Kofi ließ sich auf den Stuhl neben Stefan Ollner fallen. Wortlos hielt er ihm, wie jeden Morgen, die Tüte mit den Campingwecken hin. Ollner lehnte ab, wie immer. „Ich hab’ schon gefrühstückt.“ Kofi erinnerte sich noch gut, wie Ollner das erste Mal, an ihrem ersten gemeinsamen Arbeitstag, eines der Brötchen angenommen und hineingebissen hatte. Heute wusste Kofi, dass Ollner keine Rosinen mochte. Damals hatte er sich nur gewundert, dass der Neue aus Hamburg so lange brauchte, um ein Brötchen aufzuessen. Seither kaufte er immer welche mit und ohne Rosinen, doch Stefan Ollner nahm trotzdem nur selten eines.
Kofi war froh, wenn er so rechtzeitig aus dem Bett fand, dass er noch duschen konnte, bevor er los musste. An Frühstück war gar nicht zu denken. Seit er sich einen Kaffeeautomaten gekauft hatte, der Kaffee, Tee und Kakao zubereiten konnte, trank er immerhin etwas Warmes, ehe er seine Wohnung verließ. Er hatte noch den Bergamotte-Geschmack seines Earl Grey Tees im Mund, als er in seinen ersten Wecken des Tages biss.
Die Kollegen saßen schweigend um den Tisch im Besprechungszimmer herum. Alle warteten geduldig auf den Dienststellenleiter Lothar Mausig. Der ließ auf sich warten, was ihm gar nicht ähnlich sah. Das führte Kofi zu der Vermutung, dass es dafür einen äußerst guten Grund gab, was wiederum nichts Gutes erwarten ließ.
Herbert Heinrich und Guntram Schnitter sahen etwas zerknittert aus. Wahrscheinlich hatten sie gestern noch später Feierabend gemacht als er und anschließend keine ruhige Nacht verbracht.
Kofi selbst hatte ebenfalls schlecht geschlafen. Er war immer wieder aufgeschreckt, weil er ein Kind weinen hörte. Natürlich gab es in seiner Wohnung keine Kinder, und die alte Frau Meichsner nebenan hatte nur einen Enkel, und der pubertierte gerade.
Spusi-Marc stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf und legte einen Haufen Papiere, Fotos und ein paar feuchte Kleidungsstücke auf den Tisch. „Morgen. Mausig kommt gleich“, sagte er leise und setzte sich neben Ollner. Er vermied jeden Blickkontakt mit den anderen, sagte aber: „Was für ein Mist. Kinder sollten nicht verloren gehen.“
Kofi überlegte gerade, ob er sich über Marcs Euphemismus mokieren sollte, um die Spannung zu reduzieren, als Mausig eintrat.
„Guten Morgen, meine Herren. Kelvin Jänicke, 7 Jahre alt, 122 cm groß, 34 kg schwer, ist seit gestern Abend, 18.30 Uhr verschwunden. Das sind jetzt vierzehn Stunden. Abgesehen von seinem Rucksack haben wir keinerlei Spuren gefunden. Auch die Hunde nicht.“ Er zeigte auf den Tisch. „Seine zivilen Kleidungsstücke, inklusive Schuhe, befanden sich in dem Rucksack, sodass wir davon ausgehen können, dass er im Judoanzug und mit Badelatschen unterwegs ist.“ Mausig räusperte sich. „Anscheinend waren die Kinder nach dieser Safari gestern so euphorisch, dass sie alle beschlossen haben, in den Judoanzügen zurückzufahren. Was wissen wir sonst noch, Marc?“
Marc zuckte zusammen. „Tja, also, die Suchaktion in der Nacht hat nichts ergeben. Wir haben einen ertrunkenen Dachs im Teich gefunden.“
„Und jede Menge Müll“, ergänzte Herbert.
„Fingerabdrücke vom Rucksack haben wir nicht genommen, da die Mutter ihn mitgenommen und ausgepackt hatte, bevor sie ihn an uns übergeben hat. Die Hunde haben, abgesehen von der Bushaltestelle, überhaupt keine Spur des Jungen aufgenommen. Daraus lässt sich schließen, dass er den Rucksack nicht selbst die Straße heruntergetragen hat.“
„Und dass er direkt an der Haltestelle in einen Wagen gestiegen sein muss“, warf Ollner ein.
„Oder auf ein Fahrrad“, sagte Kofi.
Mausig nickte. „Soweit wir es bisher überprüfen konnten, …“ Er räusperte sich schon wieder. „Da verlassen wir uns auch auf die Aussagen der Mutter, die mit allen telefoniert hat. Wir können davon ausgehen, dass niemand, der zu der Judo-Gruppe gehört, Kelvin mitgenommen hat.“
„Hat jemand die Frau Jänicke an der Haltestelle gesehen?“, fragte Kofi.
Mausig sah ihn fragend an.
„Ich meine, stimmt es, dass sie zu spät gekommen ist? Gab es dafür einen nachvollziehbaren Grund?“
„Unterstellst du, dass sie ihren eigenen Sohn entführt hat?“ Herbert schüttelte entrüstet den Kopf.
„Soll schon vorgekommen sein“, verteidigte Kofi sich. „Sie hat das Sorgerecht?“
„Hat sie.“ Herbert winkte ab. „Die war gestern völlig durch den Wind. Die konnte vor Sorge nicht stillsitzen, ist ständig auf und ab gelaufen.“
„Sie hat der Reihe nach alle Fingernägel abgepult“, sagte Guntram ruhig. „Du hast sie nicht gesehen und nicht gesprochen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns etwas vorgespielt hat.“
Mausig mischte sich ein. „Mag sein. Wir sollten das trotzdem überprüfen. Haben Sie den Vater erreicht?“
Guntram Schnitter nickte. „Telefonisch. Gleich gestern Abend. Rainer Jänicke hat am Samstag das letzte Mal mit Kelvin gesprochen. Sie haben sich überlegt, was sie unternehmen wollen, wenn der Junge das nächste Wochenende bei seinem Vater in Hildesheim verbringt.“
„Hat der Vater einen Verdacht geäußert?“
„Nein. Kein Wort. Er hat heute Frühschicht und kommt anschließend hier her. Er ruft vorher noch mal an.“
„Gut, Ollner, Kayi, Sie übernehmen den Fall. Sie bekommen jede Unterstützung, die Sie benötigen. Meine Herren, wir müssen den Jungen finden. Wo fangen Sie an? Ich brauche was für die Presse.“
„Ist das Jugendamt in der Familie?“, fragte Kofi.
„Prüfen Sie das, so etwas kann ich aber nicht für die Zeitungsleute nehmen.“
„Wir gehen in die Schule, und anschließend befragen wir den Judobetreuer, diesen Detlef Hanske“, sagte Ollner, nachdem er in seinem Notizbuch geblättert hatte.
„Bringt das nicht zu viel Unruhe, wenn Sie in die Schule gehen?“
Stefan Ollner grunzte zustimmend. „Jedes Kind in Holzminden kennt den Kriminalkommissar Kofi Kayi. Wenn er auftaucht, wissen alle, dass was im Busche ist. Aber ich kann problemlos mit der Klassenlehrerin sprechen und die Schulleiterin um Informationen bitten. Die Kinder werden mich für einen Vater halten, sofern ich ihnen überhaupt auffalle.“
„Okay“, antwortete Kofi und stand auf. „Dann fahre ich zu diesem Hanske und versuche bei einigen Judo-Eltern herauszufinden, ob Angela Jänicke tatsächlich zu spät gekommen ist.“
„Dann sage ich der Presse, dass wir von einem Missverständnis ausgehen oder dass der Junge sich verlaufen hat?“ Mausig rieb sich die Augen. „Eigentlich können wir beides ausschließen, oder?“
Keiner der Männer antwortete, alle schauten interessiert die Tischplatte an.
„Eine schöne Unterstützung seid ihr, meine Herren“, murmelte Mausig. Erst als die Tür hinter ihm zugefallen war, sagte Kofi: „Meint ihr, Kelvin wurde entführt?“
„Familie Jänicke ist zwar nicht Hartz IV, aber so dicke, dass sie Lösegeld zahlen könnten, haben sie es sicher nicht.“
„Soweit wir wissen“, warf Kofi ein.
„Was soll das heißen? Du willst es unbedingt der Mutter anhängen, oder? Meinst du, die versteckt ihren Sohn, um vom Vater Lösegeld zu bekommen?“ Herberts Körperhaltung zeigte deutlich, was er von Kofis Überlegungen hielt.
Kofi zuckte mit den Schultern. „Das ist sicher lukrativer als Unterhalt.“
„Frau Jänicke arbeitet bei Douglas, volle Stelle. Kelvin geht nachmittags in den Hort.“
„Das glaube ich euch alles, aber habt ihr euch mal überlegt, was die Alternative ist?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er das Zimmer und ging zum Parkplatz. Er nahm den kleinsten Dienstwagen und fuhr mit quietschenden Reifen vom Hof.
Wie hatte Spusi-Marc es ausgedrückt? Kinder sollten nicht verloren gehen? Er hatte sowas von recht.