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Drei ziemlich unerfreuliche Gespräche hatte Kofi bereits hinter sich. Nun stand er vor einem Einfamilienhaus, das man nur schmuck nennen konnte, mit ordentlichen Rabatten, gepflegten Obstbäumen und glänzenden Rosenkugeln auf Holzstäben.

Kofi klingelte. Eine Frau, sechzig Jahre jung, bleistiftkurze Haare, in Latzhosen und einem schlabberigen T-Shirt, öffnete ihm. „Hi.“

„Guten Tag, Kriminalkommissar Kofi Kayi, ich müsste bitte mit Herrn Kruse sprechen, ist er da?“

Ihr Lächeln zerbröckelte wie alter Pecorino. „Können Sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen?“

„Wenn ich das könnte, wäre ich nicht hier, oder glauben Sie, mir macht das Spaß?“

„Wer weiß!“ Sie rührte sich nicht, blieb in der Türöffnung stehen.

Kofi seufzte. „Ich kann ihn auch zu uns in die Dienststelle bestellen.“

Widerstrebend schob sie die Tür weiter auf. „Kommen Sie herein. Er ist im Wohnzimmer.“

Sie waren fast an der Wohnzimmertür angekommen, als sie plötzlich stehen blieb. „Bitte“, sagte sie leise, „bitte, lassen Sie mich zuerst mit ihm reden.“

Kofi zögerte. ‚Wollte sie ihn warnen? Wovor? Wahrscheinlich wollte sie ihn eher vorbereiten.‘ Dann stimmte er zu.

Während sie in dem angrenzenden Zimmer verschwand, betrachtete er die Ansichtskarten, die an einer Pinnwand neben der Tür zur Küche steckten. Einige schienen bereits Jahrzehnte alt zu sein. Er hörte gedämpfte Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde.

Schließlich kam Frau Kruse wieder zu ihm zurück. „Wir haben von der Entführung in der Zeitung gelesen. Er will nicht mit Ihnen sprechen. Er sagt, er hat dem Jungen nichts getan.“

„Das muss ich von ihm selber hören. Bitte!“ Die Frau tat ihm leid, aber er musste sich vergewissern. Er trat an ihr vorbei, schob die Tür auf und ging in das Wohnzimmer.

Er kam nur wenige Schritte weit. Der gesamte Raum wurde von einer Modelleisenbahnplatte eingenommen. In der Mitte der Platte war ein Ausschnitt, darin saß ein hagerer Mann hinter einem Steuerpult. Er betrachtete Kofi aus wässrig blauen Augen. Kofi erwiderte seinen Blick, konnte aber nichts darin lesen. Der Mann schien einfach durch ihn hindurch zu blicken. Ein lauter Pfiff ließ Kofi zusammenzucken.

Eine piepsige Stimme sagte: „Auf Gleis 4 Einfahrt des Intercity aus Kassel Wilhelmshöhe zur Weiterfahrt nach Hannover, Uelzen und Hamburg. Vorsicht bei der Einfahrt des Zuges.“

Kofi sah, wie sich Schranken herabsenkten, Weichen sich verstellten, Signallampen aufleuchteten und wieder erloschen. Aus einem Stall kam eine Kuh, und winzige Feuerwehrmänner löschten ein brennendes Haus.

Wohin er auch sah, überall gab es detailgetreue Szenen. Er entdeckte einen Biergarten. Auf den Tellern lagen Würstchen, und in den Gläsern schien eine gelbe Flüssigkeit zu schäumen. Kofi staunte. Plötzlich stand Frau Kruse neben ihm. „Das ist sein Leben.“

Kofi schaute auf. „Guten Tag, Herr Kruse, ich bin Kriminalkommissar und muss Sie fragen, wo Sie am Sonntag, gegen Abend gewesen sind.“

Der Mann legte den Kopf etwas schräg. „Ella, wo war ich? In Göttingen, oder?“ Er erhob sich. Nachdem er einige Knöpfe gedrückt hatte, klappte er ein schmales Stück der Eisenbahnplatte hoch, so dass er aus der Mitte herauskommen konnte. Er ging bedächtig, fast als hätte er Muskelkater und vornüber gebeugt. Seine Hosen schlackerten als wären sie an einem Besen aufgehängt.

„Kommen Sie mit, junger Mann, ich zeig’s Ihnen.“

Erstaunt folgte Kofi ihm in die Küche. Hier war es ausgesprochen gemütlich. Holzmöbel, zahlreiche Grünpflanzen und bunte Kissen auf einer geräumigen Eckbank dominierten den Raum. Kruse öffnete eine Schranktür und nahm ein blaues Heft heraus. Er reichte es Kofi beinahe feierlich.

„Alles, was Sie über die Dialysebehandlungen wissen müssen“, stand darauf. Kofi blätterte es auf. Nach einigen Seiten mit Informationen und Schemazeichnungen folgten Blätter, auf denen Daten eingetragen waren.

„Der letzte Termin steht ganz hinten“, sagte Kruse mit brüchiger Stimme. „Unmittelbar vor dem nächsten.“ Nach einer Pause, in der Kofi durch das Heft blätterte, ergänzte er: „Warum lassen Sie mich nicht endlich in Frieden? Ich habe einen Fehler gemacht, einen. Dafür habe ich im Gefängnis gesessen, genau so lange, wie man mich verurteilt hatte. Ich habe keinen Antrag auf vorzeitige Entlassung gestellt, nichts dergleichen. Ich habe meine Schuld gesühnt.“ Seine Stimme war immer leiser geworden.

Dafür war ihre umso lauter, beinahe schrill. „Es war nach dem Schützenfest, mein Mann hatte zu viel getrunken, wir hatten uns gestritten, da hat er … da ist er …, ich weiß, es gibt keine Entschuldigung für eine Vergewaltigung, aber warum muss mein Mann sein ganzes Leben lang für einen einzigen Moment büßen, in dem er die Kontrolle über sich verloren hat?“

Was sollte Kofi ihr darauf antworten? Ihm fehlten nicht oft die Worte, doch hier war er sprachlos. Seine widerstrebenden Gefühle müssen sich wohl deutlich in seinem Gesicht abgezeichnet haben, denn Herr Kruse sagte traurig: „Lass gut sein, Ella, er versteht es sowieso nicht, will es gar nicht verstehen.“

Kofi wollte sich rechtfertigen, etwas erklären, wusste aber nicht wie. Er zuckte mit den Schultern. „Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich hoffe, Sie verstehen, dass …“

„Dass Sie automatisch meinen Mann verdächtigen, sobald jemand vergewaltigt wird?“

„Nein, wir überprüfen alle …“

„Mein Mann hat sich noch nie an kleinen Kindern vergangen, und das wird er auch in Zukunft nicht tun. Gehen Sie, gehen Sie einfach und kommen Sie nie wieder.“

Kofi verabschiedete sich und beschloss, auf der Dienststelle sofort zu prüfen, ob es eine Möglichkeit gab, Kruses Datensatz mit einer Ergänzung zu versehen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass von Kruse noch eine Gefahr ausging.

Manchmal war es wirklich tragisch, eine Entscheidung, links und nicht rechts abbiegen, das Telefongespräch noch annehmen, bevor man das Haus verlässt, diesen Bus oder den nächsten nehmen, mit der Titanic fahren oder aufs nächste Schiff warten.