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„Mannomann, Opa, das ist eine Schnellstraße, nicht der Parkstreifen.“ Sie fuhr viel zu dicht auf, das wusste sie. Trotzdem. Sie hupte, setzte den Blinker und überholte, obwohl von vorn ein VW-Bus kam. Die durchgezogene Mittellinie ignorierte sie genauso wie den Vogel, den der Fahrer des Busses ihr zeigte, während er nach rechts auf den Standstreifen auswich. „Stell dich nicht so an. Hier passen dicke drei Autos anein­ander vorbei.“ Irene überholte noch einen Lastwagen, bevor sie sich erneut einordnete. Sie schaute auf die Uhr. Egal wie schnell sie fuhr. Sie kam zu spät. Wieder einmal. Sie fluchte leise und trat das Gaspedal ihres Zafira noch etwas weiter durch. Auf keinen Fall durfte die Ampel auf Rot umschalten.

Als Letzte raste sie bei Dunkelgelb über die Kreuzung. An der nächsten Kreuzung bog sie von der B64 ab. Glücklicherweise herrschte um die Mittagszeit in der Stadt nicht allzu viel Verkehr. Die Nordstraße war zwar nicht breit, ließ sich aber gut fahren. Mit quietschenden Reifen fuhr sie über die große Kreuzung in die Karlstraße.

Kim stand allein am Straßenrand vor dem Gebäude der Grundschule. Klein sah sie aus und verletzlich. Irene spürte einen Kloß in ihrem Hals. Warum nur holte sie ihre Tochter immer als Letzte ab?

Irene musste sich über den Beifahrersitz beugen und die Tür aufschieben, bevor Kim aufschaute und zu ihr in den Wagen kletterte.

„Hi, Süße. Wie war dein Tag? Schnall dich an.“

„Du bist zu spät.“

Irene wuschelte durch Kims lockige Haare. „Ich habe mich echt beeilt. Du weißt doch, dass ich auf unsere Kunden Rücksicht nehmen muss.“

„Hast du das Haus verkauft?“

Irene schüttelte den Kopf. „Noch nicht.“ Sie blinkte und reihte sich wieder in den fließenden Verkehr ein.

„Hab ich mir gedacht!“, sagte Kim. „Du, Mama, wie weit ist ein Katzensprung?“

„Die Leute müssen noch mit den Herstellern der Maschinen sprechen wegen der Tragkraft der Hallendecken, dann melden sie sich“, sagte Irene laut. Bei sich ergänzte sie, falls ich alles richtig verstanden habe. Mitten im Gespräch über undichte Fenster und Isolierverglasung hatte ihr Handy vibriert. Natürlich konnte sie die Kunden in diesem Moment nicht stehen lassen, um zu telefonieren. Doch die Hoffnung, dass Leon sich endlich bei ihr meldete, hatte sie so sehr abgelenkt, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Sie war froh gewesen, die Besichtigung bald darauf beenden zu können. Hastig hatte sie ihre Mailbox überprüft. Der Anruf stammte nicht von Leon.

„Mama, was ist ein Katzensprung?“

Irene warf ihrer Tochter ein Lächeln zu. „Später, meine Kleine, später. Ich bring dich jetzt zu Anna. Da bekommst du etwas zu essen.“ Und sie würde in die Innenstadt fahren und Oliver fragen, ob er endlich Neues von Leon gehört hatte.

„Der Mann hat gesagt, es ist nur ein Katzensprung bis zu den Katzenbabys.“

Ob ihm etwas passiert war? Irene schaute ihre Tochter an. Hatte sie was von Katzenbabys gesagt? „Kind, du bist allergisch gegen Katzen.“

„Ich weiß.“

„Dann ist ja gut.“

„Der Mann hat Katzen.“

„Welcher Mann? Egal, du kannst keine Katze bekommen. Das verstehst du doch, oder?“

„Ich weiß. Wann holst du mich wieder ab?“

„Anna hat um halb acht einen Workshop. Sie bringt dich vorher nach Hause.“

„Ich muss Hausaufgaben machen.“

Irene seufzte. Auch das noch. „Rechnen kannst du mit Paul.“

„Wald, Fuchs, Höhle, Fluss, Baumstamm.“

„Was soll das?“

„Wald, Fuchs, Höhle, Fluss, Baumstamm. Alle Wörter müssen in der Geschichte vorkommen.“

„Ein Aufsatz, auch das noch.“ Sie blinkte und fuhr auf die linke Spur. Mussten die immer in zweiter Spur parken?

„Kein Aufsatz, eine Geschichte. Wir dürfen alles schreiben, was uns einfällt, auch wenn es gelogen ist.“ Kim wartete auf eine Reaktion ihrer Mutter. Als keine kam, sagte sie: „Die Katze verläuft sich im Wald und trifft den Fuchs.“

„Hör mal, Mäuschen, den Aufsatz schreiben wir heute Abend zusammen, okay?“

„Eine Geschichte, Mama.“ Kim verdrehte genervt die Augen. Warum hörte ihre Mutter ihr eigentlich nie zu?

„Anna mag Geschichten, soll ich Anna von der Katze erzählen?“

„So, da sind wir. Nimm die Schultasche mit und deine Jacke.“

Irene Rugenstein stieg aus, ging auf die andere Seite des Wagens und öffnete die Tür, damit Kim aussteigen konnte.

„Kommst du nicht mit hinein?“

„Keine Zeit. Annas Laden ist gleich um die Ecke. Du bist schon groß genug, um allein hinzufinden.“ Noch einmal ruffelte sie Kims Haare. „Bis heute Abend.“

Sie setzte sich sofort wieder hinter das Lenkrad. Nur kurz sah sie den hellgrünen Rücken ihrer Tochter aufblitzen, während sie die Sohnreystraße hinunterging. Schon im nächsten Augenblick dachte sie an Leon und Olivers Anruf. Dass Leon sich das ganze Wochenende nicht bei ihr meldete, war mehr als außergewöhnlich. Dass er nicht zur Arbeit erschien und offensichtlich seit Freitag weder Mails abgeholt noch den Anrufbeantworter abgehört hatte, bewies, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Sie stellte den Zafira an der Fachhochschule ab und ging die wenigen hundert Meter bis zur Fußgängerzone. Die Beratungsfirma „@dospasos“ befand sich im Katzensprungtor, in einem historischen Gebäude mitten im Stadtzentrum, das lange leer gestanden hatte. Bis Leon es sah, sich in das Haus verliebte und beschloss, seine gerade gegründete Firma darin unterzubringen. „@dos pasos“, nur zwei Schritte oder auch freier übersetzt: nur ein Katzensprung, so hieß sein Unternehmen, weil es Existenzgründern ein Rundumsorglospaket schnürte. „Sie rufen an und vereinbaren einen Termin, zwei kleine Schritte für Sie, den Rest erledigt unser kompetentes Team.“ So lautete der Werbespruch, den er sich ausgedacht hatte.

Wie ein Schuljunge hatte er sich gefreut, als er entdeckt hatte, dass das Haus leer stand. Seine beiden Partner, Oliver Nussbaum und Stella Anders, waren eher skeptisch. Sie empfanden das Haus als zu klein und zu alt, wollten etwas Repräsentativeres. Irene hielt sich da raus. Sie war nur angestellt. Andererseits bewunderte sie Leons Hang zum Understatement, jedenfalls so lange, bis sie sich fragte, ob sie auch dazu gehörte. Ob er sich nur mit ihr abgab, weil sie nichts Besonderes war, weil sie nicht auffiel. Im Gegensatz zu Stella, die Irene immer deutlich zu verstehen gab, dass Leon etwas Besseres verdient hatte, nämlich sie. Doch Leon sah das anders, wie so oft.

„Was brauchen wir denn unbedingt?“, hatte er gefragt. „Einen Empfangsraum“, dabei hatte er Irene lächelnd angesehen, „drei Büros, ein Besprechungszimmer und eine Art Lagerraum für Fotokopierer, Papier usw. Mehr nicht. Das Haus hat einfach Flair, und die Lage, 1a, sage ich euch. Spitzenklasse.“

„Ohne Parkplätze“, hatte Stella gemurrt.

„Viel zu dunkel“, wandte Oliver ein.

„Aber mit Charakter und Stil“, sagte Leon.

Ein halbes Jahr später waren sie umgezogen. Irenes Schreibtisch wurde so aufgestellt, dass sie vor dem Fenster saß. Wenn sie sich umdrehte, konnte sie auf den kleinen Brunnen schauen. Bei schönem Wetter kletterten eigentlich immer Kinder darauf herum. Frauen standen daneben und unterhielten sich. Der türkische Gemüsehändler kam auch oft nach draußen und drapierte Paprika, Möhren und Orangen so, dass sie zum Zugreifen einluden.

Leon hatte das größte Büro bekommen, Olivers schaute auf die Seite hinaus, wo früher die Synagoge gestanden hatte. Stella hatte zwei Räume zu ihrer Verfügung, beide ziemlich klein, aber als Steuerberaterin arbeitete sie mit sensiblen Daten. So konnte sie alle Akten auf dem Schreibtisch liegen lassen, wenn ein Kunde sie besuchte und sie ihn im zweiten Büro empfing.

Irene mochte das Besprechungszimmer am liebsten. Viel Holz und große Fenster. Oft genug breitete sie ihre Unterlagen auf dem massigen, ovalen Tisch aus, wenn sie sich auf eine Besichtigung vorbereitete, und das nicht nur, weil er die größte Oberfläche aufwies.

Die Firma brummte. Sie mussten die ersten Kundenaufträge ablehnen. Es gab eine Warteliste. Und nun das. Sie hastete weiter, zog im Laufen das Handy aus der Tasche und wählte noch einmal Leons Nummer. Keine Verbindung. „The number you have dialed is currently not available.“ Vielleicht war ja sein Mobiltelefon ins Klo gefallen. Genau, oder der Papst besuchte einen Swingerclub.

Sie rempelte einen jungen Mann an, der aus der Tür trat, als sie um die Ecke bog. „Die Firma ist heute geschlossen“, sagte er, ein wenig vorwurfsvoll.

„Ich weiß, ich arbeite da“, sagte Irene atemlos.

Oliver und Stella saßen im Besprechungszimmer, jeder auf einer Seite des Tisches. Das sah Irene sofort, als sie die Firmenräume betrat. Beide hatten eine dampfende Tasse vor sich. Stella entdeckte Irene zuerst.

„Da bist du ja endlich.“

„Ging nicht schneller, die haben jede Ecke auf Feuchtigkeit überprüft und alle Räume nachgemessen“, sagte Irene, während sie ihre Jacke aufhängte. Den Umweg mit ihrer Tochter erwähnte sie lieber nicht.

„Wir müssen die Polizei informieren“, sagte Oliver.

„Die Polizei? Wieso?“ Irene verstand ihn nicht.

Oliver lehnte sich vor. „Wir alle haben am Wochenende versucht, Leon zu erreichen, oder?“

Die beiden Frauen nickten.

„Das ist uns nicht gelungen. Heute Morgen haben wir alle unsere üblichen Arbeiten erledigt. Stella hatte einen Termin im Finanzamt, Irene, du warst mit den Beckers bei den Lagerhallen, und ich war beim Amtsgericht.“

„Kaffee trinken mit deinem Spezi Wenzig“, vermutete Stella.

Oliver ignorierte sie. „Leon kommt normalerweise gegen acht, halb neun mit dem Fahrrad. Ich bin um halb elf hier eingetroffen.“

„Und ich Punkt zwölf“, sagte Stella.

„Sein Fahrrad stand nicht unten“, erinnerte sich Irene.

„Genau. Deshalb haben wir versucht, in sein Zimmer zu gucken.“

„Er hasst das“, sagte Irene erschrocken.

Oliver zuckte mit den Schultern. „Es war abgeschlossen.“

„Natürlich, Leon schließt immer ab.“

„Von innen.“

„Wie meinst du das?“

„Der Schlüssel liegt nicht in deinem Schreibtisch!“

Erschrocken schaute Irene ihn an. „Wieso nicht?“ Sie sprang auf. „Das muss ich überprüfen.“ So ein Mist, sie hatte den Schlüssel eingesteckt und am Freitag mit nach Hause genommen. Sie hatte keine Lust mehr gehabt, nach der späten Besichtigung noch einmal in die Firma zurückzukehren. Das war streng verboten. Konnte sie ahnen, dass Oliver in ihrem Schreibtisch nachgucken würde? Eigentlich schon. Sie hätte wissen müssen, dass er die Gelegenheit nutzen würde. Es wurmte ihn schon lange, dass Leon sein Büro stets verschlossen hielt und außer ihr selbst niemanden hinein ließ. Er empfing alle Kunden im Besprechungszimmer und suchte Oliver und Stella in ihren Räumen auf, wenn er sie sprechen wollte.

Sie zog eine Schublade auf und schob die anderen Schlüssel, die in dem Fach waren, suchend hin und her. Mit der Linken umklammerte sie den zu Leons Büro. Sie bückte sich tiefer, zog die unterste Schublade auf und seufzte laut. „Hier liegt er doch.“

Oliver und Stella waren ihr gefolgt, allerdings nur bis zur Tür zu ihrem Büro. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sie ihr Manöver durchschaut hatten. Jedenfalls sagten sie nichts.

„Wollen wir?“

„Du musst vorgehen.“

Stella zeigte mit dem ausgetreckten Zeigefinger auf Irene. „Du bist die Einzige, die sein Büro außer ihm in den letzten Wochen betreten hat. Nur du kannst erkennen, ob etwas nicht stimmt.“

Irene drehte sich um und ging zu Leons Büro. Die Tür ließ sich ganz normal aufschließen und öffnen. Sie ging über die Schwelle und schaute sich verwirrt um. Es sah aus, als hätte eine Horde Paviane eine stürmische Party gefeiert. Papiere, Ordner und Stifte lagen durcheinander auf dem Boden. Der Schreibtischstuhl lag unter dem Fenster.

Irene ging in den Raum und bückte sich nach Leons Kalender. Oliver packte sie am Arm. „Nicht, besser du fasst nichts an.“

„Wer war das?“

Stella verdrehte die Augen. „Woher sollen wir das wissen? Aber aus deiner Reaktion schließe ich, dass es hier normalerweise nicht so aussieht.“

„Natürlich nicht. Was denkst du denn?“

Oliver zog sie vollständig aus Leons Büro heraus. „Dann müssen wir die Polizei benachrichtigen. Für mich sieht das nach einem Einbruch aus.“ Er zögerte kurz. „Oder auch danach, dass Leon einen Besucher hatte, mit dem er nicht zurechtkam.“

„Was soll das heißen?“ Irene sah ihn wütend an.

„Ich weiß es auch nicht. Aber mein Gefühl sagt mir, dass hier etwas verflucht faul ist.“