Nachdem Kofi ihren Laden verlassen hatte, konnte Anna nicht anders: Zusammen mit Kim ging sie hoch in ihre Wohnung und schaltete das Fernsehen an. Sie hatten Glück, NDR Niedersachsen brachte eine Sondersendung aus Holzminden.
Vor dem Haus, in dem offenbar Angela Jänicke lebte, stand ein blonder Reporter und sprach in ein wuscheliges Mikrofon.
Offensichtlich musste er in die Sonne schauen, denn er kniff ständig die Augen zusammen, was ihn ziemlich verpeilt wirken ließ. „In diesem Haus verbrachte Kelvin Jänicke die ersten sieben Jahre seines Lebens. Hier lernte er laufen.“ Die Kamera schwenkte zur Seite. „In diesem Sandkasten backte er seine ersten Sandkuchen. Seine Mutter, Angela Jänicke, sagte uns, dass er stundenlang an einer Burg mit Türmen und Verliesen bauen konnte, in der er dann seine Ritter und seine Matchboxautos aufstellte.“ In einem kleinen Fenster in der rechten oberen Ecke wurde ein Bild von Angela Jänicke eingeblendet. Sie hatte sich stark geschminkt und trug ein schwarzes, glänzendes Halstuch.
Der Reporter verschwand abrupt aus dem Bild, stattdessen tauchte der Moderator im Studio auf. Er begrüßte einen Mediziner als Gast und fragte ihn danach, wie Kelvin starb.
„Als ob du das nicht längst weißt.“ Anna ärgerte sich über das scheinheilige Getue. „Von wegen Aufklärung, ihr wollt nur die Bilder von dem toten Jungen noch einmal zeigen.“
Sie hatte Recht. Zuerst zeigten sie das Folienbündel, das Kelvin enthielt, von oben. Dann zoomten sie seinen Körper heran und fuhren in Großaufnahme von den Füßen hinauf bis zum Kopf. Immerhin wurde das Bild um sein Geschlechtsorgan herum unscharf, dafür verharrte die Kamera unglaublich lange über dem Gesicht.
„Wo haben die diese Aufnahmen überhaupt her? So etwas sollte verboten werden.“
„Bist du böse auf mich, Anna?“ Kim rutschte näher an sie heran.
„Nein, Mausebär, auf dich nicht. Nur auf die Leute im Fernseher. Ich mache ihn am besten aus. Wollen wir etwas spielen?“
Kim sprang auf und lief zum Regal. Sie zog eine Schachtel heraus und brachte sie zum Tisch. Anna hatte inzwischen das Fernsehgerät ausgeschaltet und zwei Gläser Orangensaft eingegossen.
„Was hast du da für uns?“
„Qwirkle.“
„Das macht Spaß.“
Kim zog sechs Spielsteine aus dem Beutel. „Ich fange an“, rief sie, noch bevor Anna ihre Steine überhaupt aufgestellt hatte. Sie war noch viel zu sehr mit den Bildern des toten Jungen beschäftigt. Sie selbst betrachtete das Leben als etwas unendlich Wertvolles. Sie hielt es mit Siegmund Freud, der gesagt hatte: „In dem Augenblick, in dem ein Mensch den Sinn und den Wert des Lebens bezweifelt, ist er krank.“ Wie viel kränker musste jemand sein, der vorsätzlich tötete? Noch dazu ein Kind?
„Du bist dran!“
Rasch legte Anna drei Steine an. Wie immer lag Kim schnell vorne. Sie spielten bereits die dritte Runde, als es klingelte.
„Das ist Mama.“ Kim hüpfte zur Tür.
Nachdem sie zu dritt noch zwei Durchgänge gespielt hatten, war Kim so müde, dass sie sich auf dem Sofa zusammenrollte und einschlief.
Anna und Irene schlichen sich in die Küche, wo Anna einen Kaffee aufsetzte. Die beiden Frauen standen nebeneinander am Küchenfenster und schauten auf die Straße hinaus.
Anna erzählte ihr von den Fotos von Kelvins Leichnam, die sie im Fernsehen gezeigt hatten.
„Dabei sieht hier bei uns alles so normal aus, so friedlich, so wie immer.“ Irene lehnte ihre Stirn gegen die Scheibe. „Ich kann es nicht fassen. Da läuft jemand herum, der unsere Kinder von der Straße wegfängt, aus irgendeinem irren Grund in Folie einwickelt und dann wegwirft.“
„Wer macht so etwas und warum?“
„Wieso wickelt er sie in Folie ein? Was macht er vorher mit ihnen? Warum sind sie nackt?“
„Wer kann schon verstehen, was in einem Psychopathen vorgeht?“
„Ein Psychopath!“ Irene schüttelte den Kopf. „Ausgerechnet in Holzminden. So etwas passiert sonst nur im Fernsehen!“
„Oder in New York!“
„Hier drehen alle komplett durch“, sagte Irene. „Vor einer halben Stunde hat die Ballettschule angerufen. Die Aufführung am Sonntag wurde abgeblasen. Die Gefahr sei zu groß, haben sie gesagt.“
Im ersten Moment wusste Anna nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Einerseits erschien es ihr nachvollziehbar. Die Tanzschule lädt zu einer Vorführung. Auf dem Rückweg wird wieder ein Kind entführt, egal, ob ein Zuschauerkind oder eines der Tanzkinder, für die Tanzschule wäre das der Mega-Gau. Andererseits, war es richtig, wenn alle sich nach einem Irren richteten, sich von ihm einschränken ließen? Konnte man nicht einfach dafür sorgen, dass die Kinder behütet wurden?
Und wenn der Typ, ganz unauffällig, im Publikum saß, wenn er ein Kind wegholte, das, zum Beispiel, zur Toilette ging? Anna bekam eine Gänsehaut.
Jeder Mensch, der ihr auf der Straße begegnete, im Fahrstuhl oder in ihrem Laden, konnte der Psychopath sein. Oder auch jede? Wäre eine Frau dazu in der Lage?
Anna sagte: „Kim hat sich so sehr darauf gefreut. Wann willst du es ihr sagen?“
„Sie wollen es verschieben.“
„Verschieben? Sie nennen es verschieben, meinen aber ausfallen lassen, oder? Auf wann denn?“
Irene ging zur Küchenzeile und goss zwei Tassen Kaffee ein. „Auf danach, was immer das heißen soll.“
„Man darf gar nicht darüber nachdenken. Was ist, wenn es nie zu Ende geht? Wenn als Nächstes die tote Emma gefunden wird und dafür ein anderes Kind verschwindet und danach wieder eines und noch eines? Was ist, wenn die Polizei den nie findet? Wenn er unaufhaltsam weitermacht?“ Ihre Stimme wurde ständig leiser.
Irene setzte den Gedanken fort. „Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis es Kim trifft.“
Anna legte ihr einen Arm um die Schulter. „Daran darfst du nicht einmal denken. Die Polizei ist ihm auf den Fersen, da bin ich sicher. Die verraten uns bloß nicht alles.“
„Auf mich wirken die etwas unkoordiniert.“
„Einer von ihnen hat Kim heute nach Hause gebracht.“
Irene erschrak. „Wieso? Befand sie sich in Gefahr?“
„Nein, überhaupt nicht.“ Anna informierte Irene kurz über den Vorfall in der Schule.
Nachdem der Kaffee durchgeblubbert war, setzten sich die beiden Frauen an den Küchentisch. Zuerst schwiegen sie sich an, jede in ihre Gedanken versunken. Dann begann Anna, von Kofi zu erzählen. Von seinen braunen Augen, seinen erstaunlich weißen Handflächen, die er immer offen nach oben hielt, wenn er etwas beteuerte, und von seinem warmen Lächeln, das an den Augen begann und sich über das ganze Gesicht ausbreitete, bis seine strahlend weißen Zähne ihr entgegenleuchteten.
Irene musterte das Erscheinungsbild ihrer Freundin, dann sagte sie: „Du bist verliebt.“
„Ich doch nicht. Er ist viel jünger als ich.“
„Wie viel denn?“
„Zwei oder drei Jahre mindestens.“
„Unmöglich, das sehe ich ein. Schlag ihn dir aus dem Kopf. Der ist ja noch ein Kind, im Vergleich zu dir.“
Anna schaute sie verblüfft an.
„Guck nicht so. Das war ein Scherz. Anna, zwei Jahre sind völlig unerheblich.“
„Was du immer redest. Ich bin überhaupt nicht verliebt, höchstens ein kleines bisschen verknallt. Wie sieht es denn mit Leon aus?“
„Lenk nicht ab. Du könntest mal wieder einen Liebhaber gebrauchen.“
„Liebhaber, wie das klingt. Ich bin keine fünfzigjährige Witwe auf Kur. Weißt du etwas über Leon? Wie läuft es in der Firma?“
„Es gibt nichts Neues, gar nichts. Leon ist wie vom Erdboden verschluckt. Das Geschäft läuft mehr als mau. Ohne Leon fehlt der Drive.“ Irene seufzte. „Außerdem ist die Stimmung ziemlich auf dem Tiefpunkt. Ich bin so froh, dass jetzt erst einmal Wochenende ist.“
„Leon ist eben die Triebfeder, es ist seine Firma, seine Idee, sein Leben.“
Anna beobachtete sie, sagte aber nichts.
„Die Leute sind so undankbar. Oliver und Stella wollen @dospasos schon unter sich aufteilen. Stell dir das vor. Kaum ist er ein paar Tage nicht da, streiten sie sich, wer Chef wird. Er hat sie erst vor zehn Monaten als Partner aufgenommen, und nun das.“
„So ganz uneigennützig war das nicht. Hatte er sich nicht etwas übernommen mit dem Kauf und dem Umbau des Katzentorhauses?“
„Ach was, er hätte sowieso Partner gebraucht. Allein ist das gar nicht zu stemmen.“
Anna wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. In ihren Augen war Leon ein Arsch, ein geldgeiler, aalglatter Wichser, der ununterbrochen und ausschließlich und andauernd an seinen eigenen Vorteil dachte. Außerdem sah er kacke aus.
Allerdings hatten sie das alles schon mehr als einmal diskutiert, wobei Anna andere Wörter verwendet hatte, um ihren Eindruck von Leon wiederzugeben. Irene hatte sich nie darauf eingelassen, ihn und seine Handlungen auch nur ein einziges Mal mit Annas Augen zu betrachten. Sie beschloss, das Thema zu verschieben. „Hast du denn diese Lagerhalle endlich verkauft?“
„Ach was, die wollen erst einen Termin bei Leon, weil es angeblich noch viele Details zu klären gibt. Vorher unterschreiben sie nichts.“
„Kann dieser Nussbaum ihn nicht vertreten?“
„Oliver? Der kümmert sich nur um die Vertragsgestaltung. Das macht auf die meisten Kunden keinen Eindruck. Wenn Leon sein Werbekonzept auf den Tisch legt, Hochglanzdrucke, interaktive Websites, Briefpapier und Visitenkarten aus Büttenpapier, dann sehen die Kunden ihre neue Firma plastisch vor sich, dann gewinnt sie Kontur und wird Wirklichkeit.“
„Dann unterschreiben sie? Nur weil es einen Flyer und eine Website gibt?“
„Klar. Sie haben mit mir eine Location gefunden, und Leon gibt ihnen die Vision, zeigt ihnen, was daraus werden kann.“
„Werden kann, noch genauer: eventuell werden könnte, er kann doch nicht hellsehen.“
„Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, er hat ein gutes Gespür für Menschen, für das, was sie antreibt. Seine Konzepte treffen meistens direkt ins Herz der Kunden.“
„Meistens?“
„Naja, niemand ist unfehlbar.“
„Also hat es schon mal Reinfälle gegeben?“
„Worauf willst du hinaus?“
„Hat es Reklamationen gegeben?“
„Aber nichts Bedeutendes.“
„Nicht bedeutend? Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass etwas, das für dich unbedeutend ist, für einen anderen eine Katastrophe sein könnte? Vielleicht ist das die Erklärung für Leons Verschwinden.“
„Du denkst nicht, dass er etwas mit den entführten Kindern zu tun hat?“
„Nein, denkst du das?“
Irene lehnte sich zurück. „Nein, nein, natürlich nicht, nur manchmal …“
„Nur manchmal?“
„Manchmal frage ich mich, ob er untergetaucht ist, untertauchen musste.“
„Weswegen?“
„Wenn ich das wüsste. Vielleicht hat er einen Fehler gemacht?“
„Einen Tippfehler auf dem Flyer oder einen Zahlendreher auf der Website?“ Anna wollte die Freundin aufheitern, aber es gelang ihr nicht.
„Manche Kunden vertrauen der Firma, vertrauen Leon wirklich große Summen an, manchmal mehrere Millionen.“
„Du meinst, Leon hätte etwas unterschlagen?“
„Das hätte die Polizei herausgefunden, oder? Die haben seinen Computer überprüft und alle Unterlagen.“
„Haben sie etwas gefunden?“
„Nichts. Das muss aber nichts heißen.“
„Wieso nicht? Die haben Profis für so etwas bei der Polizei.“
„Schon, aber die geben sich keine richtige Mühe. Einmal wegen der Kinderentführungen und zum anderen, weil es keinen Beweis für eine Straftat gibt. Wenn es nach der Polizei geht, hat Leon das Recht, nicht zur Arbeit zu kommen. Ich glaube, die gehen davon aus, dass er mit einer Freundin nach Mauritius oder auf die Osterinseln geflogen ist und es sich gutgehen lässt.“
„Du bist aber hier.“
„Und Stella auch!“ Irene hielt sich den Mund zu.
„Wieso Stella?“
Irene zuckte mit den Schultern.
„Nun red schon.“
„Ich dachte bis heute Mittag, die beiden hätten was miteinander, da war ich mir völlig sicher. Und dann …“
„Was? Lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“
„Sie hat mich zum Mittagessen eingeladen.“
„Hatte sie was gutzumachen?“
„Sie hat mir erzählt, dass Oliver Nussbaum sie angestachelt hätte, mich aus der Firma zu vergraulen.“
„Warum das?“
„Verletztes Ego.“
„Wieso hat sie es gemacht?“
„Angeblich, weil sie in Oliver verliebt ist.“
„In einen Anwalt?“
„Außerdem behauptet sie, dass er einen Schlüssel zu Leons Büro und seiner Wohnung besitzt. Egal, mir ist da gerade noch etwas Wichtigeres eingefallen.“
„Nicht egal, du musst ihn zur Rede stellen.“
„Werde ich ja. Hör zu. Wir hatten eine Beschwerde, letzte Woche Mittwoch muss das gewesen sein. Da ist dieser Personal Trainer, Hanske, Detlef Hanske in mein Büro gestürmt.“
„Hanske? Ist das der Judotrainer von Kelvin? Der nicht richtig auf den Jungen geachtet hat?“
„Genau der.“
„Der war Kunde bei euch?“
„Er hat sich als Personal Trainer selbstständig gemacht. Er will begabte Kinder und deren Eltern betreuen, sodass die jeweiligen Talente optimal gefördert werden.“
„Dafür zahlen die Leute?“
„Er macht auch normale Fitnessangebote, Walking und so, Muskelaufbau nach Schlaganfall.“
„Okay, Werbekonzept Schwarzenegger, kann ich mir vorstellen. Was ist schiefgegangen?“
„Kann ich dir nicht genau sagen. Leon hat ihn sofort in sein Büro gebeten. Dort hat Hanske noch ein bisschen herumgebrüllt. Nach einer guten Stunde ist er weggegangen, ohne sich bei mir zu entschuldigen oder wenigstens zu verabschieden.“
„Benehmen ist Glückssache.“
„Weißt du, er hat sich auf meinen Schreibtisch gestützt und hat mich angebrüllt. Dabei sind mir seine Arme aufgefallen, völlig zerkratzt, und ich glaube, im Gesicht hatte er auch Kratzspuren.“
„Vielleicht besitzt er eine Katze.“
„Kann ich mir bei dem nicht vorstellen. Bekommt man solche Kratzer vom Judo? Vermutlich haben die Kinder ihn so zugerichtet, beim Training oder beim Spielen.“
Die beiden Frauen sahen sich an.
„Denkst du, was ich denke? Kinder?“
Irene schien nicht überzeugt. „Abgesehen von diesem einen Auftritt ist er ein sehr netter Mann.“
„Und Kinderschänder.“
„Wie?“
Anna sprang auf und wühlte im Altpapierstapel. „Hier ist der Tägliche Anzeiger vom Donnerstag.“ Sie blätterte. „Da ist es. Detlef Hanske.“ Sie las ein paar Zeilen, bevor sie Irene die Zeitung hinlegte. „Leute haben sein Haus beschmiert, weil er schon mal ein Kind missbraucht hat.“
Irene las den Artikel sorgfältig. „Moment, Moment, das stimmt so nicht. Hier steht, dass er angezeigt und nach umfangreichen Ermittlungen freigesprochen wurde.“
„So freigesprochen, dass er danach umziehen musste.“
Irene faltete die Zeitung wieder zusammen. „Solch einen Vorwurf wirst du nicht mehr los, selbst wenn du absolut unschuldig bist. Der klebt an dir wie Hefeteig. Sobald abermals etwas passiert, heißt es, frag doch mal den Hanske.“
„Du magst recht haben. Kann sein, er ist unschuldig. Möglicherweise auch nicht. Du solltest der Polizei einen Tipp geben.“
„Ich weiß nicht.“
„Was hast du zu verlieren?“
„Ich? Gar nichts. Aber ich kann doch nicht einfach jemanden verdächtigen.“
„Das brauchst du nicht. Du berichtest von deiner Beobachtung. Für die Anschuldigungen ist die Polizei zuständig.“