Erst nachdem sie den Landkreis Holzminden hinter sich gelassen hatten, sprach Kofi das erste Wort. „Kanalreiniger!“
„Hä?“
„Jänickes Beruf. Kanalreiniger.“
„Soll ein ehrenwerter Beruf sein“, sagte Stefan Ollner.
„Ehrenwert sicher, aber irgendwie geruchsintensiv, oder?“
„Kann sein!“
„Das ist Holzen, hier gab es mal Kriegsgefangenenlager, heute kommen die Leute hauptsächlich zum Klettern an den Ith-Klippen hierher. Da verstecken sich auch ein paar Höhlen, in denen man Bärenknochen und irgendwelche steinzeitlichen Gefäße gefunden hat. Außerdem wohnen in der Rothesteinhöhle Fledermäuse. Warst du hier schon einmal?“
Stefan Ollner schüttelte den Kopf.
„Lohnt es sich?“ Er lebte jetzt bald ein Jahr in Holzminden und kannte sich im Stadtzentrum schon ziemlich gut aus. Gelegentlich hatte er auch in den umliegenden Dörfern zu tun. Doch bis hierher hatte es ihn selten verschlagen.
Kofi hingegen, der in Holzminden aufgewachsen war, erinnerte sich an weitere Details. „Wir sind früher manchmal zum Picknicken hierher gegangen. Sonntags war bei uns Familienausflugtag. Und die Ith-Höhlen gefielen mir immer besonders gut.“
Abwesend zupfte Ollner an seinem Ohrläppchen. „Lass uns kurz über den Dospasos-Fall reden, ja?“
Kofi sah ihn erstaunt an, nickte dann. „Okay, schieß los.“
„Wir haben drei Beteiligte. Das ist zum einen Irene-liebt-er-mich-wirklich, Immobilienmaklerin und quasi Mädchen für alles, dazu kommen Ich-wäre-gern-die-Geliebte-des-Chefs-Stella, zuständig für Steuersachen, und Oliver-wasch-mich-aber-mach-mich nicht nass. Er ist Anwalt und kümmert sich um alle Verträge.“
„Was ist der Verschollene für einer?“
„Lover-Leon, Betrüger-Leon oder Opfer-Leon? Ich bin mir absolut nicht sicher.“
Kofi musste über die Angewohnheit seines Vorgesetzten grinsen, allen Menschen, denen er begegnete, sprechende Namen zu geben, mit deren Hilfe er sie problemlos wiedererkennen und den richtigen Situationen zuordnen konnte.
„Vielleicht treffen sie alle zu.“
„Könnte durchaus sein. Also, ich bin mir ganz sicher, dass beide Einbrüche, der in das Büro und der in seine Wohnung, gefaked wurden.“
„Meinst du, er hat das selbst so hergerichtet?“
„Irgendjemand hat ein Interesse daran, es so aussehen zu lassen, als wäre Leon überfallen worden. Stellt sich die Frage, was geschah danach? Wurde er verschleppt? Es gibt keinerlei Forderungen, weder nach Lösegeld noch nach etwas anderem.“
„Könnte also sein, dass er die Mücke machen wollte, die Zelte hinter sich abbrechen, sich aus dem Staub machen …“
„Schon gut, ich hab’s verstanden. Das hätte er intelligenter einfädeln können, oder?“
„Es sei denn, er war in Zeitnot.“
„Guter Einwand. Wer oder was hat ihn bedrängt?“
„Geld oder Liebe?“
„Cherchez la femme, Stella oder Irene? Womit könnten Sie ihn dermaßen in Panik versetzen, dass er Hals über Kopf flüchtet?“
„Vielleicht hat eine von beiden ihn vor der anderen versteckt.“
„Als Sexsklave im Keller des Katzensprungtors, klingt nach Groschenroman.“
„Bleibt das Geld.“
Ollner wiegte den Kopf. „Geld, lass mich nachdenken. Dieser Leon hat zwei Aufgaben in der Beratungsfirma, deren größten Anteil er übrigens besitzt. Er kümmert sich um das Finanzielle aller Firmengründungen, aber auch um Buchhaltung, Geldanlagen und so weiter. Auf der anderen Seite macht er die Werbekonzepte, inklusive Homepages und Programme für bestimmte Zwecke.“
„Eine optimale Voraussetzung für Betrügereien.“
„Ich habe unseren Spezialisten auf die PCs in der Firma angesetzt. Wenn Leon irgendetwas gedreht hat, finden wir es.“
Kofi setzte den Blinker. Sie fuhren bei Elze von der B3 herunter und bogen auf die B1 ab, die sie direkt nach Hildesheim führen würde. „Wir müssen in Richtung Bosch-Werk fahren, von dort aus kommen wir zum Trockenen Kamp, ohne durch die ganze Stadt zu müssen.“
„Bosch, was stellen die hier her? Kaffeemaschinen?“
„Autozubehör, ursprünglich Starter und Batterien, heute vor allem Lenkhilfen und Hybridmotoren. Wolfsburg ist nicht weit.“
„Da ist die Ausfahrt.“
Stefan Ollner rollte mit den Augen, als sie in das Wohngebiet einbogen. „Dass es so etwas noch gibt.“
„Da drüben ist es.“
„Welch ein Gegensatz, hier diese Betonbunker, da drüben die Gärtnerei und dahinter Felder und Wald.“
Sie stellten den Wagen am Straßenrand ab und stiegen aus.
Kofi klingelte, und gleich danach ertönte der Summer. Sie verzichteten darauf, den Fahrstuhl zu nehmen.
Rainer Jänicke lebte mit seiner neuen Familie im siebten Stock. Er stand in der Türöffnung und erwartete sie.
„Sportlich, sportlich die Herren.“ Er lächelte mühsam und bat sie herein.
Die Wohnung wirkte durch die sparsame Möblierung großzügiger als sie war. Alles war hell und ordentlich. Erstaunlich fand Kofi allerdings, dass es keinerlei Dekorationen gab. Es hing kein Bild an der Wand, auf den Fensterbrettern standen keine Blumen, die Oberflächen der Schränke waren leer. Es gab keine offenen Regale, keine Tischdecke und keine Gardinen, nur einen dicken Wollteppich unter dem Tisch.
Die drei Männer setzten sich an den Esstisch. Drei schlichte, weiße Tassen und eine Thermoskanne Kaffee standen bereit.
Rainer Jänicke trug ein weißes T-Shirt und schwarze Jeans. Nachdem er seine Hände nebeneinander flach auf die Tischplatte gelegt hatte, sagte er: „Sie haben ihn nicht gefunden.“
Es war keine Frage, kein Vorwurf, sondern eine Feststellung, so sachlich vorgetragen, als ginge es um einen entflogenen Wellensittich oder einen verlorenen Kugelschreiber.
„Haben wir nicht“, bestätigte Stefan Ollner und ergänzte schnell: „Das bedeutet, dass wir eine gute Chance haben, ihn lebendig zu finden.“
„Nun, hier ist er nicht. Das haben Ihnen die Hildesheimer Polizisten, die mir am Montag einen Besuch abgestattet haben, garantiert mitgeteilt.“
„Wir mussten sichergehen.“
Jänicke winkte ab. „Keine Frage. Doch was wollen Sie nun?“
Kofi trank einen Schluck Kaffee, während Ollner erklärte: „Wir wollen ausschließen, dass Kelvin weggelaufen ist, dass er zum Beispiel zu Ihnen wollte, weil seine Mutter ihn zu sehr unter Druck setzte.“
„Meine Ex-Frau ist sehr ehrgeizig. Sie will nur das Beste für Kelvin.“
„Was ist das?“
„Sie will seine Fähigkeiten fördern, er soll Erfolg haben, was aus sich und seinem Leben machen.“
Kofi hörte einen Unterton heraus, der ihn aufhorchen ließ. „Entschuldigen Sie, aber ist das der Grund für Ihre Trennung? Haben Sie zu wenig aus sich gemacht?“
„Wenn Sie fest davon überzeugt sind, dass Kelvin nicht weggelaufen ist, haben Sie recht.“
Jänicke bewegte die Füße unter dem Tisch. Er zeigte mit der Linken auf sein Wohnzimmer. „Ich mag es schlicht, kaufe lieber drei Teile weniger und dafür etwas Gutes.“
Er stand auf und sah aus dem Fenster. „Ich bin viel da draußen, gehe wandern. Das ist mein Ausgleich. Auf der Arbeit ist es oft eng, schmutzig und stinkt. Deshalb mag ich die Natur.“
Weder Kofi noch Ollner sagten etwas. Sie warteten einfach.
„Angela arbeitet bei Douglas. Sie mag es schrill, will repräsentieren, sie definiert sich über das, was sie besitzt, was sie zur Schau stellen kann.“
‚Sie stellt ihren Sohn Kelvin zur Schau‘, dachte Kofi. ‚Sie sonnt sich in seinem Erfolg.‘
Jänicke wandte sich zu ihnen um. „Kelvin kommt nach ihr. Er kann mit dem Wald nichts anfangen. Er war schon im Kindergarten ehrgeizig, so ehrgeizig, dass er kaum Freunde gewann. Ich fühlte mich wie ein Fremdkörper.“
„Deshalb sind Sie gegangen?“, fragte Ollner.
„Ich konnte mit all dem Nippes nicht mehr atmen. Ganze Tage in den Sporthallen zu verbringen, mit lauter schwitzenden Gestalten, das hat mich fast verrückt gemacht.“
„Glauben Sie, dass Kelvin besonderes Talent hat?“
„Talent? Wenn es nach Angela geht, ist er ein Wunderkind.“
„Trotzdem besucht Ihr Sohn Sie regelmäßig?“
„So ist es vereinbart. Ich gebe mir jedes Mal Mühe, etwas mit ihm zu unternehmen, was ihm Freude macht.“
„Das klappt nicht?“
„Es wird immer schwieriger. Letztes Mal habe ich ihn am Freitag gegen Abend abgeholt. Er war zu einem Kindergeburtstag eingeladen. Die Familie hatte einen Clown engagiert. Als ich ankam, hatte er die Kids gerade in eine wirklich witzige Geschichte verwickelt. Alle amüsierten sich prächtig. Nur Kelvin stand an der Schrankwand, mit dem Rücken zum Geschehen. Ich wunderte mich. Erst als ich näher herankam, sah ich, dass ein Teil des Schrankes verspiegelt war und er sich selbst dabei zuschaute, wie er seinen Bizeps bewegte.“
Jänicke schien heute noch erschrocken, wenn er daran dachte. Hilflos hielt er die Hände in die Luft. „Das ist doch nicht normal, oder?“
Weder Kofi noch Stefan wussten, was sie dazu sagen sollten.
„Ich habe ihn später gefragt, ob ihm der Clown nicht gefallen habe. Er hat mich angesehen, als wäre ich ein besonders ekliges Insekt und hat gesagt: „Kinderkram. Kinderkram, ich bitte Sie, er ist sieben.“
„Hat er die Späße nicht verstanden?“
„Ich habe versucht, mit ihm darüber zu sprechen. Er hat mich angeschrien, das wäre alles Zeitverschwendung.“
„Haben Sie irgendeine Idee oder einen Verdacht, wohin Kelvin gegangen sein könnte?“
Der Mann schüttelte bedächtig den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen. „Kelvin war es immer wichtig, seine Mutter glücklich zu machen. Er täte nichts, was ihr weh tun könnte. Später einmal, wenn er in die Pubertät kommt, wenn er sich abgrenzen, abnabeln will, dann wird es Probleme geben. Aber bis dahin ist noch viel Zeit.“ Er unterbrach sich, knetete seine Finger und sah Kofi dann fragend an. „Er wird nicht in die Pubertät kommen, oder? Sie haben keine Hoffnung mehr, ihn zu finden.“
„So würde ich das nicht formulieren“, antwortete Ollner. „Es trifft zu, dass wir noch keine verwertbaren Spuren haben. Das bedeutet jedoch gleichzeitig, dass wir keine schlechten Nachrichten weitergeben müssen. Es liegt auch keine Lösegeldforderung vor. Daher ist alles noch offen.“
Rainer Jänicke war aufgestanden, wandte ihnen den Rücken zu und schaute aus dem Fenster. „Das glauben Sie doch selber nicht. Kelvin wird seit bald 48 Stunden vermisst. Was meinen Sie, ist da passiert? Hat ihn jemand zu einer Party eingeladen?“ Er drehte sich um. „Wissen Sie, was ich für das Wahrscheinlichste halte? Irgendein perverser Lustmolch hat ihn in sein Auto gezerrt, hat sich an ihm vergangen und ihn dann in einem Wald, einer Höhle oder einem Graben verscharrt. Und jetzt gehen Sie bitte.“
Kofi stand auf. „Wir danken Ihnen für Ihre Informationen. Wir tun, was wir können.“
Ollner ergänzte: „Wir halten Sie auf dem Laufenden.“
Schweigend stiegen Sie wieder in ihren Wagen ein.
Kofi gab sich große Mühe, an etwas Anderes zu denken, es gelang ihm nicht. Egal, ob er die Augen offen oder geschlossen hielt, er sah den kleinen Körper vor sich, den sie gestern gefunden hatten, den Körper, der nicht Kelvin war. Noch nicht?