Es war komplett idiotisch, aber Irene konnte nicht anders. Sie musste sich vergewissern.
Sie hatte ihre Handynummer auf ihr Kopfkissen gelegt. Wenn Kim wach wurde, käme sie ins Schlafzimmer ihrer Mutter, um sich bei ihr anzukuscheln. Also würde sie die Nummer entdecken und könnte sich melden, falls sie Angst haben sollte.
Das hatten sie öfter so gemacht, seit Irene mit Leon liiert war. Was blieb ihr weiter übrig?
Sie zog die dunkelblaue Regenjacke über einen schwarzen Pullover. Auch ihre Jeans waren schwarz. Nur die Turnschuhe leuchteten hell. Darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Es war ihr wichtiger, im Notfall schnell laufen zu können.
Im Notfall, wie sich das anhörte.
Sie hatte sich eine leistungsstarke Taschenlampe eingesteckt. Bevor sie das Haus verließ, schaute sie noch einmal in Kims Schlafzimmer. Sie lag auf dem Rücken und stieß leise Schnarchgeräusche aus. Bekam sie einen Schnupfen?
Leise schloss Irene die Tür, schlich die Treppe hinunter und brach auf.
Sie hatte beschlossen, das Fahrrad zu nehmen, für alle Fälle. Anhand ihres Autos wäre sie leicht zu identifizieren.
Doch als sie die alte Klapperkiste jetzt aus der Garage schob, begann sie zu zweifeln. Es war empfindlich kühl geworden, und die Mäntel der Reifen waren rissig. Wenigstens befand sich noch genügend Luft darin.
Sie radelte los. Anfangs ging es bergab, so dass sie angenehm schnell vorankam. Nach der ersten Steigung ging ihr Atem pfeifend. Glücklicherweise hatte sie den Wohnblock, in dem Leon lebte, beinahe erreicht. Sie lehnte das Fahrrad an eine Laterne und ging zum Haus.
Nur in einem Fenster auf dieser Seite brannte Licht. Bei den Einfamilienhäusern gegenüber lag alles im Dunkeln. Scheinbar hatten die Leute die Jalousien heruntergelassen.
Ihr sollte das recht sein.
Sie schloss die Haustür auf und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. Es roch nach Reinigungsmitteln, sowohl in der Kabine als auch auf dem Korridor.
Zielstrebig ging sie zu Leons Wohnungstür, drehte den Schlüssel herum, schlüpfte hinein und klappte die Tür hinter sich zu. Erst dann schaltete sie die Taschenlampe an. Hier drinnen roch es nach abgestandener Luft.
Ohne sich lange aufzuhalten, ging sie ins Schlafzimmer. Alles sah noch so aus, wie bei ihrem ersten Besuch, jedenfalls so weit sie das beurteilen konnte. Sie ließ sich auf alle viere nieder und untersuchte das Bettlaken. Zentimeter für Zentimeter. Abgesehen von ein paar Haaren, dunkelbraun und ein wenig gelockt, die eindeutig von Leon stammten, und einem benutzten Taschentuch fand sie nichts. Keinen einzigen Fleck. Keine fremden Haare, schon gar keine glatten, blonden, die sie Stellas Bob zuordnen konnte.
Sie setzte sich auf den Futonrand und atmete durch. Ein endgültiger Beweis war das nicht. Schließlich konnten sie auch in der Badewanne oder im Wohnzimmer … Allerdings lagen hier die Handtücher. Sie überwand sich und untersuchte auch die. Nicht ein einziges Haar, an keinem der Badelaken.
Sie bekam beinahe einen Herzinfarkt, als das Telefon läutete und kurz darauf Leons Stimme durch die Dunkelheit klang.
„Hi, ich bin nicht zuhause. Sprich nach dem Piep, sofern du nicht zur dunklen Seite der Macht gehörst.“
„Ich will mein Geld zurück“, sagte eine männliche Stimme ruhig. „Wenn die Tiere nicht innerhalb von 24 Stunden bei mir eintreffen, werde ich an Ihrem Anwalt ein Exempel statuieren lassen. Sollte Sie das nicht ausreichend beeindrucken, nehme ich mir als Nächstes ihre blonde Partnerin vor. Haben wir uns verstanden?“
Irene saß noch immer zitternd auf dem Boden. Die Stimme kannte sie. Woher?
Von welchen Tieren sprach er?
Plötzlich wusste sie, wer angerufen hatte. Der Kerl, der am Donnerstag in ihrem Büro einen auf dicke Hose gemacht hatte, als die beiden Polizisten da waren.
Sie rappelte sich auf und verließ die Wohnung.
Sie brauchte eine Viertelstunde bis zum Katzensprungtor. Auf den Straßen waren noch Leute unterwegs. Eine Gruppe Jugendlicher hatte sich um den Brunnen versammelt. Sie hörte, wie Bierdosen geöffnet wurden.
Ihr Fahrrad stellte sie im Durchgang unter der Informationstafel über die Synagoge ab, die sie schon so oft gelesen hatte, wenn sie zum Luftschnappen heruntergekommen war.
Die Treppenstufen knarrten noch lauter als sonst.
Während sie ihren Rechner hochfahren ließ, ging sie in Stellas Büro. Möglichst leise zog sie die Schubladen heraus und prüfte den Inhalt. Handgeschriebene Schriftstücke las sie an. Dann fand sie, wonach sie gesucht hatte. Ein Foto von Oliver Nussbaum, verkehrt herum und ganz zu unterst. Ein Foto von Leon fand sie nicht. Natürlich war das kein Beweis, aber es war immerhin ein Beleg, der darauf hinwies, dass Stella die Wahrheit gesagt hatte.
Sie hoffte, dass sie alles wieder ordentlich zurückgelegt hatte, und schlüpfte aus dem Zimmer. Auf dem Flur horchte sie.
Schritte?
Fehlalarm.
Sie gingen draußen vorbei.
Als Nächstes nahm sie sich Olivers Büro vor. Die Beethovenbüste schaute vom obersten Regalbrett düster auf sie herab. Auf der Schreibtischplatte lagen nur zwei CDs. David Garretts „Legacy“ und „Night of Hunters“ von Tori Amos. Sie hatte bemerkt, dass Oliver in seinem Büro beinahe ständig einen Knopf im Ohr hatte und Musik hörte. Allerdings hätte sie nicht gedacht, dass es sich dabei um Klassik handelte.
Alle Schubladen waren abgeschlossen. Dass sein Computer passwortgeschützt war, wusste sie sowieso. Mist. Sie schaltete das Licht aus und verließ das Zimmer.
Plötzlich knarrten die Treppenstufen. Schlüssel klapperten. Kurz darauf schwang die Eingangstür auf. Irenes Gedanken überschlugen sich. Sie hatte jedes Recht hier zu sein, ebenso wie die beiden anderen. Sie brauchte sich nicht zu verstecken, mal abgesehen davon, dass sie vor Olivers Büro stand. Hier hatte sie, genau genommen, nichts zu suchen, wenn er nicht da war. Wo konnte sie hin? In die Teeküche? Wie sollte sie erklären, dass sie im Dunkeln in der Teeküche stand?
Sie beschloss, sich zu fürchten.
Vielleicht war es Stella?
Schwere Schritte gingen auf ihr Büro zu.
Keine Chance. Das war Oliver.
Hoffentlich.
Oder Leon.
Hauptsache nicht der Kerl vom Telefon.
Wer auch immer es war, er kannte sich hervorragend aus.
„Was für eine Schlamperei.“ Das war eindeutig Oliver. Wieso ging er in ihr Büro?
„Noch nie was von Energiesparen gehört.“
Was machte er da? Irene hörte Tasten klappern. Wusste er ihr Passwort?
Gerade hatte sie beschlossen, zu ihm zu gehen und ihn zur Rede zu stellen, als der Anrufbeantworter anlief.
„Sie haben drei neue Nachrichten. Nachricht eins, heute 17.41 Uhr. ,Guten Tag, Frau Rugenstein, Böker hier, Alfred Böker, ich bestätige den Termin für Dienstag um zehn. Danke und schönen Feierabend.‘ Nachricht zwei, heute 20.56. ,Ich will endgültig mein Geld zurück. Wenn die Miezen nicht innerhalb von 24 Stunden bei mir eintreffen, werde ich an Ihrem Anwalt ein Exempel statuieren lassen. Sollte Sie das nicht ausreichend beeindrucken, nehme ich mir als Nächstes ihre blonde Partnerin vor. Alles klar? Nachricht gelöscht.‘
Irene war zusammengezuckt, als sie die Stimme wiedererkannte.
„Nachricht drei, heute …“
Irene konnte nicht mehr verstehen, was der dritte Anrufer wollte, denn Oliver schimpfte laut vor sich hin. „Dieses Sackgesicht … wird … mich kennenlernen. Ich lass mich … doch von so einer … Arschgeige nicht bedrohen.“ Die Sätze waren unterbrochen. Scheinbar lief Oliver in ihrem Büro auf und ab. Dann hörte sie wieder Tippgeräusche auf der Tastatur. Kurz darauf sprang der Drucker an.
Sollte sie es wagen, sich hinauszuschleichen?
Bevor sie sich entscheiden konnte, trat Oliver auf den Flur. Er schaltete das Licht aus und verließ das Büro auf direktem Weg.
Irene stützte sich mit beiden Händen auf der Arbeitsplatte ab. Das war viel zu aufregend für sie. Als unten die Haustür zuklappte, zuckte sie noch einmal zusammen. Schnell rannte sie zu ihrem Bürofenster und sah hinaus. Oliver lief mit großen Schritten die Fußgängerzone hinunter.
Sie weckte den Computer und rief die Dokumente auf, die Oliver sich eben ausgedruckt hatte.
‚Seltsam, das sind die Dateien von Hanske und Körner. Was hatten die beiden mit diesem Anruf zu tun?‘
Vorsichtshalber druckte sie sie ebenfalls aus und studierte sie sorgfältig.
Dann schüttelte sie den Kopf. Das musste ein Irrtum sein. Wahrscheinlich waren das die Unterlagen, deretwegen Oliver ursprünglich gekommen war. Sicher hatte er den Anrufer sofort erkannt und brauchte keine Daten.
Sie rief sich seine Worte ins Gedächtnis zurück. Arschgeige und Sackgesicht. Sie lächelte über sich. Na klar, er hatte prompt gewusst, worum es ging und wer angerufen hatte. Nur sie tappte im Dunkeln.
Sie ging wieder zum Fenster.
Vielleicht hätte sie Oliver folgen sollen, statt hier herumzuschnüffeln.