23

Am nächsten Morgen warf Mädchen einen Blick auf Mickerlings in die Höhe ragendes Hinterteil. Der Junge atmete schwer und hatte sich so eng an sie gekuschelt, dass sie kaum aufstehen mochte. Normalerweise wachte sie viel früher auf. Mickerling hatte sie am Vorabend um Fleisch angebettelt, doch sie wollte es noch nicht essen, sondern aufsparen, über dem Feuer trocknen und in einem Baum lagern. Sie bezweifelte, dass sie in nächster Zeit noch mal an solche Fleischmengen kommen würden. Aber sie brauchten die Energie aus dem Fleisch, um kleinere Tiere zu erlegen und so viele Wurzeln, Beeren und Nüsse zu sammeln, wie sie konnten. Um an diesem Tag etwas zu essen zu haben, hatte sie ein paar Eichhörnchen mit Steinen erlegt, so wie Große Mutter es ihr gezeigt hatte, und sie an einem Stock über dem Feuer gebraten.

Mädchen stieß Mickerling an und rollte ihren Körper von dem Fell, auf dem sie schliefen. An diesem Morgen war die Luft kälter und biss ihr in die Nase. Ihre Lippen waren trocken, da ihr Körper große Mengen Wasser brauchte, um sich wohlzufühlen. Außerdem machte sie sich Sorgen um ihre Unterkunft. Sie schob ihren Körper aus der baufälligen Hütte und blickte zum Himmel hinauf. Über den Bäumen breitete sich eine dünne, gerippte Wolkendecke aus. Die Wolken zeigten dasselbe Muster wie der Sand auf dem Grund seichter Stellen am Fluss. Es stand ein Wetterumschwung bevor. Die Winterstürme nahten.

Nun würden sie die Tage damit verbringen, die Hütte zu verkleinern, damit sie sie mit den Fellen abdecken konnten, die sie mitgebracht hatten. Mädchen machte Feuer, rief Mickerling, damit er aufstand, und prüfte die Stützpfeiler der baufälligen Hütte. Im Winter ging es vor allem um Wärme. Wenn sie die Pfähle kürzte, konnten sie sich mit nur zwei Körpern warm halten. Dann konnte sie die dünnen Felle in doppelter Lage anbringen und so viele Dämmstoffe wie möglich dazwischenpressen. Sie griff in die Hütte, um Mickerling anzustoßen, und zog an einem kleinen Stück Leder, das zurückgelassen worden war. Etwas war seltsam daran. Als sie an einem Ende zerrte, dachte sie erst, es würde in zwei Teile zerfallen, doch das geschah nicht, obwohl es in der Mitte auseinandergerissen war. Irgendwas hielt es zusammen.

Mädchen begutachtete es. Es war wie bei den Fußbedeckungen, die ihre Schwester getragen hatte. Zwei Lederstücke wurden mit einer Sehne zusammengehalten, die durch Löcher gefädelt worden war. Mädchen krauste die Nase. Es war etwas leicht Ekelerregendes daran. Sie stellte sich zwei Bisonkörper vor, die so zusammengehalten wurden. Sie würden sich wehren und darum kämpfen, auseinanderzukommen. Es war ein Zustandswechsel: Das Tier hatte eine Form, die es vorher nicht hatte. Ein Leben war an ein anderes gebunden. Ihr drehte sich der Magen um.

Gleichzeitig konnte Mädchen sehen, dass es nützlich war. Damit konnte man ein kleines Fell für eine größere Decke verwenden.

»Mickerling«, brüllte sie, um ihn zu wecken. Sie hatte ihre Lautstärke nie ganz kontrollieren können. Mickerling würde ihre Entdeckung aufregend finden, das wusste sie. Aber der Junge setzte sich nicht auf, sondern hob nur matt den Kopf. Er konnte kaum die Augen öffnen. Irgendwas stimmte nicht mit ihm.

Mädchen hob den Jungen hoch. Sein Körper fühlte sich kleiner an als noch am Vortag. Sie dachte an ihre Schwester und den Sonnenbiss, und Panik überflutete sie. Um seinen Atem zu riechen, neigte sie sich zu ihm. Man sah weder rote Flecken noch Blasen, und man roch auch keine Spur von der Krankheit, noch nicht. Sie betrachtete seinen Rücken, seinen Hals und seine Arme. Was war los? Sie setzte ihn aufrecht hin, hielt ihn mit den Händen an den Schultern fest und blickte ihm direkt in die Augen. Er leckte sich über die Lippen und legte die Hand auf seinen flachen Bauch, um ihr anzuzeigen, dass er Hunger hatte.

Hunger? Das ergab keinen Sinn. Sie hatte auch Hunger, aber ihr Körper war viel größer. Am Abend zuvor hatte er fast mehr gegessen als sie. Sie gab ihm Wasser und überlegte, was sie zu sich genommen hatten. War etwas Gefährliches darunter gewesen, das ihn krank gemacht haben könnte? Sie hatten beide dasselbe gegessen: Käfer, Pfifferlinge, gekochtes Eichhörnchen und ein paar Tage zuvor den säuerlich schmeckenden Dachs. Seine trüben Augen und seine Lustlosigkeit konnten ihrer Meinung nach nur Anzeichen der Fettkrankheit sein. Ihr Körper brauchte Fleisch, aber Fett war genauso wichtig.

Mädchen wickelte Mickerling in ein Fell, damit er nicht fror, und setzte ihn ans Feuer, das sie anfachte, um Trinkwasser abzukochen. Sie holte ein Bisonbein aus dem Versteck und legte es ins Feuer. Als Mickerling das sah, quollen ihm fast die Augen aus dem Kopf. Sie schnitt das gekochte Fleisch ab und legte den Knochen zurück ins Feuer. Als er heiß genug war, legte sie ihn auf einen Felsen und zerschlug ihn mit einem flachen Stein so, dass ein Riss längs durch den Knochen ging. Das wiederholte sie auf der anderen Seite, dann bog sie die zwei Hälften auseinander.

Die besten Fettspeicher eines Tiers waren im Knochen. Selbst wenn ein Tier verhungert war und die Fettspeicher am Kadaver weg waren, hatte es immer noch nahrhaftes Mark in den Knochen. Mädchen hatte das selbst in einer Zeit gesehen, an die sie sich nicht gerne erinnerte, aber dies war eines der Geheimnisse, mit dem Große Mutter sie alle am Leben gehalten hatte.

Mädchen zog Mickerling auf ihren Schoß und hielt ihn fest, während er aß. Er fuhr mit dem Finger den Knochen entlang und steckte sich das glibbrige Fett in den Mund. Dann leckte er jede Knochenhälfte mehrfach ab. An der Gier, mit der er das Mark verschlang, sah sie, dass er wahrscheinlich die Fettkrankheit hatte. Deshalb war er so dumpf und lustlos. Es überraschte sie, dass es ihm so ging, denn sie fühlte sich gesund, dennoch aß sie etwas von dem Knochenmark, und auch sie fühlte sich sofort besser. Aber es schien ihr, dass ihre Körper die Nahrung, die sie zu sich nahmen, unterschiedlich verwerteten.

Mickerling leckte den Knochen so schnell sauber, dass sie ihm noch einen zubereitete. Auch den saugte er aus, und dann gab er ihr mit glänzenden Augen einen dicken, fettigen Schmatz auf die Wange. Er vergrub sich in sein Fell und schlief rasch ein. Ihr blieb nichts anderes übrig, als seine zitternden Lider, seine leichte Atmung und seine Wangen zu betrachten, die so glatt waren wie ein Fischbauch. Er schmiegte sich in ihre Armbeuge. Sie bewegte sich nicht, um keine Körperwärme zu verschwenden. Mit dem Fuß schob sie ein weiteres Holzscheit ins Feuer und lehnte sich wieder zurück, um ihn schlafen zu lassen. Eine kleine Weile fühlte sie sich mit ihm in ihren Armen eins.

Als Mickerling aufwachte, war es wie ein Ausbruch von Energie. Gerade schlief er noch, und mit einem Mal platzte er vor Lebenslust. Jubelnd hüpfte und rannte er ums Feuer. Er lachte und wollte spielen. Eine Zeitlang tat sie ihm den Gefallen, doch dann warf sie einen Blick zum Himmel. Dort rückten die Wolken immer näher und türmten sich auf.

Mädchen schickte Mickerling auf die Suche nach noch grünen Stützpfeilern, die ihnen zur Wiederherstellung der Hütte dienen sollten. Um Sträucher in der richtigen Größe zu finden, musste er sich weit vom Lager entfernen. Daher hatte sie ihm befohlen, in regelmäßigen Abständen zu rufen, damit sie wusste, wo er war. So konnte sie weiterarbeiten, weil sie sich nicht die Zeit nehmen wollte, mit ihm zu gehen.

Schon bald jedoch stürzte Mickerling aus dem Wald. »Adlerauge«, rief er, plapperte aufgeregt und forderte Mädchen auf, ihm in den Wald zu folgen. Sie hatte gerade die Hauptstütze der Hütte gerichtet und wollte ihre Arbeit nicht unterbrechen. Er blieb jedoch beharrlich und zerrte sie tief ins Gebüsch zu einer Lichtung, auf der sich ein großer Felsklotz und ein Baum befanden. Offenbar war es ihm schon länger schlecht gegangen, als ihr bewusst gewesen war, denn mit einem Mal wirkte er zehnmal so stark wie noch am Vortag. Er hatte ihr Handgelenk fest umfasst und wollte sie nicht loslassen.

Mickerling ruckte an ihrem Arm, bis sie den Baum betrachtete. Er war ihr vertraut: eine große Kiefer mit abblätternder Rinde, die wegen der Wetterbedingungen eigentümlich verdreht gewachsen, aber noch jung und biegsam war. Mädchen begrüßte den Baum mit einem Nicken, um höflich zu sein, wusste aber nicht, worauf Mickerling hinauswollte. Da legte er seine Finger auf ein Zeichen, das in der Rinde angebracht worden war: zwei schräge, aufeinander zulaufende Schnitte, deren Spitze nach unten zeigte, als wollten sie in eine Richtung weisen, die weg vom Lager führte. Mickerling wies in dieselbe Richtung. »Adlerauge.«

Mädchen wusste nicht, was er dieses Mal mit dem Wort meinte. Sie folgte seinem Blick und sah einen sanft geschwungenen Abhang. Wenn man eine ganze Weile in diese Richtung ginge, würde man in der Ebene landen. Sie rümpfte die Nase, weil ihr Geschichten einfielen, die Große Mutter über die Ebene erzählt hatte. Die Ebene war trocken und staubig. Dort würde ein Körper unentwegt Durst haben. Es gab keine Furt, keine Bisons, keine Hufe, keinen süßen Gestank nach Kot. Die Familie ging nicht dorthin, weil es dort keine schützenden Bäume gab. Wie sollte ein Körper überleben, wenn man nicht wenigstens ein paar Bäume hatte, auf denen man sich verstecken konnte? Auf der Ebene war der Himmel unendlich groß und hing manchmal so tief, als wollte er einen verschlucken. Die Sonne konnte einem ungehindert auf den Kopf prallen oder die Haut verbrennen und sie zum Platzen bringen. Es hieß, daher käme der Sonnenbiss: von der brennenden Sonne auf der Ebene. Ohne Bäume oder natürliche Hindernisse war es fast unmöglich, Beutetiere zu jagen und in die Enge zu treiben.

Schon allein vom Anblick der Ebene wurde Mädchen durstig.

»Adlerauge.«

»Ne«, knurrte sie.

»Adlerauge!« Mickerling drückte den Zeigefinger auf die Schnitte.

»Ne.«

Mädchen wusste nicht, wieso da Schnitte in der Rinde waren, aber von Tierkrallen stammten sie nicht. Sie sahen aus, als hätte jemand geprüft, ob ein Steinzahn scharf genug war. Doch es war seltsam, in lebende Rinde zu schneiden. Es tat dem Baum weh, einfach in seine Haut zu ritzen. Er hatte geblutet, und Baumsaft war aus der Wunde getreten. In Mädchens Augen war das sinnlose Gewalt. Wieso hatte man das Werkzeug nicht an einem toten Ast geprüft? Die Familie verletzte zwar auch Lebewesen, aber nur, um Nahrung und Energie zu bekommen. Dies schien hier nicht der Fall gewesen zu sein.

Mit ihren Fingern verteilte Mädchen den Baumsaft in der Wunde, um die Blutung zu stoppen. Sofort schlug ihr Mickerling auf die Hand, weil er sie daran hindern wollte. Sie wandte den Blick zu ihm und knurrte durchdringend. Mit seiner neuen Energie war er schwieriger und wehrhafter geworden, als hätte ihn unter seinem Umhang ein Käfer gebissen.

»Adlerauge!«

»Ne.«

Der Wortwechsel führte zu nichts. Außerdem fand Mädchen ihn unnötig. Was sie glaubte, war ihr durch die vorherigen Generationen ihrer Familie weitergegeben worden, und zwar mit Hilfe von Erfahrungen, geteilter Wachsamkeit und Schattengeschichten an der Höhlenwand. Was sie glaubte, fühlte sich so natürlich an wie das Blut, das durch ihre Adern floss. Ihre Art zu leben war durch Stille geprägt. Es gab nur wenige Verbindungspunkte zwischen den Familien. Veränderungen konnten sich kaum verbreiten. Es gab keine anderen Lebensweisen. Man brauchte keine anderen Worte. Die Familie wusste, wie die Dinge gemacht wurden.

Aber Mickerling ließ sich von diesen althergebrachten Gesetzen nicht beirren. Er plapperte, fuchtelte mit den Armen und füllte bis zur Erschöpfung die Luft mit Wörtern. Am liebsten hätte Mädchen ihm wieder das Knochenmark aus dem Bauch geholt, obwohl sie das nicht ernsthaft in Betracht zog. Allerdings war ein matter, lustloser Mickerling einfacher zu handhaben. Sie holte tief Luft und versuchte, geduldig zu sein. Wenn sie doch nur Geschwister gehabt hätte, an die sie das schwierige Kind hätte verweisen können.

Schließlich hielt sie sich die Ohren zu, und zwar nicht so sehr, um Mickerling auszusperren, sondern weil ihr der Kopf von seinem Geschnatter wehtat. Allein vom Gedanken an das Kratzen all dieser unnötigen Wörter in der Kehle bekam sie schon Halsschmerzen. Sie wandte sich von Mickerling ab und ging zurück zu der baufälligen Hütte. Währenddessen wurden die Wolken über ihr immer dunkler. Mädchen spürte, wie die Luft schwer auf ihren Rücken drückte. Nicht mehr lang, höchstens noch zwei Sonnenaufgänge, dann würden die ersten Winterstürme dieses Jahres kommen. Da gab es nichts Wichtigeres als eine Unterkunft, in der sie überleben konnten.

»Adlerauge!«

Der Junge folgte ihr und brüllte ihr unaufhörlich etwas nach, nicht nur das Wort, sondern auch einen Strom von Lauten und Geräuschen. Das war zu viel für Mädchens Ohren. Der Lärm schabte auch an ihrem Bauch und dem schweren Baby darin. Mit finsterer Miene marschierte sie weiter und bellte nur: »Krähenkehle!«

Mädchen lief zur Hütte und sah sich nicht um. Mickerling würde ihr folgen, das taten Kinder immer. Wildkater folgte ihr auch stets. Beide wussten, woher ihr Fleisch kam. Das war die Art von Gehorsam und Treue, die sie kannte. An der Hütte ruhte sie sich einen Augenblick aus und betrachtete die dräuenden Wolken über ihr. Auf dieser Seite des Gebirges war es trockener als auf der anderen, da die Wolken nur kurz über die Gipfel streiften und dann zur Ebene hinuntertrieben. Das bedeutete, sie konnte nicht sehen, wie schnell der Sturm auf sie zukam, aber sie konnte es spüren.

Wildkater kam aus der Hütte und setzte sich unter den neuen Stützpfeiler, den sie gerade errichtet hatte. Da sie nur zu zweit waren und immer noch Nahrung sammeln mussten, würde es mehrere Tage brauchen, um die Unterkunft fertigzustellen. Die Katze rieb sich an Mädchens Rücken. Mädchen nahm ein kleines Stück getrocknetes Eichhörnchenfleisch und gab es Wildkater. Dann nahm sie ein zweites und streckte die Hand aus. Wartend verharrte sie in der Luft. Sie rechnete damit, dass Mickerlings rundes Gesicht im Hütteneingang auftauchte.

»Adlerauge«, sagte sie. Dass sie sich die Mühe machte, das Wort auszusprechen, war versöhnlich gemeint, als Friedensangebot. Doch sie bekam keine Antwort.

Mädchen kroch aus der Hütte und schaute sich um. Das Lager war leer. Sie stand auf. Schnüffelte. Rief sogar. Der Junge war fort.