30

Irene hatte für Kim einen warmen Kakao angerührt und sprühte gerade einen Klecks Sahne darauf, als ihre Tochter in die Küche kam. Sie trug ein rosa Sweatshirt mit der Applikation eines weißen Ponys aus flauschigem Samt. An der etwas zu kurzen Jeans fiel Irene auf, dass Kim schon wieder ein gutes Stück gewachsen war.

Sie hoffte inständig, dass die rosa Phase möglichst bald vorüberging. Weder Rosa noch Pink passten zu ihren rotblonden Locken. Trotzdem lächelte sie ihr zu. Was spielte es für eine Rolle, ob sie nach Erwachsenenstandards passend gekleidet war, solange sie so glücklich strahlte wie heute Morgen?

Sie frühstückten in aller Ruhe. Kim aß zwei Toasts mit Erdbeermarmelade, Irene ein Müsli mit einer Babybanane. Zuerst sprachen sie über Annas neues Kräutersalz. Danach erzählte Kim von dem kleinen Regal, das Paul für Annas Gewürze gebaut hatte. Ihr gefiel besonders, dass er es ihr zuliebe pink gestrichen hatte, obwohl er die Farbe doof fand.

Auch während der Autofahrt zur Schule hörte Kim nicht auf zu reden.

Vor dem Schulgebäude gab es das übliche Morgenchaos. Allerdings liefen die Kinder nicht allein über den Bürgersteig und ins Haus. Sie sammelten sich unter Aufsicht in kleinen Gruppen und wurden ins Haus begleitet. Irene sah es mit gemischten Gefühlen. Sie winkte ihrer Tochter, die sie jedoch nicht mehr beachtete, weil sie bereits von drei anderen Mädchen, die ebenfalls rosa trugen, umringt worden war.

Nachdem Irene einen Parkplatz gefunden hatte, spazierte sie zum Katzentor. Aus einem Impuls heraus ging sie schnell noch in den Lebensmittelladen und kaufte sich eine Ananas.

Seit sie gelesen hatte, dass die Ananas nicht nur zahlreiche Mineralstoffe und Spurenelemente enthalten, sondern auch Spuren von Vanillin aufweisen, die die Stimmung aufhellen, aß sie öfter eine. Dass die Frucht gleichzeitig anregend wirkte, gefiel ihr gut. Die versprochene erotisierende Wirkung hingegen hatte sie noch nie gespürt, wobei ihr das im Moment sowieso gleichgültig sein konnte.

Der Jugendliche an der Kasse bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln. Irene errötete, obwohl sie natürlich wusste, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht einmal ahnte, dass Ananas ein Aphrodisiakum war.

Sie grinste verschämt zurück und rannte beinahe zum Katzentorhaus.

Sie hatte gerade ihren Rechner hochgefahren, als Oliver in ihrem Büro auftauchte.

„Guten Morgen, was kann ich für dich tun?“

Er legte ihr einige Mappen auf den Schreibtisch und sagte: „Ich habe gestern noch ein paar Aufträge abgearbeitet. Es wäre gut, wenn du die Abschlussrechnungen schreiben könntest.“

Sie schaute sich die Reiter auf den Mappen an, um die Kundennamen lesen zu können. „Geht klar, das mache ich gleich, nachdem ich die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter abgehört habe. Vielleicht ist ja etwas Wichtiges dabei.“

Er sah sie mitleidig an. „Du glaubst immer noch, dass er wieder auftaucht, oder?“

Erschrocken antwortete sie: „Natürlich, du nicht?“

Er zuckte mit den Schultern. „Es wird von Tag zu Tag unwahrscheinlicher, nicht wahr?“

Als er bemerkte, dass ihr Tränen in die Augen schossen, legte er ihr eine Hand auf den Oberarm. „Lass man, das renkt sich ein.“

Sie nickte beklommen und rechnete damit, dass er sie umgehend verließ. Doch er blieb hinter ihr stehen.

Irene drehte sich schließlich zu ihm um.

„Wie geht es dir?“

„So lala!“

„Und deiner Tochter? Kim, oder?“

Überrascht hob Irene den Blick. „Was ist mit Kim? Der geht es super. Ich halte sie da raus, so gut ich kann.“

„Hat sie viele Freundinnen?“

„Ich denke schon. Klar.“

„Tanzt sie noch?“

Irene wunderte sich, dass er sich das gemerkt hatte. „Ja, ja. Sie üben gerade für einen Auftritt.“

„Ach, ist sie so begabt?“

„Ihre Lehrerin behauptet, sie wäre talentiert. Ich kann das nicht beurteilen. Kim mag die Musik. Sie bewegt sich gern.“

„Dann hat die Ballettlehrerin bestimmt recht.“

„Das werden wir bald sehen.“

„Wieso?“

„Das Tanzstudio hat Kim zu einem Vortanzen angemeldet. Sie könnte ein Stipendium bekommen, wenn sie Talent hat.“ Irene senkte die Stimme. „In meiner Lage ist der Tanzunterricht unglaublich teuer.“

„Was unternimmst du, wenn sie plötzlich keine Lust mehr hat?“

„Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist, aber ich glaube, dass man Kinder manchmal ein wenig zu ihrem Glück zwingen muss, sonst gewinnt der innere Schweinehund, was sie später zutiefst bereuen.“ Dabei dachte sie daran, dass ihre Mutter ihr immer erlaubt hatte, die Sportarten und Musikinstrumente auszuprobieren, die sie gerade reizten. Dadurch hatte sie vieles ausprobiert, konnte aber nichts richtig. „Hast du nicht auch einmal ein Instrument gespielt?“

„Eine Weile“, er lachte künstlich und zu laut. „Ich habe alles verlernt.“

Plötzlich hatte er es eilig, ihr Büro zu verlassen.

Irene schaute ihm hinterher, seufzte und begann die E-Mails abzuholen.

Nach einer guten Stunde ging sie in die kleine Teeküche und machte sich einen Cappuccino. Sie erschrak, als Stella unvermutet neben ihr auftauchte.

„Hi!“, grüßte sie.

Irene wich einen Schritt zurück.

Stella musterte sie. Was wollte sie? Sie versperrte Irene den Weg.

„Guten Morgen“, sagte sie betont fröhlich. „Kann ich etwas für dich tun?“

Stella legte ihren Zeigefinger quer über den Mund. „Psst.“ Sie sah sich suchend nach hinten um. „Er darf uns nicht hören.“

„Was soll das?“

„Nicht so laut“, flüsterte Stella. „Bitte. Ich muss mit dir reden. Es ist wichtig.“ Sie drückte ihr einen klein zusammengefalteten Zettel in die Hand. „Bitte.“ Sie schaute Irene flehend an. Als diese nicht reagierte, machte sie kehrt und ging weg.

Irene flüchtete sich in ihr Büro. Ihr Herz klopfte, und sie spürte Wärme in sich aufsteigen. Mit zitternden Fingern faltete sie das Papier auseinander.

„12.30 Uhr, Hellers Krug“ stand darauf.

Irene wusste nicht, was sie davon halten sollte. Hatte Stella Leon in eine Falle gelockt und wollte sie nun auch loswerden? Oder hielt sie Leon irgendwo gefangen und musste Irene aus dem Weg räumen, bevor sie ihn wieder frei ließ?

Klang wenig plausibel.

Sollte sie hingehen?