Mädchen schob sich den Speer unter den Arm. Sie wartete darauf, dass ein Bison auf dem Land ihrer Schwester eine Furt überquerte, und zwar an einer Stelle, wo der Fluss breit und flach wurde. Man sah noch deutlich die Hufabdrücke von der Überquerung im Frühjahr. Aber dort befanden sich kein Tunnel und keine Felswand, durch die die Tiere nur einzeln hindurchkamen, sodass sie die Form des Landes nicht zu ihrem Vorteil nutzen konnte.
An einer solchen Furt mussten die Jäger die Tiere zusammentreiben. Das war gefährlich, außerdem brauchte man dazu viel mehr als zwei Körper. Mädchen wusste genau, dass dies einer der Jagdgründe ihrer Schwester war. Hier musste ihre Schwester im Herbst zuvor mit ihrer neuen Familie Bisons gejagt haben. Es tröstete Mädchen, dort ebenfalls zu jagen, es half ihr, weiterzumachen. Schließlich musste sie irgendwie Fleisch besorgen, um sie alle durch den Winter zu bringen. Allein um nur einen Erwachsenen so lange zu ernähren, brauchte man ein großes Bison.
Mädchen hielt Wache. Jagen hieß warten. Sie hatte alle Spuren rund ums Lager sorgfältig abgeschnüffelt und verfolgt, aber sie erzählten nur die verwirrende Geschichte eines Durcheinanders, da es zahllose Abdrücke gab, die sich nur in Kreisen und nicht in eine bestimmte Richtung bewegten. Es war schwer zu ergründen, wann oder ob die Körper, die solche Spuren hinterlassen hatten, zurückkommen würden. Dennoch blieben sie und Mickerling im Lager ihrer Schwester. Die Spuren von lebendigen Körpern – Fußabdrücke, rußgeschwärzte Felsen, benutzte Werkzeuge – ermutigten sie. Hier war noch vor Kurzem die Familie gewesen, während im Land von Große Mutter keiner von der Familie mehr lebte. Wenn sie Mickerling wieder dorthin brachte, würde die Reise viel Kraft erfordern und ihnen nicht unbedingt bessere Jagdgelegenheiten bieten. Dorthin würde niemand zurückkehren, hierher vielleicht schon. Ihre Instinkte richteten sich auf diese Möglichkeit aus, so wie sich ein kaltes Gesicht zur Sonne wendet.
Mädchen hatte Mickerlings Ausbildung für diese Zeit des Jahres fortgeführt und ihm gezeigt, wie man kleine Stücke Fleisch finden und andere Nahrungsmittel sammeln konnte, die kein Fleisch waren. Sie nahm ihn mit auf eine Wanderung am Fluss und trat dabei gegen dicke Äste, die vom Baum gefallen waren. Nach ein paar Versuchen hörte sie ein befriedigendes Huschen und Krabbeln. Sofort ging sie auf die Knie und drehte den Ast um. Sie stieß einen Stock darunter und zog ihn nach einer Weile wieder heraus. Am Stock krabbelten schwarz glänzende Käfer entlang. Als sie ihn Mickerling zeigte, grinste er breit. Die Käfer hatten kleine Panzer wie die Schildkröten auf ihrem Rücken. Hektisch krabbelten sie über- und untereinander und strichen mit ihren Fühlern über den Stock. Mädchen nahm ihn zwischen ihre Lippen, zog ihn durch ihren Mund und angelte mit ihrer Zunge nach den Käfern. Mit einem befriedigenden Knacken zerbiss sie sie und kaute darauf herum. Zwar waren sie köstlich, aber bei jedem Bissen schmeckte sie auch den säuerlichen Geschmack der Scham. Sie zerquetschte die Körper der Aasfresser und wurde damit selbst zu einem.
Am Morgen zuvor hatten Mädchen und Mickerling gegessen und auf einem Baum ein Nickerchen gemacht. Als die Sonne langsam am Horizont auftauchte, weckte sie Mickerling, und sie fingen wieder an, nach Nahrung zu suchen. Mädchen konnte das gut. Obwohl sie sich in einem fremden Land befanden, war ihr das, was Große Mutter ihr beigebracht hatte, sehr nützlich. Aber um auf diese Art ihre Körper zu nähren, noch dazu, wo sie schwanger war, musste Mädchen jeden wachen Augenblick des Tages mit Nahrungssuche zubringen. Hätte sie ein großes Stück Fleisch gehabt, wäre ihr genug Kraft geblieben, um eine sichere Unterkunft für den Winter zu bauen und Lampen und weitere Werkzeuge herzustellen. Aber so brach sie am Ende eines jeden Tages erschöpft zusammen. Nahrung, die gesammelt wurde, kostete sie fast so viel Energie, wie sie lieferte.
Nachts gab es keine Träume von der Familie mehr, die die langen stillen Abschnitte der Dunkelheit zwischen ihren Schlafzeiten füllten. Ohne den Trost der Familie wandten sich all ihre Gedanken zum Fleisch. Sie wollte ihre Zähne in das pochende Herz eines Bisons bohren. Sie wollte ihren Mund an eine Ader halten und aus dem Blut ihre Stärke wiedererlangen. Aber Fleisch war etwas für die Starken, genau wie Freude. Hier war sie nicht das mächtigste Raubtier.
Außerdem arbeitete die Jahreszeit gegen sie. Die Bäume färbten sich bereits und ließen ihre Blätter wie ausatmend zu Boden fallen. Die Luft biss schärfer in ihre Haut. Die Erde unter ihren Füßen verhärtete sich in Vorbereitung auf die Winterstürme. Und das erinnerte Mädchen nur noch mehr an Bisonfleisch.
An diesem Tag versteckte sich Mädchen hinter einem Felsen an der Furt vom Land ihrer Schwester. Während Mickerling sicher auf einem Baum Ausschau hielt, wartete sie. Da zeigte sich ihr Glück. Knack. Ein Geräusch. Wo? Mädchen zog die Oberlippe hoch, um die Hitze in der Luft zu spüren. Mit gespitzten Ohren wandte sie den Kopf nach rechts. Da sah sie in der Ferne, wie ein Bison seine Nase aus dem Gebüsch steckte. Dann brach es daraus hervor und galoppierte durch die flache Furt, wo das Wasser an der tiefsten Stelle nur bis zu den Knien reichte. Der dicke Schlamm sog zwar an seinen Hufen, aber die Überquerung war leicht. In diesem Bereich gab es viele Stellen, wo man über den Fluss kam. Danach konnte das Tier in die weite Ebene traben, wo Mädchen keinerlei Möglichkeit hatte, es zu erlegen.
Mädchen spürte ein Grollen in der Ferne. Hufe donnerten über die Erde, und Staub wallte auf. Eine Wolke mit dem vertrauten Geruch nach Bisonkot wehte zu ihr. Eine ganze Bisonherde rannte auf die Furt zu. Es war zwar nur eine kleine Gruppe – sie konnte die Tiere an einer Hand abzählen –, aber es war eine Herde.
Da kam ihr Lieblingsfleisch auf sie zu, aber sehr, sehr schnell. Wenn Tiere dieser Größe die Energie aufwenden, die man zum Rennen braucht, dann nur, weil es unbedingt notwendig ist. Und wenn so viele Tiere in dieser Geschwindigkeit rannten, konnte das nur eines bedeuten: Sie wurden gejagt – von einem Raubtier. Schon fingen die Tiere an, die Furt zu überqueren, und kurz darauf roch sie sie: Wölfe.
»Aruu«, warnte sie Mickerling.
Normalerweise streiften Wölfe nur durch Land, in dem es keine Familien gab. Mädchens Land war für sie zu steil und felsig gewesen. Zwar hatte sie nicht viele Erfahrungen mit ihnen gemacht, wohl aber die Abneigung gegen sie geerbt. Die Familie fand, dass Wölfe zu laut waren und zu viel bellten: Krähenkehlen. Sie forderten die Familie nur selten heraus, aber sie hatten es auf kleinere Tiere abgesehen, die die Familie manchmal jagte. Die Familie hatte wenig Respekt vor den Wölfen und vermutete, dass sie ausschließlich in Gruppen jagten, weil ihre Kiefer schwach waren. Wenn sie es schafften, größere Beute zu erlegen, dann nur, weil sie alle zusammen das Tier anfielen und es zerrissen. Wölfe waren nicht stark genug, um sich ein eigenes Territorium zu sichern. Statt ein Gebiet zu erobern und die Kontrolle darüber zu behalten, mussten sie vor Hunger ständig unterwegs sein. Von ihrer Stelle aus konnte Mädchen an ihrem Atem riechen, dass sie in ständiger Angst lebten.
Mädchen rümpfte die Nase, als sie sah, wie ihr Anführer auf die Furt zuraste. Er war grau, mit fleckig gesprenkeltem Fell und misstrauisch geschlitzten Augen. Sie schnalzte mit der Zunge, aber Wildkater war schon längst weg und hatte sich in einer Astgabel versteckt.
»Aruu«, knurrte sie.
Sie hatte keine Angst vor Wölfen, wusste aber, dass es mit ihrem dicken Bauch klüger war, sich nicht zu zeigen. Also ging sie zum Aussichtsbaum, und Mickerling kletterte höher, um ihr Platz zu machen. Rasch schloss sie zu ihm auf und musste warten, bis er sich zum nächsten Ast hochgezogen hatte. Seine Bewegungen waren langsam, und sie fragte sich kurz, ob er gesund war. Doch diese Sorge wurde rasch von einer anderen verdrängt. Während sie immer weiter hinaufkletterte, verspürte sie Scham. Die Wölfe waren zwar schwächere Tiere, aber möglicherweise warfen sie einen Blick zu ihnen und freuten sich, dass sie die Familie auf einen Baum gejagt hatten.
Doch die wahre Demütigung sollte noch kommen. Die Wölfe beachteten Mickerling und Mädchen gar nicht. Offenbar stellten nur zwei von ihnen keinerlei Bedrohung dar. Die Wölfe hatten ausschließlich Augen für die Bisons. Sie umkreisten sie ständig und bissen sie in die Hinterhufe, um sie zusammenzutreiben. An der Furt jagten sie sie als Gruppe durch das Wasser. Die Wölfe waren genug, um sie zusammenzuhalten und ohne Mühe die schwächeren Tiere auszusondern. Ein, zwei langsamere Bisons fielen zurück. Schnell trennten die Wölfe ein älteres Bisonweibchen von der Herde. Es war schon grau ums Maul und bewegte sich, als hätte es steife Schultern. Mickerling tippte Mädchen am Arm und zeigte auf die alte Bisonkuh. Wissend berührte er seine Nase.
Zwölf schnappende Wolfschnauzen arbeiteten gemeinsam. Sie bissen dem Bisonweibchen immer wieder in die Hinterbeine, um sie von den anderen zu trennen. Mädchen konnte sich vorstellen, dass ihre Familie ähnlich vorgegangen wäre. Sie wusste, dass sie manches mit den Wölfen gemein hatte. Also schuldete sie ihnen, wenn auch nur widerwillig, Respekt, obwohl sie nur mit zwölf Körpern etwas schafften, was die Familie einer viel kleineren Gruppe vollbringen konnte.
Auch beim Erlegen gab es Unterschiede. Die Wölfe hatten keine langen Speere, um schneller und friedlicher den Tod zu bringen. Stattdessen rissen sie mit ihren Zähnen faustgroße Fleischstücke aus dem Tier und bellten und jaulten dabei so wild, dass Mädchen sich die Ohren zuhalten musste. Obwohl sie nicht die ganze Zeit dorthin starrte, sah sie, dass der Tod nur quälend langsam eintrat und das Bisonweibchen dabei vor Angst und Schmerzen brüllte. Für Mädchen war der Anblick kaum zu ertragen.
Als es vorbei war, machten sich die Wölfe weiterhin bellend und kläffend am Bison zu schaffen. Im Kampf um den Kadaver bissen sie sich sogar gegenseitig – eine schmutzige, aber gründliche Angelegenheit. Es dauerte nicht lange, da waren die Wölfe satt und zogen sich zum Ausruhen ins Gebüsch zurück. Sie blieben in der Nähe des Kadavers, um sich, wenn möglich, noch mal daran gütlich zu tun, aber eigentlich war ein Bison dieser Größe zu viel für ein solches Rudel. Wölfe horteten ihr Essen nicht. Stattdessen warteten sie hechelnd und verdauend, während die schwächeren Tiere sich ihren Anteil holten. Mädchen kannte das Gefühl gut. Sie hatte so etwas auch schon gemacht.
Die Krähen kreisten erwartungsvoll krächzend über dem Kadaver. Ein Geier kam angeflogen und landete in der Nähe. Aus einem etwas entfernteren Busch wagte sich ein kleiner Kojote hervor. Ein Tier nach dem anderen riskierte einen Blick auf den Kadaver, um zu sehen, ob es an der Reihe war.
Nach einer Weile kletterte Mädchen mit schamesrotem Gesicht vom Baum. Sie wies Mickerling an, ihr zu folgen und auf ihren Rücken zu steigen, da sie nicht wollte, dass er die Wölfe mit seinen dünnen Beinchen in Versuchung führte. Langsam gingen sie zum Kadaver. Sie wurde beobachtet, sie spürte förmlich die glühenden Blicke der Wölfe auf ihrer Haut. Sie hielt ihre Oberlippe hochgezogen, um es zu spüren, falls sich ihr Herzschlag verändern sollte, doch er blieb gleichmäßig, sodass sie wusste, sie würden sie nicht angreifen.
Vorsichtig stellte sie Mickerling neben sich auf den Boden, um zu zeigen, dass er zu ihr und nicht zum Kadaver gehörte. Sie nahm ihren Steinzahn vom Gürtel und schnitt ein Stück Fleisch ab, das von den Rippen herunterhing. Es war weder das fette Fleisch vom Herzen noch das große Stück an den Hinterbeinen. Diese Teile waren längst gefressen. Sie suchte nach den Stücken mit dem meisten Fett. Wer niedriger in der Rangordnung stand, musste sich mit schlechterem, knorpeligem Fleisch begnügen. Sie schnitt Fleisch, brach Knochen und nahm sich so viel, wie sie sich traute. Mit Hilfe ihres Steinzahns säbelte sie einen Knochen durch und saugte das Mark heraus, wie eine Hyäne. Dabei hielt sie den Kopf und den Blick gesenkt, um ihren Respekt zu zeigen. Und die Wölfe ließen es zu.
Nachdem sie gegangen war, würden andere Einzeljäger wie die gestreifte Hyäne oder der Schakal kommen. Danach würden es vielleicht die Waschbären und sogar die Dachse versuchen.
Mit Fleisch und zwei Beinknochen bepackt schwang Mädchen Mickerling wieder auf ihren Rücken und zog ihn eng an sich. Langsam kehrte sie zum Lager zurück. Wegen ihres kleinen Sieges empfand sie keinerlei Triumph. Sie musste sich erst an ihren neuen Platz in der Rangordnung gewöhnen. Anstatt nach vorn zu blicken, um Beute zu entdecken, musste sie sich immer wieder umgucken, um ihren Abgang zu sichern. Alles hatte sich verändert.