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Jeden Tag wanderte die Sonne den Himmel hinauf und ließ sich wieder nach unten gleiten. Mädchen lernte, was sich an diesem Ort wiederholte. Lernte die Gerüche kennen. Das sachte Schwanken der Bäume wurde ihr vertraut. Ihre Beine wurden nicht zu dürren Zweigen, sondern ähnelten immer mehr den Ästen des Baumes, an dem sie schlief. Sie fragte sich, ob sie sich selbst in einen Baum verwandeln würde. Vielleicht fühlten sich Bäume deshalb immer so lebendig an: Sie waren verlassene Töchter, die den Berggrat bewachten.

Nach und nach erkannte sie, dass hier eine Familie gelebt hatte. Nicht ihre, eine andere. Sie fand einen Steinzahn, einen Faustkeil, der entweder verloren oder zurückgelassen worden war. Aber wer war so leichtsinnig, einen Faustkeil liegen zu lassen? Er sah anders aus als diejenigen, die sie kannte. Der Stein war von der Mitte her in einem anderen Muster abgeschlagen worden. Sie stieß auch auf eine alte Feuerstelle, die Brandnarbe eines Feuers, das viele Nächte hintereinander angezündet worden war. Sie entdeckte Stellen an der Rinde ihres Baumes, die von den Händen und Füßen der Familie beim Klettern glatt gewetzt worden waren. Es war ein Aussichtsbaum, von dem aus man das Land überblicken konnte. Sie fragte sich, wie die Familie gewesen war und warum sie diesen Ort verlassen hatten. Darüber hatte Große Mutter keine Geschichten mit ihren Schatten erzählt. Am Baum haftete nur noch kaum wahrnehmbar der Geruch längst vergangener Zeiten.

Sie jagte nicht. Wildkater jagte. Er bot ihr den schlaffen Körper einer Maus an, doch sie lehnte seine Freundlichkeit ab. Daraufhin sah er sie mit zusammengekniffenen Augen merkwürdig an und ließ sich bei ihr nieder, um seine Beute selbst zu verschlingen.

Zwar gab es auch Essbares rund um den See, aber das meiste davon war grün. Sie mochte kein grünes Essen und aß nur gerade so viel davon, dass sich ihr knurrender Magen beruhigte. Sie trank auch Wasser, weil der Durst so beißend war, aber mehr gab sie ihrem Körper nicht.

Hauptsächlich wartete sie auf das Naheliegende: den Tod. Sie fühlte sich lustlos, dumpf und leer. Aber jeden Morgen, wenn sie aufwachte, klebte ihr Kopf immer noch an ihrem Fleisch. »Harz«, zischte sie dann wütend und ohne jede Ermutigung oder Wärme. Sie war eher entsetzt, dass ihr Körper immer noch in einem Stück war.

Ihre Pechsträhne dauerte an. Der Leopard wollte einfach nicht kommen, sie packen und ihrem Leben schnell ein Ende setzen. Die Krähen pickten ihr nicht die Augen heraus. Kein Blitz fuhr in ihren Schädel. Ihr Körper blieb stur auf der falschen Seite der Erde. Nichts wandelte sich. Es war, als hätte das Land in seinem unaufhörlichen Kreislauf innegehalten. Sie wurde nicht älter. Sie veränderte sich nicht – was sie sich wenige Tage zuvor noch gewünscht hatte. Aber jetzt zog sich jeder Augenblick in die Länge und wollte nie enden. Ohne ihre Familie ließ Mädchen die Zeit hinter sich.

Und dann, gerade als sie überzeugt war, alles würde für immer im Stillstand verharren, stürmten die Veränderungen heran. Die angehaltene Zeit begann zu rasen. Als sie an diesem Morgen am See stand, verlagerte sich etwas in der Luft. Ein warmer, fast heißer Luftzug strömte durchs Tal. Mädchen schloss die Augen, zog die Oberlippe hoch und versuchte ihm nachzuspüren. Sie neigte den Kopf Richtung Treffpunkt weiter unten im Tal, weil sie dachte, die Familien versammelten sich vielleicht früher. Doch es kam nicht von dort. Die Luft aus dieser Richtung war immer noch kühl, trocken und still. Das Eis blockierte weiterhin die flachen Stellen des Flusses und fing nur langsam an zu schmelzen. Daher konnten die Fische sich nicht zum Treffpunkt bewegen, und Mädchen glaubte nicht, dass dort schon Familien eingetroffen waren oder ihr Lager aufgeschlagen hatten. Also richtete sie ihre Sinne über das Tal hinweg zur nächsten Gabelung des Flusses. Dorthin war ihre Schwester gegangen, als sie Große Mutter wurde. Aber es war zu weit weg, um dort irgendwelche Veränderungen zu erspüren.

Und doch war da etwas, eine dünne, aber intensive Strömung in der Luft. Sie wurde vom Fluss herangetragen, schmeckte nach Eisen und war dick wie Blut.

Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie zum Land ihrer Familie. Rannte zum Baum. Kletterte, Hand über Hand, hinauf und stemmte sich mit ihren rindenharten Fußsohlen gegen die Äste. Während sie hinaufkletterte und immer wieder eine Stelle für einen Fuß oder eine Hand ertastete, spürte sie die Körper der Familie, die hier gelebt hatte. Die Rinde hielt, wenn auch nur schwach, die Erinnerung an sie fest. Jetzt spürte sie die Stellen, die die Familienmitglieder glatt gewetzt hatten, als sie diesen Baum hinaufgeklettert waren. Sie selbst verschmolz mit ihnen, weil sie auch genau dorthin ihre Hände und Füße setzte. Sie fragte sich, ob es ihr Blut war, das sie roch, die Geschichte von dem, was mit ihnen geschehen war und was sie in der Nacht zuvor geträumt hatte. Vielleicht aber war es auch nur das, was sie erhoffte.

Sie setzte einen Fuß auf einen kräftigen Ast, umfasste mit beiden Armen den Stamm und presste ihren Körper daran. Der warme Baumstamm zog sie an sich, sodass ihr Körper wie weich gewordenes Harz damit verschmolz. Ihre Gliedmaßen drangen tief in die Erde ein, und Baumsaft strömte wie Blut durch ihre Adern. Dies war die Stärke des Waldes. Ihre Angst verwandelte sich in ein Zittern der Nadeln. Leichte Schwingungen. Lauschen. Was geschah?

Die Bäume standen am Berggrat zusammen wie eine ganze Familie. Sie unterhielten sich mit ihren schwankenden Ästen und erzählten einander, was sie sahen. Einer zuckte mit einem Ast. Ein paar welke Blätter, die trotz der Winterstürme noch nicht abgefallen waren, raschelten. Die Zweige übermittelten sich Geheimnisse. Sie knackten, und vor Unbehagen wippten die Nadeln und rieben sich leicht aneinander.

Lebendiges Fleisch verströmt Hitze in die Luft. Sie kommt vom Feuer im Körper. Wenn diese Wärme in die Luft abgegeben wird, bewegt sie sich in Strömungen um die Bäume herum. In ganz besonderer Weise schiebt und zieht sie an den Blättern. Genau wie die Oberfläche eines Flusses anzeigt, was darunter liegt, übertragen die Muster in der Luft, was die Störung verursacht hat. Die Bäume im Tal nehmen die Bewegung auf und verstärken sie. So geben sie die Nachricht weiter. Wenn Mädchen nur gut aufpasste und die Muster in den Blättern erspürte, würde sie sie empfangen können.

Sie legte den Kopf schräg und hielt die Luft an. Nur der Baumsaft strömte weiter. Die Blätter kündeten nichts Gutes. Etwas stimmte nicht. Es war zu weit weg, um es genau zu erkennen, aber da war etwas Unruhiges, eine Erschütterung. Mädchen löste sich vom Stamm. Jetzt strömte wieder das Blut in ihren Körper.

Am Himmel flogen Vögel vorbei. Mädchen riss den Kopf nach oben. Dort flatterten drei schwarze Krähen mit ihren Flügeln. Die Sonne ließ ihre glänzenden Schnäbel aufblitzen. Krallen rollten sich ein, und schimmernde Federn breiteten sich aus. Krächzend und kreischend flogen die Vögel das Tal hinauf. Sie strebten zum Land der Familie.

Mädchen kletterte wieder hinunter, und als sie den Boden erreichte, gab sie Wildkater zu verstehen, dass sie zurückgehen würde. Sie rannte zum Rand des Plateaus und dann den Hang hinunter. Schon bald fand sie den schmalen Pfad am Fluss und lief hinauf bis zur Furt. Sie verstieß gegen das Gebot von Große Mutter, aber ihre Familie war zu ausgedünnt, zu schwach. Sie würde es riskieren, an der Feuerstelle zu erscheinen. Nichts konnte sie aufhalten. Nichts hielt sie auf.