Anna kochte vor Wut. Was fiel diesem schwarzen Polizeiarsch ein? Paul zu verdächtigen? Ausgerechnet Paul.
„Was guckt ihr mich so an?“
„Du bist wütend.“
„Ach was!“
„Du machst mir Angst“, sagte Paul. „Ich mag es nicht, wenn du herumschreist.“
„Ich weiß, entschuldige.“
„Ich dachte, du magst Kommissar Kofi!“, meinte Kim vorwurfsvoll.
„Im Moment jedenfalls nicht. Los, packt eure Sachen zusammen. Wir müssen los. Auftraggeber lässt man nicht warten.“
„Ich fahre nicht mit“, verkündete Paul. „Ich muss zum THW. Winterreifen aufziehen. Außerdem kann ich den Auftraggeber nicht leiden, überhaupt nicht ein bisschen.“
Anna nutzte die Gelegenheit und informierte Pauls Mutter darüber, dass die Polizei eventuell mit Paul und ihr sprechen wollte. Frau Schreiber erschrak sehr und erkundigte sich, ob er etwas angestellt habe. Doch Anna konnte sie beruhigen. Er wurde nur als Zeuge gebraucht, jedenfalls hoffte sie das. Frau Schreiber sollte sich keine unnötigen Sorgen machen.
Kim saß auf dem Rücksitz in der Mitte und staunte zusammen mit Anna über die dicken Bäume, welche die Einfahrt zum Varieté Ozelot säumten. Da heute keine Veranstaltung anstand, war der große Parkplatz vor dem Haupteingang leer. Anna hielt direkt vor dem Eingang. Sie konnte nicht sagen, was dieses Gebäude früher beherbergt hatte. Die Pferde? Schon möglich.
Sie suchte nach einer Klingel, da öffnete sich das Portal.
„Guten Tag, herzlich willkommen im Varieté Ozelot“, sagte Gregor Körner. Er trug einen Kittel über einer Jeans, den er nicht zugeknöpft hatte, sodass Anna auch das ausgewaschene T-Shirt sehen konnte, das über dem Bauch leicht spannte. Scheinbar hatte er ihren Blick bemerkt. „Ich habe noch längst nicht alle Räumlichkeiten durchforstet. Wenn keine Feiern stattfinden, krame ich immer in den anderen Gebäudeteilen herum. Heute war ich im Keller. Schauen Sie mal, was ich gefunden habe.“
Er zog eine kleine Schachtel aus der Kitteltasche und reichte sie Anna.
Sie nahm sie vorsichtig und drehte sie herum. Trotz des offensichtlichen Alters der Dose waren die Intarsien völlig eben. „Was ist das? Eine Spieluhr?“
„Klappen Sie sie auf. Sie werden es hören.“
„Das ist ‚Für Elise‘, klingt ein wenig, hm, eingerostet.“
„Ich wüsste gern, wem sie gehört hat. Gewiss einer Frau. Wer hat sie ihr geschenkt oder hat sie sich die Dose selbst gekauft, als Andenken? Schade, dass Gegenstände keine Geschichten erzählen können.“
‚Eine hübsche Idee‘, dachte Anna.
Kim schmiegte sich an ihre Hand und fragte: „Darf ich sie auch mal halten?“
Gregor Körner schien Kim erst jetzt zu bemerken. „Wen haben wir denn da?“
„Das ist meine Assistentin, Kim. Sie ist meine Fachfrau für Kindergeschmack.“
Er war eindeutig verblüfft, lachte dann aber laut. „Klingt nach einer verdammt guten Idee. Darf ich Sie hereinbitten, meine Damen?“
Anna und Kim folgten ihm in einen düsteren Saal. Körner schaltete die Deckenlichter an. Gemütlich wirkte das nicht. Der Raum war recht groß, vielleicht fünfzehn Mal zwanzig Meter. Am Kopfende gab es eine kleine Bühne, etwas erhöht, mit einem roten Vorhang, der jetzt auf einer Seite zusammengerafft war. Davor standen runde Tischchen mit Lampen, auf deren Schirmen Nummern aufgedruckt waren. Es roch ein wenig muffig.
„Wo ist der Tisch für das Buffet?“
„Hier drüben!“ Körner dirigierte sie nach rechts. Ein kurzer Tresen grenzte an eine lange Tischplatte an, die mit schwarzem Samt abgedeckt war, der bis auf den Boden reichte.
‚Vermutlich eine Malerplatte‘, dachte Anna.
„Die Küche befindet sich hinter dem Tresen, eignet sich aber nicht wirklich zum Kochen.“
Anna warf nur einen kurzen Blick hinein. Dann prüfte sie die Standfestigkeit des Buffettisches und wunderte sich, als er sich nicht bewegte. Sie hob den Samt an und entdeckte, dass darunter gedrechselte Holzbeine zum Vorschein kamen.
„Die Tische sind leider etwas wurmstichig, so dass ich sie abdecken muss, aber sobald ich sie habe aufarbeiten lassen, werden sie dem Raum Stil verleihen.“
Anna sah sich um. „Das wirkt alles ziemlich … hm, steril, und kühl ist es hier drinnen auch.“
„Sie haben recht. Heizen muss ich unseligerweise schon wenigstens zwei Tage vor der Veranstaltung. Für die Dekoration habe ich Hexenbesen, Mistelzweige und … was macht sie da?“
Kim war auf die Bühne geklettert und übte ihren Katzenschritt.
„Sie tanzt Ballett.“
„Kinder!“
„Stört es Sie? Soll ich sie herunterrufen?“
„Nein, die meisten Kinder lieben es, auf der Bühne herumzustolzieren und sich in Pose zu stellen. Ballett hat noch keines geübt.“
„Ich habe Gläser aufgetrieben, die an Zaubertrankkessel erinnern, jedenfalls, wenn man sich Mühe gibt. Außerdem kann ich vom Theater in Hameln eine große Kristallkugel ausleihen. Dafür bräuchten wir einen Tisch, möglichst mit einem unsichtbaren Stromanschluss. Die Kugel verändert ihre Farbe, und es wabert irgendetwas Rauchartiges darin herum.“
„Sehr schön, dann können wir dazu noch die Nebelmaschine einsetzen.“
„Wo sind die Ozelots?“, fragte Kim plötzlich.
Gregor Körner drehte sich zu ihr um und zeigte auf die Wand auf der linken Seite des Raumes. Fast über die gesamte Länge spann sich ein Mosaik mit einer Dschungellandschaft, in dessen Mitte zwei Ozelots zu sehen waren. Einer ruhte auf einem Ast, während der andere auf einem Felsen stand und Wache hielt.
„Die habe ich schon gesehen. Ich meine die echten.“
„Oh, die sind in einem Zwinger im Park.“
„Darf ich sie streicheln?“
„Auf keinen Fall, das sind gefährliche Raubkatzen.“
„Darf ich sie wenigstens ansehen?“
Anna konnte sehen, dass Körner diese Frage nicht behagte.
„Das geht auch nicht.“
„Warum nicht? Sind sie krank?“
Erleichtert nickte der Mann.
„In gewissem Sinn, ja. Sie haben gerade ein Baby bekommen und brauchen Ruhe.“
„Ich kann ganz leise sein.“
„Das glaube ich dir, aber es geht trotzdem nicht.“ Er wandte sich an Anna. „Das ist eines der Probleme, an das ich nicht gedacht habe. Kinder neigen dazu, herumzustromern. Es ist äußerst schwierig, sie dazu zu bewegen, nur diesen Raum und im Sommer das Stück Garten dort drüben zu nutzen. Sobald man den Rücken dreht, verschwinden sie im gesamten Parkgelände.“
„Warum ist das ein Problem für Sie?“
„Weil ich gar nicht wissen möchte, wie viele Möglichkeiten es hier auf dem Gelände gibt, sich in Gefahr zu bringen. Angefangen mit den Teichen über baufällige Gebäude, altersschwache Bäume, die zum Herumklettern einladen, bis hin zu Höhlen und Kellern, von denen ich noch nicht einmal weiß. Wahrscheinlich werde ich nicht darum herum kommen, den öffentlich zugänglichen Bereich einzuzäunen.“
Anna fragte sich, ob er sich wirklich um die Kinder und die Unfallgefahr sorgte, oder ob er einfach nicht wollte, dass die Kinder auf seinem Privatgelände herumliefen. Das war sein gutes Recht.
Oder hatte er etwas zu verbergen?