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Kofi beschloss, zuerst bei Detlef Hanske, dem Trainer und Betreuer der Judomannschaft, vorbeizufahren. Er hoffte, dass Hanske nicht zur Arbeit gefahren war.

Während er einen Parkplatz in der Nähe von Hanskes Grundstück suchte, überlegte er, woher er den Namen kannte. Als er sechs oder sieben Jahre alt war und mit dem Judotraining anfing, hatte ein Pärchen die Jüngsten trainiert.

Beide 3. Dan, sie fast einen ganzen Kopf größer als er, breitschultriger, stämmiger. Er konnte sich sogar an ihren Körpergeruch nach einem anstrengenden Kampf erinnern, aber ihr Name fiel ihm nicht ein. Er hieß Roland, und Kofi erinnerte sich noch, dass er vor jedem Wettkampf drei Tage hungerte, gelegentlich sogar Abführmittel nahm, um eine Gewichtsklasse niedriger antreten zu können, obwohl er sowieso höchstens ein halbes Hemd war.

Jetzt wusste er es wieder, Roland und Marion. Außerdem gab es noch einen wesentlich älteren Mann mit schlohweißem Haar, Kurt oder so, aber der Name Detlef Hanske sagte ihm nichts.

Die Fenster zu Hanskes Wohnung standen auf Kipp. Er hörte Musik. War das Nena? Ach, und jetzt will Markus Spaß. Neue Deutsche Welle. Lange nicht gehört. Kofi klingelte lange.

Sobald Hanske die Tür öffnete, dröhnte die Musik noch lauter.

„Was wollen Sie?“

Kofi erahnte mehr als dass er hörte, was Hanske ihn fragte.

„Ich bin von der Polizei, Kriminalkommissar Kofi Kayi, ich möchte mit Ihnen noch einmal über Kelvin sprechen.“

Hanske war barfuß. Er machte einen Schritt vorwärts und zog die Tür hinter sich zu. „Haben Sie ihn gefunden?“

„Nein, noch nicht. Wir suchen immer noch.“

„Wie kann ich helfen?“

Kofi sah sich erstaunt um. „Wollen wir das nicht lieber drinnen besprechen?“

Hanske ging noch etwas weiter von der Haustür weg. Er war sehr schlank und überragte Kofi um gute zwanzig Zentimeter. Er hielt sich gerade, beinahe steif, und seine Haare wirkten seltsam farblos. „Nö, hier draußen ist es auch schön, heute ist so tolles Wetter.“

Kofi runzelte die Stirn. „Wie Sie meinen. Seit wann sind Sie Judotrainer?“

„Ich habe als Sechzehnjähriger angefangen, meine Jugendtrainerlizenz zu machen. Abgesehen von knapp zwei Jahren Bundeswehr bin ich seither aktiv.“

„Sie haben eigene Wettkämpfe bestritten?“

„Wenige, ich kann eher andere zu Höchstleistungen motivieren als mich selbst.“

„Sie sind erst kürzlich nach Holzminden gezogen?“

„Haben Sie mich überprüft?“

„Nein, ich habe bis vor etwa drei Jahren ebenfalls Judo gemacht, und ich denke, wir sind uns da nicht über den Weg gelaufen, oder?“

„Verstehe. Nun, ich bin vor gut einem Jahr hierher gezogen, aus Köln.“

„Berufliche Gründe?“

„Private Gründe.“

„Wann haben Sie Kelvin das letzte Mal bewusst gesehen?“

Hanske überlegte einen Moment. „Bei der Toilettenpause auf der Raststätte. Er hatte Probleme mit seinem Trinkpäckchen.“

„Danach nicht mehr?“

„Nachdem alle Kinder eingestiegen waren, habe ich kontrolliert, ob alle da sind. Später habe ich mich, genau wie alle anderen auch, auf meinen Sitz gesetzt und gedöst.“

„Beim oder nach dem Aussteigen vor der HAWK ist er Ihnen nicht aufgefallen.“

Hanske schüttelte stumm den Kopf.

„Haben Sie Frau Jänicke vor der HAWK gesehen?“

Der Trainer legte den Kopf schief. Augenscheinlich hatte ihm diese Frage bisher noch niemand gestellt. „Nicht, dass ich wüsste.“

Er atmete tief ein. „Aber wissen Sie, das ist nun mal so. Die wenigsten Eltern sagen Bescheid, dass sie mit ihrem Kind abfahren oder dass sie noch zwei andere mitnehmen.“ Er seufzte laut. „Und dass sich einer dafür bedankt, dass die Kinder einen tollen Ausflug gemacht haben und ich mir einen freien Tag um die Ohren gehauen habe, ist schon lange nicht mehr vorgekommen.“

„Angela Jänicke, haben Sie sie gesehen?“

„Nö.“

„Fährt einen blauen Polo.“

„Nö.“

„Ganz bestimmt nicht?“

„Definitiv.“

„Was macht sie so sicher?“

„Sie fasst mich immer an.“

Kofi runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“

„Nicht aufdringlich oder so, ist ihre Art, macht sie mit allen. Sie legt einem stets ihre Hand irgendwohin, wenn sie mit einem spricht. Auf die Schulter, auf den Arm, auf die Hand. Ich glaube, sie kann nicht anders.“

„Frau Jänicke hätte sich und ihren Sohn bei Ihnen abgemeldet?“

„Auf jeden Fall. Sie hat immer noch etwas zu besprechen.“

„Ist Kelvin gut im Judo?“

Hanske pustete Luft durch die Nase. „Sozusagen ein Supertalent.“ Er scharrte versonnen mit der Fußspitze über die Gehwegplatten. Kofi spürte, dass Hanske trotzdem, oder gerade deswegen, Vorbehalte gegen den Jungen oder seine Mutter hatte. „Kelvin scheint zu spüren, was sein Gegner vorhat und kommt ihm einen Sekundenbruchteil zuvor. Es ist ein Vergnügen, ihm zuzusehen.“ Seine Stimme hingegen drückte weder Vergnügen noch Begeisterung aus, dachte Kofi. Eher Verwunderung.

„Hat er Spaß am Judo?“

„Alle Kinder haben Spaß, wenn sie gewinnen.“

„Hat Kelvin am Sonntag auch gewonnen?“

„Alle Kämpfe, souverän.“

„Wie hat er reagiert, wenn er verloren hat?“

Hanske schien verlegen. „Er hat immer versucht, anderen die Schuld zu geben. Der Gegner hat unfair gekämpft. Die Schiedsrichter waren parteiisch. Die Matte war zu rutschig. Sie wissen schon.“

Kofi nickte. „Hatte er Angst zu verlieren?“

„Angst? Nein. Aber er wollte unbedingt, dass seine Mutter stolz auf ihn sein konnte.“

Kofi schaute zum Fenster der Wohnung, aus dem inzwischen Fräulein Menke ertönte. „Ich müsste mal zur Toilette. Darf ich bei Ihnen?“

„Geht leider nicht. Die Tankstelle da hinten hat eine Toilette.“

Kofi fragte sich, wen oder was Detlef Hanske verbergen wollte. Einen Berg Schmutzwäsche? Eine Freundin?

Oder einen kleinen Jungen?

„Sie sind gestern als Letzter gegangen?“

„Ich habe gewartet, bis alle Kinder abgeholt worden waren, ja. Ich bin zu Fuß nach Hause gelaufen, war ja ein schöner Abend.“

„Kann das jemand bestätigen?“

„Dass keiner mehr da war, als ich losgegangen bin?“

„Wer hat sein Kind als Letzter abgeholt?“

Wieder dachte Hanske angestrengt nach. „Die Zwillinge. Sie hatten sich mein Handy geliehen und ihre Mutter angerufen, nachdem wir angekommen waren. Die kam in Schlappen und einem rosafarbenen Jogginganzug angehetzt. War’s das? Ich hab noch was vor.“

Erneut überlegte Kofi, wieso Hanske sich so seltsam verhielt. Als er nicht sofort antwortete, fragte der Trainer: „Sagen Sie jetzt, dass ich die Stadt nicht verlassen darf? Oder verlesen Sie mir gleich meine Rechte?“

„Weder noch. Ich wollte nur ein paar Details überprüfen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Herr Hanske.“

Damit wandte Kofi sich ab, ging den Gartenweg hinunter. Am Tor angekommen, drehte er sich noch einmal um. Hanske stand vor der Haustür, er schien abzuwarten, ob Kofi wirklich wegging. ‚Komischer Kauz‘, dachte er. ‚Will der mich veräppeln? Nicht mit mir. Das kann ich besser. Oh ja, ich mach’ den Columbo.‘

Er hielt inne, kratzte sich am Kopf, schwankte leicht mit dem Oberkörper und ging auf Detlef Hanske zu. „Ich hätte da noch eine Frage.“

„Peter Falk ist tot, wussten Sie das noch nicht?“

„Was machen Sie beruflich?“

„Ich bin selbstständig.“

„In welcher Branche?“

„Beratung.“

„Kann man damit Geld verdienen?“

„Ich schon.“

Kofi gab auf. So interessant war der Kerl nun auch wieder nicht. Sobald er in seinem Büro saß, würde er ihn überprüfen.

Was sollte er als Nächstes tun? Er ließ Ollners Handy klingeln, doch der meldete sich nicht, war wohl noch im Gespräch.

Kofi erinnerte sich an Guntrams Aussagen und beschloss, sich selbst ein Bild von Kelvins Mutter zu verschaffen.