie den Fischen folgten.

Der Bruder und die Schwester ließen sich Richtung Meer treiben, bis in ein Gebiet, das die Familie nie aufsuchte. Dort gab es aber weder Bisons, noch war das Wasser frisch. Sie tranken nur Salzwasser und aßen nur Tiere mit Scheren statt Tatzen oder Hufen. Das Salz vergiftete ihren Geist, und sie wurden verrückt. All dies zeigte sich auch an den Kindern, die sie bekamen. Deren Augen blieben stets geöffnet wie bei den Fischen im Meer. Ihre Lippen waren verkrustet vom Salzwasser, das sie tranken. Statt Händen wuchsen ihnen Scheren, und sie sahen immer mehr aus wie die Tiere, die sie aßen. Große Mutter hockte sich an dieser Stelle stets hin und kniff Daumen und Zeigefinger zusammen, um mit Hilfe der Schatten ihre gespenstischen Formen zu zeigen. Es war eine Geschichte, die sie alle liebten, denn sie rief sowohl Entzücken als auch Entsetzen hervor.

Um ihrer Botschaft Nachdruck zu verleihen, hatte Große Mutter Mädchen eine Muschel in der Größe einer Walnuss geschenkt. Mädchen zog einen Riemen hindurch und hängte sie sich um den Hals. Doch die Geschichte, die bereits seit Generationen weitergegeben wurde, veränderte sich mit der Zeit. Mit Hilfe von Lauten und Schatten ließ sich eine Botschaft nicht so genau vermitteln, wie Große Mutter sich das gewünscht hätte.

Mädchen verstand den Zusammenhang der Geschichte mit dem Zeitpunkt, zu dem sie erzählt wurde. Das war nach der Jagd, wenn ihr Bauch voll war. Außerdem nahm Mädchen die Geschichte vor dem Hintergrund der Veränderungen in sich auf, die zu dieser Zeit an ihrem Körper sichtbar wurden. Die Erzählung von Große Mutter entwickelte sich in Mädchens Geist zu etwas Neuem. Für Mädchen war es eine Geschichte, die ihre Art zu leben bestätigte. Sie erinnerte Mädchen daran, warum sie die Jahre im immer gleichen Rhythmus lebten und warum ihre Fähigkeit, Bisons zu jagen, sie zum stärksten Tier an Land machte. Wenn sie sich dicht bei ihrem Bruder hielten, konnten sie die schwersten Zeiten durchstehen, Deshalb trug sie immer die Muschel, die sie Das Meer nannte, um ihren Hals.

»Mädchen«, rief Große Mutter jetzt, als sie sich umdrehte und entdeckte, dass Mädchen aus der Hütte auftauchte. Große Mutter hatte jedem von ihnen einen Namen gegeben, der nur für sie eine Bedeutung hatte. So konnte man einen vom anderen unterscheiden, ohne sie zu sehr zu trennen. Sie glaubte, besser zu den Einzelnen passende Namen würden nur die Kehle unnötig beanspruchen. Das Muster ihres Lebens war eher durch Rituale statt durch Worte geprägt, und jetzt war es Zeit für die Morgenmahlzeit vor der Jagd. Der Ruf bedeutete, dass Große Mutter von Mädchen gefüttert werden wollte. Dazu waren keine weiteren Worte nötig.

Allerdings zeigte Große Mutter damit auch ihre Vorliebe für Mädchen. Es war selten und etwas ganz Besonderes, dass zwei erwachsene Generationen gleichzeitig lebten. Die meisten von ihnen wussten, dass sie wahrscheinlich nicht lange genug leben würden, um noch eine dritte aufwachsen zu sehen. Mädchen hatte nur selten mit mehr als acht Familienmitgliedern zusammengelebt. Und für Große Mutter war sie die letzte Tochter. Es war eine so kostbare Stellung, dass sie gegenüber Mädchen besondere Beschützerinstinkte hegte. Aus dem alten Leib von Große Mutter würde nie wieder ein fruchtbares Weibchen kommen. Ihr eigener Bauch war mittlerweile wie eine glatte Kuhle mit Sand. Daraus konnte nichts mehr erwachsen. Aber in Mädchen konnte neues Leben seinen Anfang nehmen.

Es wurde langsam Zeit für die Nachfolge. Große Mutters Lebenszweck war, den Fortbestand der Familie zu sichern, und ihre Überlebensstrategie drehte sich um den Fischsprung am Treffpunkt: Dort würde das älteste Männchen, also Er, versuchen, eine neue Frau in die Familie zu locken, die dann die nächste Große Mutter werden würde. Das älteste Weibchen hingegen, also Mädchen, musste versuchen, sich einen Platz als Große Mutter in einer neuen Familie zu ergattern. Wenn beides gelang, war die Familie stark wie die Fische in einem guten Jahr. Dann würden sie weiterhin zum Treffpunkt zurückkehren.

Mädchen steckte sich ein Stück Trockenfleisch in den Mund und begann zu kauen. Das Fleisch musste gerade so lange bearbeitet werden, dass es von ihrer fast zahnlosen Mutter gegessen werden konnte. Wenn sie zu lange kaute, würde es zu trocken werden, es musste noch so saftig sein, dass es durch den Mund die Kehle hinuntergleiten konnte. Also kaute Mädchen so lange darauf herum, bis es sich weich anfühlte, dann nahm sie den breiigen Bissen aus dem Mund. Sie kniete sich neben ihre Mutter und hielt ihr das Stück Fleisch vor die Nase, damit sie es begutachten konnte.

Große Mutter starrte auf den durchgekauten Bissen und holte schnüffelnd Luft. Die drahtigen Haare auf ihrem Kinn leuchteten in der Sonne. Dann nickte sie und öffnete den Mund. Ihr Atem drang in stark riechenden Dunstwolken heraus. Sie zog die Lippen zurück und schnappte sich das Fleisch mit dem Zahnfleisch.

»Hom«, sagte sie.

Sie saugte daran und schluckte es herunter.

Nachdem die alte Frau gegessen hatte, gab Krumm jedem von ihnen eine Handvoll geröstete Nüsse und einen Streifen Trockenfleisch aus dem Vorrat. Hungrig nagte Mädchen an ihrem Streifen Fleisch. Da sie wichtig war für die Jagd, war er etwas größer als sonst, allerdings in ihren Augen längst nicht groß genug. Ihre Portionen kamen ihr immer zu klein vor. Sie hatte unentwegt Hunger.

Auch Mädchen bemerkte ein besonderes Gefühl unter ihrer Haut, so als nagte etwas an ihr. Sie versuchte, sich zu beruhigen, indem sie sich vorstellte, wie es nach der Jagd sein würde – mit einem warmen Stück Fleisch in der Hand, an dem sie, erfüllt vom Geruch des frischen Bluts, saugte; ihre Füße mit dem leichten Haarflaum würden vor Zufriedenheit zucken, während sie kaute und saugte und ihr das Blut vom Kinn tropfte. Der Gedanke an frisches Fleisch erfüllte sie mit Hoffnung. Nicht all ihre Erinnerungen waren notwendigerweise etwas, was sie selbst erlebt hatte; es konnten auch Erfahrungen von einem anderen Familienmitglied sein, die durch Träume weitergegeben wurden oder durch etwas, das sie gemeinsam aßen. Diese Erinnerungen trugen dazu bei, dass der Körper in seinem gegenwärtigen Zustand in Sicherheit blieb, dass man Nahrung fand oder etwas Neues, Ungewöhnliches deuten konnte. Also schloss Mädchen die Augen und ließ die guten Gefühle von frischem Fleisch durch ihren Körper strömen. Sie dachte an die vielen Jagden, die sowohl für sie als auch für ihre Vorfahren erfolgreich verlaufen waren. Die vor ihr liegende Jagd würde ihrem Hunger vielleicht ein Ende setzen.

Sie hörte Große Mutter hinter sich schnüffeln. Dann umfasste diese mit ihrer alten, klauengleichen Hand ihre Schulter und hielt sie fest. Das Schnüffeln kam näher, die alte Frau hatte eindeutig etwas an ihr gerochen. »Hom.«

Mädchen erzitterte wie ein Blatt, das zu schwer für den Zweig geworden war. Große Mutter schnüffelte an ihr, als wollte sie prüfen, ob sie den Sonnenbiss hatte. Mädchen drückte sich die Hand an die Stirn. Sie kam ihr etwas wärmer vor als üblich, aber sonst bemerkte sie keinerlei Anzeichen an sich. Sie fühlte sich nicht krank – eher im Gegenteil. Ihre Muskeln zuckten vor Verlangen. Vielleicht hatte sie noch mehr Hunger als sonst, wenn das denn möglich war. Sie spürte noch nicht, was Große Mutter bereits erschnüffelt hatte.

Mädchen selbst fand es heraus, als sie sich hinter einen Busch hockte: der letzte Schritt der Jagdvorbereitungen. Da entdeckte sie eine Art Schleim auf ihrem Oberschenkel. Sie musste kichern, da es eher aussah wie Eiweiß und nicht wie etwas, das von ihr kommen konnte. Als sie es mit einem Blatt abwischte, stellte es sich als überraschend glitschig heraus. Nicht wie das Blut, das im Jahr zuvor gekommen war. Schmerzen hatte sie nicht, nur einen leichten Krampf im Becken. Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken, als sie erkannte, dass dies die Hitze war. Die bekam sie zum ersten Mal. Durch die Hitze verströmte sie einen Geruch, der anderen signalisierte, dass sie sich paaren wollte.

Mädchen wusste, dass sie dafür bis zum Treffpunkt warten musste. Große Mutter hatte ihr den Winter über mehr Fleisch als sonst gegeben und angedeutet, Mädchen könnte dieses Jahr fett genug sein, sodass die Hitze rechtzeitig zum Fischsprung käme. Dann wäre sie alt genug, um sich eine eigene Familie zu ergattern. Große Mutter wollte, dass ihre Tochter sie stolz machte. Genau wie zuvor Mädchens Schwester, Großes Mädchen.

Doch obwohl Mädchen diesen Winter das zusätzliche Fleisch genossen hatte, war sie unruhig gewesen. Sie wollte nicht die Familie verlassen wie ihre Schwester. Großes Mädchen war immer fröhlich gewesen. Sie hatten miteinander gespielt, geflüstert und sich die Flöhe vom Rücken entfernt. Die meisten fanden, dass sie mit ihren roten Haaren und den breiten Nasen vollkommen gleich ausgesehen hatten. Und doch gab es einen Unterschied zwischen ihnen. Wenn Große Mutter nicht wusste, wer von ihnen wer war, befahl sie ihnen zu lächeln. Denn Großes Mädchen hatte einen besonders heftigen Zusammenstoß mit einem Felsen gehabt und es nicht geschafft, ihren Frontzahn zu behalten. Mit der Lücke grinste sie nur noch breiter. Wenn Großes Mädchen ihre Schwester zum Lachen bringen wollte, hatte sie ihre Zunge durch die Zahnlücke gedrückt und gezischt wie eine Schlange. Mädchen hatte Angst vor Schlangen. Beide liefen geduckt durchs Lager und kreischten vor Lachen, bis eine hinfiel. Dann ließ sich die andere auf die am Boden fallen und kitzelte sie. Manchmal beendete aber auch der Riesenfuß von Große Mutter das Spiel. Die Zahnlücke von Große Schwester war ein steter Quell der Heiterkeit.

Aus Mädchens Sicht war Großes Mädchen eine starke Frau, denn sie hatte beim Fischsprung eine Familie für sich gewonnen. Aber jetzt war sie fort. Vielleicht lebte sie zufrieden mit ganz viel Fleisch, aber das konnte Mädchen nicht in Erfahrung bringen. Mädchen hatte das Gebiet der Familie bisher nur verlassen, wenn sie sich auf den Weg zum Treffpunkt machten. Also wusste sie nicht, wie das Leben woanders war. Wenn sie versuchte, sich das Leben ihrer Schwester vorzustellen, spürte Mädchen nur die Bisse der Flöhe, die sie ihr nicht abpflückte. Genau so stellte sich Mädchen das Weggehen vor: wie einen Floh, an den man nicht heranreichte. Und jetzt war die Hitze gekommen, und Mädchen würde sich ebenfalls verändern. Was vor ihr lag, war so dunkel und schattig wie der hintere Teil einer Höhle.

Mädchen wusste, dass dieses Gefühl der Familie keinen Nutzen brachte. An die Zukunft zu denken lenkte einen nur ab und machte den Körper in der Gegenwart angreifbar. Am liebsten hätte sie es einfach weggeschoben. Aber alle in der Familie würden es merken. Mit der Hitze würden alle Tiere im Umland ihre schneeweiße Haut neu betrachten. Wenn auch vielleicht noch nicht sofort, dann doch bald. Auch ihre Haare würden mehr glänzen, um die Hitze anzuzeigen, die zwischen ihren Beinen hervordrang.

Mädchen hoffte nur, es vorerst verbergen zu können. Rasch suchte sie etwas Moos, um sich damit abzuwischen und den Geruch zu mindern. Sie hielt den Kopf gesenkt und ließ den Blick zu beiden Seiten huschen, weil eine neue Furcht vor Fleischfressern sie überkam. Dann richtete sie sich auf und ging zu den anderen zurück. Wie immer nahm sie ihren Platz am Anfang der Reihe ein. Wie so viele vorher in ihrer Familie tat sie so, als hätte sich nichts verändert. Sie konzentrierte sich auf das, was gleich geblieben war.