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Er sah, dass Angela Jänicke hinter der Gardine stand und in den Vorgarten hinausblickte, als er den Weg zu dem blauen Mehrfamilienhaus entlangging. Sie bewegte sich nicht, reagierte nicht auf ihn.

Er wusste nicht, ob sie ihn versteckt beobachtete oder gar nicht bemerkt hatte. Abgeblühte Rosenbüsche trennten den schmalen Plattenweg von einer vermoosten Rasenfläche ab. Eine Schaufel und ein kleiner roter Ball lagen vergessen vor einem winzigen Sandkasten.

Jemand hatte einen riesigen „Tag“ aus drei Meter hohen Buchstaben auf die Umrandung der Mülltonnen neben dem Haus gesprayt.

Auf Kofi wirkte das Ganze düster, trübsinnig, etwas verwahrlost. Dieser Eindruck wurde bestätigt, als er das Klingelbrett betrachtete. Zwei Knöpfe fehlten. Oben in der Mitte prangte ein ausgekautes Kaugummi. Nur zwei Klingeln waren leserlich beschriftet. Er drückte auf Jänicke und fragte sich, welche Bakterien diesen Knopf wohl besiedelten. Vorsichtshalber wischte er seinen Finger an der Hose ab.

Frau Jänicke öffnete die Tür nur einen Spalt breit. „Was wollen Sie?“ Sie hatte das dunkle Haar zu einem Knoten aufgesteckt.

„Mein Name ist Kofi Kayi. Ich bin Kriminalkommissar. Sie haben gestern mit meinem Kollegen Ollner gesprochen. Wir arbeiten zusammen.“

„Haben Sie Kelvin gefunden? Ist er …“

„Nein, nein. Allerdings haben sich noch ein paar Fragen ergeben. Dürfte ich reinkommen?“

Sie sah ihn misstrauisch an, nickte aber und gab den Weg frei. Kofi hatte den Eindruck, dass sie dabei ein wenig geschrumpft war, so als wäre sie eine aufblasbare Puppe und jemand hätte etwas Luft abgelassen. Frau Jänicke trug schwarze Jeans und eine lila Bluse, dazu ein farblich passendes Halstuch und Flipflops. Sie war stark geschminkt. Trotzdem sah Kofi die Ringe unter den Augen und die Rötungen. Sie wies mit der Hand auf eine offene Tür. „Wir können ins Wohnzimmer gehen.“

„Wir tun wirklich alles, was in unserer Macht steht, um Ihren Sohn zu finden.“

„Kelvin. Er heißt Kelvin.“

„Ihren Sohn Kelvin, ja.“

„Wissen Sie, alle sagen nur ‚Ihr Sohn‘, so als wäre es Blasphemie oder ein böses Omen, seinen Namen auszusprechen. Bitte sagen Sie Kelvin. Setzen Sie sich.“ Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und dirigierte ihn sanft zu einem der beiden Sessel. Sie selbst ließ sich auf das Sofa sinken.

„Kein Problem. Also, Kelvin war, äh, ist ein guter Judoka?“

„Er hat großes Talent. Leider kann er erst 2024 an den Olympischen Spielen teilnehmen, denn natürlich muss er erst sein Abitur machen.“

Kofi wusste im ersten Augenblick nicht, wie er darauf reagieren sollte.

Einem Siebenjährigen vorherzusagen, dass er in dreizehn Jahren zum Olympiakader gehören würde, hielt er für mehr als verfrüht, ja geradezu für vermessen. Er versuchte, ihren Blick aufzufangen. Machte sie sich über ihn lustig? In der Situation? Wohl kaum. Er schaute sie an. Ihre Augen flatterten, schienen nicht richtig zu fokussieren.

Hatte Frau Jänicke noch nichts von der Pubertät gehört oder von Mädchen, die Jungen Flausen in den Kopf setzten?

Kofi versuchte, sein Erstaunen mit einem Lacher zu überspielen. Obwohl es in seinen Ohren sehr aufgesetzt klang, nahm Frau Jänicke ihn ernst.

„Sie brauchen nicht so ungläubig zu lachen. Man kann alles erreichen, wenn man sich nur ausreichend anstrengt.“ Sie sprach ganz langsam, betonte jede Silbe.

Unauffällig sah Kofi sich in der Wohnung um. Sie saßen im Wohnzimmer, Eiche hell, nicht Ikea, billiger und ziemlich hausbacken, sauber, aber abgenutzt. Für sich selbst galt Frau Jänickes Spruch anscheinend nicht. Oder war Verkäuferin bei Douglas wirklich ihr Traumberuf? Kofi beschloss, über etwas anderes zu sprechen.

„Kelvin hat gestern alle seine Kämpfe gewonnen.“

„Selbstverständlich.“

„Sie wussten das schon?“

„Ja und nein.“

„Wie das?“

„Ich wusste es, weil er immer der Beste war. Aber bisher hatte es mir noch niemand bestätigt. Irgendwie war es bislang nicht wichtig. Bitte, Sie müssen Kelvin bald finden. Er darf das Training nicht versäumen, sonst kann er nicht zur nächsten Gürtelprüfung antreten.“

Hatte die noch alle Latten am First? Der Junge war verschwunden, und das Einzige, worum sie sich sorgte, war so eine dämliche Gürtelprüfung. Am liebsten hätte er sie geschüttelt.

Dann hatte er eine Idee. „Hat Ihnen Ihr Arzt etwas gegeben?“

Sie lächelte. „Ja. Ich soll nur eine am Tag nehmen.“ Sie sah ihn verschwörerisch an. „Ich hab’ aber schon drei intus, und dann wurde ich so müde, dass ich im Sitzen eingeschlafen bin. Da habe ich schnell eine von meinen üblichen Tabletten genommen. Wissen Sie, ich muss im Shop den ganzen Tag stehen, da brauche ich ein paar Kraftspender.“ Sie legte ihre Hand auf seine. „Ich tue alles für Kelvin.“

„Okay.“ Er stand auf. „Was halten Sie davon, wenn ich uns einen Kaffee und Ihnen dazu noch eine Scheibe Brot mache?“

„Wenn es Ihnen Spaß macht. Die Küche ist da.“

Sie zeigte auf eine halb geöffnete Tür, folgte ihm und setzte sich an den Küchentisch.

„Wie ist Kelvins Verhältnis zu seinem Vater?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn er ihn nicht sieht, vermisst er ihn auch nicht. Sobald er ein Wochenende in Hildesheim war, fällt es ihm schwer, wieder hierher zu kommen. Aber das ist ja kein Wunder, die verwöhnen ihn nach Strich und Faden. Da kann ich nicht mithalten. Bei mir ist Alltag, in Hildesheim ist immer Wochenende.“

„Können Sie sich vorstellen, dass Kelvin zu seinem Vater wollte und vielleicht gestern Abend einfach losmarschiert ist, als Sie nicht gekommen sind, um ihn abzuholen?“

„Das würde er sich nicht trauen.“

„Wieso nicht?“

„Er fürchtet sich im Dunkeln. Ich muss immer ein Nachtlicht brennen lassen.“

„Könnte es sein, dass Ihr Mann Kelvin abgeholt hat?“

„In vier Tagen ist wieder Hildesheim-Wochenende. Unter der Woche ist er bei mir. Wegen der Schule und so.“

„Möglicherweise hatte der Vater Sehnsucht nach seinem Sohn?“

„Das wäre ja mal ganz was Neues.“

„Sie hatten gestern einen Platten?“

Sie nickte. „Mein Polo hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel.“

„Wo ist das denn passiert?“

„Vorne rechts.“

„Nein, ich meinte, wo in Holzminden?“

„An der Fürstenberger, Ecke Wilhelm-Raabe, da müsste noch mein Warndreieck stehen. Habe ich in der Eile vergessen.“

„Haben Sie den Reifen allein gewechselt?“

„Natürlich nicht. Ein LKW-Fahrer hat mir geholfen. Ein Pole, aber nett. Er sprach niedlich Deutsch.“

Kofi konnte an ihren Augen sehen, dass sie sich bemühte, an alles Mögliche und Unmögliche zu denken, nur nicht daran, wo ihr Sohn, wo Kelvin jetzt sein mochte und wie es ihm erging.

„Frau Jänicke. Sie müssen darauf gefasst sein, dass die Presse bei Ihnen auftaucht.“

„Unser Anzeiger?“

„Ja, aber auch Überregionale und Fernsehsender oder Radio.“

„Wegen Kelvin? Wollen die beim Suchen helfen?“ Sie richtete sich auf. „Vielleicht ist das gut für später?“

Kofi beschloss, dass es Zeit war zu gehen. Er hoffte, dass die meisten ihrer Reaktionen auf das Beruhigungsmittel zurückzuführen waren. „Passen Sie auf sich auf. Wir melden uns bei Ihnen, sobald wir Ihren …, sobald wir Kelvin gefunden haben. Bleiben Sie sitzen, ich finde allein hinaus.“

In Windeseile warf er einen kurzen Blick in die anderen Zimmer. Kelvins Kinderzimmer war ordentlich aufgeräumt. Im Bad hing Wäsche zum Trocknen über der Badewanne.

Ihr Schlafzimmer sah ein wenig wüst aus. Kleidungsstücke und Handtücher lagen auf dem Bett, hingen über einem Stuhl. Mehrere Damenschuhe lagen auf dem Boden.

Abgesehen vom Kleiderschrank und unter dem Ehebett gab es nichts, wo man einen Siebenjährigen verstecken konnte. Und da war er nicht.

Kofi schloss die Türen sorgfältig, bevor er die Wohnung verließ.

Er musste sich Guntrams Auffassung anschließen. Er glaubte nicht mehr daran, dass Angela Jänicke ihren Sohn, Kelvin, versteckt hatte. Auch dass sie ihn im Zorn geschlagen und verletzt oder sogar getötet haben konnte, schien wenig wahrscheinlich.

Sie setzte auf seine Karriere. Betrachtete sie seinen Erfolg, jetzt und in Zukunft, als Ersatz für ihren eigenen?

Und ihr Mann? Ex-Mann? Sie dachte mit Bitterkeit an ihn, das ja, aber Hass?

Kofi stieg in seinen Wagen und fuhr ins Stadtzentrum zurück.