Die Praxis von Dr. Fishman erwies sich als ein moderner, ziemlich kleiner, eingeschossiger Bau an der Hundertsten Straße in der Nähe des Nora-Einkaufscenters. Die nördlichen Vororte von Indianapolis haben sich inzwischen bis zum Nora ausgedehnt.
Ich fuhr an dem Praxisbau vorbei nach Westen und bog in das Einkaufszentrum ein. Jetzt am Abend bestand das Problem nicht darin, einen Parkplatz zu bekommen, sondern den Wagen so zwischen anderen abzustellen, daß er nicht allein übrigblieb, wenn die Läden schlossen. Wenn ich zu lange aufgehalten würde, fände ich mein Auto zwangsläufig nackt auf einem Präsentierteller aus Asphalt vor. Und Streifenpolizisten haben ein Auge für so was, vor allem, wenn sie ihre Runde schon eine Weile machen und wissen, welche Wagen dem Personal der Geschäfte gehören. Und für eine Verhaftung bekommt so ein Wachtmeister Pluspunkte, die für die Beförderung zählen. Ich möchte mich eigentlich nicht unbedingt zum Pluspunkt dieser Nacht mausern. Obwohl es auch keine Katastrophe wäre, erwischt zu werden. Ich habe Freunde, die mich aus kleinen Schwierigkeiten befreien können. Aber das Leben ist so viel einfacher, wenn man sich bei seinen illegalen Aktivitäten gar nicht erst ertappen läßt. Polizisten - außer den paar, die ich ganz gut kenne, wie zum Beispiel Jerry Miller, mit dem ich zusammen zur High School gegangen bin - sind in erster Linie Fremde, die Pistolen bei sich tragen.
Und ich mag keine Pistolen. Ich selbst trage auch keine. Ich habe einmal auf einen Mann geschossen, als ich 1957 für die Wachgesellschaft Tomgrove arbeitete. Ich hatte damals die Nase ziemlich voll von denen - nach dreieinhalb Jahren-, und ich war noch jung und dumm. Sie sagten mir dort, ich solle eine Pistole tragen, also tat ich es.
Ich war beauftragt, einen Mann dingfest zu machen, der nachts etwas von einer Baustelle geklaut hatte. Als ich ihn stellte, schlug er mir ins Gesicht - mit einem Holzbrett. Aber nicht kräftig genug, um mich außer Gefecht zu setzen. Also habe ich ihm eine verpaßt. Er war nicht tot, aber tot genug, um irgend etwas in mir sterben zu lassen. Ich kam zu dem Schluß, daß von den verschiedenen Geschäften des NoraEinkaufszentrums der Drugstore wahrscheinlich am längsten geöffnet sein würde. Es dauerte zehn Minuten, bis ich endlich auf einem Parkplatz direkt davor stand und meine Ausrüstung ausladen konnte. Fotoapparat, Elektronenblitz, Handschuhe, Taschenlampe, ein paar einfache Haken und mein kleiner Dreibeinstuhl, an dem ein dünnes Seil befestigt war. Dann machte ich mich auf den Weg über den dunklen Parkplatz hinüber zu der Praxis.
Ich ging auf die Rückfront zu. Ich war ziemlich zuversichtlich. Die Praxis machte nicht den Eindruck, als gingen dort die verschiedensten Arten von Drogenabhängigen ein und aus; wahrscheinlich lagerten auch keine ansehnlicheren Vorräte von Drogen in den Giftschränken, die Begehrlichkeiten wecken konnten.
Die Frage war jetzt, welche Art von Sicherheitsvorkehrungen Fishman für erforderlich gehalten hatte. Meine Kenntnisse der verschiedenen Alarmsysteme waren solide, aber nicht mehr ganz auf dem neuesten Stand. Ich hatte recht gut Bescheid gewußt, solange ich noch als Wachmann tätig war, aber wenn ich es hier mit einem dieser technikbegeisterten, vorstädtischen Apparatemediziner zu tun hatte, dann standen mir Schwierigkeiten bevor.
Während ich innerlich schon zusammenschrumpfte, nahm ich die Fenster an der Rückseite des Gebäudes in Augenschein. Ich entschied mich für eines, das ich für ein Toilettenfenster hielt es saß höher als die anderen.
Mir kam zugute, daß das Haus so viele Fenster hatte. Eine Alarmanlage, die sie allesamt nebst den Türen und den Schränken überwachte, würde gewaltige Summen verschlingen.
Ich hoffte einfach, daß Fishman für so etwas noch nicht genug Geld gehabt hatte, als er den Bau hochzog.
Ich klappte meinen dreibeinigen Hocker unter dem höheren Fenster auf. Das freie Ende des Seils, das an einem der Hockerbeine hing, band ich mir an den Gürtel. Dann überprüfte ich das Fenster mit meiner Taschenlampe. Kein Hinweis auf irgendwelche Schutzvorrichtungen. Ich machte mich an die Arbeit.
Ein Haken und ein wenig Muskeleinsatz, und das Fenster war entriegelt. Ich war im Haus. Ich zog den Hocker an dem Seil auf das Fenstersims und klopfte vorsichtig den Schmutz ab, der noch an seinen Beinen hing. Dann holte ich ihn herein.
Falls ich irgendeinen Alarm ausgelöst hatte, dann arbeitete er lautlos. Ich schloß das Fenster. Ein kurzer Schwenk mit der Taschenlampe, und ich wußte, daß ich in der Damentoilette war.
Nicht zum ersten Mal. Ich fand die Tür und versuchte sie zu öffnen. Sie war verschlossen. Er schloß die Damentoilette ab.
Verwundert nahm ich das Schloß in Angriff. Aber vielleicht war das ein gutes Omen. Vielleicht war er ein Schließer und kein Scheißer.
Ich trat in die Halle ein und sah mich um. In wenigen Minuten hatte ich das Büro der Anmeldung gefunden. Ich ging hinein.
Ich war auf der Suche nach Akten, aber ich fand keine.
Zwei Türen führten aus dem Büro hinaus. Beide verschlossen.
Und im Nu geöffnet. Hinter der einen verbarg sich das Sprechzimmer. Hinter der anderen fand ich die Akten.
Ein Raum eigens für die Ablage, zugänglich sowohl vom Sprechzimmer als auch vom Büro der Arzthelferin aus. In der Mitte des Zimmers stand eine Batterie von Aktenschränken. Das Ganze war drehbar, so daß man von allen Seiten leicht herankonnte. Sehr modern.
Ich zögerte, bevor ich mich an die Schlösser des Aktenschranks machte. Sie könnten sich als das größte Risiko bisher erweisen. Falls sich zufällig besonders brisante Papiere oder Drogen in dem Raum befanden, waren die Chancen, daß sie elektronisch gesichert waren, beträchtlich. Mir würde dann nur wenig Zeit bleiben. Bevor ich mich also an die Arbeit machte, legte ich mir meinen Fotoapparat zurecht - für den Fall, daß wenige Sekunden entscheidend sein sollten.
Die meisten Detektive, die schriftliche Unterlagen fotografieren, besitzen dafür eine spezielle Ausrüstung. Ich werde nicht oft mit Industriespionage beauftragt, so daß ich mit dem auskommen muß, was ich habe. Mein Elektronenblitz zum Beispiel ist für diese Art von Nahaufnahmen viel zu hell. Aber statt mir einen anderen zu beschaffen, habe ich einen Filter darauf montiert, der ungefähr siebzig Prozent des Lichtes wegnimmt. So eignet er sich besser für Nahaufnahmen.
Außerdem benutze ich einen relativ unempfindlichen Film.
Ich öffnete den Schrank. Soweit ich feststellen konnte, hatte ich keinen Alarm ausgelöst.
Fleißige Hände sind eine Gabe des Herrn. Ich fand ›Crystal‹ in der ersten Ablage. Jeder Crystal hatte seinen eigenen Hefter.
Fleur, Leander und Eloise. Ich nahm sie mir nacheinander vor.
Breitete die Blätter auf dem Boden aus und fotografierte alle Papiere von beiden Seiten.
Nachdem ich mit den drei Crystals durch war, suchte ich nach Unterlagen für Graham, fand aber nichts. Das verwirrte mich für einen Augenblick. Ich wollte mehr über Estes Grahams Krankengeschichte wissen, also sah ich den Inhalt der anderen Auszüge des Schrankes durch. Dabei verfiel ich schon auf den Gedanken, es könne irgendwo noch weitere Unterlagen geben, vielleicht auch einen Archivraum mit Aufzeichnungen auf Mikrofilm. Aber als ich die Schrankbatterie einmal um sich selbst gedreht hatte, stieß ich auf einen ganzen Schrank mit der Aufschrift »Wilmer Fishman, senior«, und darin fand ich die Akten für sechs Grahams. Einen Mann, eine Frau und vier Kinder. Die Seiten waren dicht beschrieben, und das schon angegilbte Papier bot nur noch einen schwachen Kontrast zur Schrift. Ich betete, daß auf den Bildern noch etwas zu erkennen sein würde, und machte ein Foto nach dem anderen. Ein Blatt nach dem anderen kam an die Reihe, immer Vorder- und Rückseite.
Am Ende schwitzte ich, und die Batterien brauchten immer länger, um die Energie für den nächsten Blitz bereitzustellen.
Sie hatten eine harte Nacht hinter sich.
Nachdem ich mit dem letzten Graham fertig war, legte ich eine Pause ein und dachte darüber nach, ob es noch etwas geben könnte, worüber ich etwas wissen sollte. Ich schaute unter Olian nach und fand nichts. Darüber war ich im Grunde ganz froh, und schneller, als ich sie geöffnet hatte, schloß ich die Schränke wieder und verriegelte die Auszüge.
Mein nächstes Problem war der Weg hinaus. Ich zog den gleichen Weg in Erwägung, wie ich ihn hinein genommen hatte.
Der übliche Abgang. Aber durch das Fenster der Damentoilette zu kriechen, gefiel mir nicht recht. Dazu fühlte ich mich zu gut.
Zu erfolgreich. Ein verfrühter Optimismus riß mich mit. Also entschied ich mich für den ehrenhaften Weg hinaus. Ich ging durch die Eingangstür. Nachdem ich sie schließlich gefunden hatte.
Sie war zugeklinkt. Eine Tür, zwei Schnappschlösser. Er war ein Schließer. Ich konnte keine Drähte oder andere gefährliche Zeichen entdecken. Ich hatte es eilig, rauszukommen, wieder nach Hause zu kommen. Ich entriegelte die Tür und trat hinaus.
Auf dem Treppenabsatz schaute ich kurz zum Himmel auf.
Eine klare Herbstnacht. Mir war kühl wegen der Feuchtigkeit, die der Schweiß auf meiner Stirn hinterlassen hatte. Kühl und wohlgemut. Sauber gemacht. Mir war nach Frühling zumute. Ich wußte, daß mein Platz hier oben auf der Treppe war.
Um für einen imaginären Beobachter meinem Abgang die letzte Eleganz zu verleihen, drehte ich mich zur Tür um und tat so, als schlösse ich sie ab.
Plötzlich stand ich in hellem Lichtschein.
Ich erstarrte. Das Licht verschwand nicht. Jetzt reagieren!
Blitzschnell nachdenken!
»Charly?« fragte ich, drehte mich um, bluffte mit zitternden Knien.
»Nein«, sagte die Stimme. »Ich bin Eddie.«
»Ah, also gute Nacht, Eddie«, sagte ich und schritt die Stufen hinab auf das Licht zu. Es ruhte einen Augenblick auf mir und sank dann, der Lichtkegel beleuchtete jetzt den Bürgersteig vor mir.
»Gute Nacht, Sir«, sagte die Stimme. Eine hörbar alte Stimme. Und noch genauer bestimmbar. Die typische Stimme eines in die Jahre kommenden Wachmannes. Gott segne ihn.
Ich bog auf den leeren Parkplatz rechts von der Praxis ein und legte so viel Sicherheit in meinen Gang, wie ich konnte. Ich zitterte immer noch, aber ich hatte es geschafft.
Ein Blick zurück: Eddie setzte seine Runde fort.
Wahrscheinlich vom Einkaufszentrum angestellt und von Fishman zusätzlich bezahlt, damit er die Praxis in seinen Patrouillengang mit einschloß. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich auch einen Teil der Rückfront der Praxis.
Kurz durchzuckte mich der Impuls, noch einmal zurückzulaufen und die Spuren zu tilgen, die mein Hocker in der Erde unter dem Fenster hinterlassen haben mußte. Die einzigen verräterischen Spuren.
Aber ich nahm mich zusammen. Von dümmlicher Konsequenz lassen sich nur Kleingeister narren. Mein Geist war weit und groß heute nacht. Ich war wieder bei meinem Wagen, so gut wie in Sicherheit und fast zu Hause. Trotz meiner Vorsichtsmaßnahmen stand mein Wagen jetzt allein auf dem Parkplatz. Aber das kümmerte mich nicht weiter. Ich würde die Spuren unter dem Fenster lassen, wo sie sind. Ich wollte einfach weg. Fort von hier. Wer konnte schon beweisen, daß diese Spuren von meinem Hocker stammten?
Mein Hocker.
Ich hatte meinen Hocker nicht mehr.
Ich brach auf dem rechten vorderen Kotflügel zusammen. Ich sah den Hocker vor mir, der in dem Ablageraum an der Wand stand. So augenfällig, wie er nur sein konnte. Ich war auf meinem Weg hinaus direkt an ihm vorbeigekommen.
Auf der sehr langen Fahrt nach Hause mußte ich zweimal rechts ranfahren und haltmachen. Meine Knie und Hände zitterten so sehr, daß ich nicht weiterfahren konnte.
Ich schaffte es bis nach Hause und die Treppen hinauf.
Inzwischen regten sich in mir die Selbstschutzmechanismen. Es gab keine identifizierbaren Spuren an dem Hocker, und ich hatte nichts hinterlassen, das eindeutig mir zuzuordnen gewesen wäre.
Keine Fingerabdrücke. Wahrscheinlich würde Eddie nicht in der Lage sein, mich wiederzuerkennen; wahrscheinlich war ihm nicht einmal die Kamera an ihrem Riemen aufgefallen, die ich über dem Arm getragen hatte. Schlimmstenfalls würde Fishman mich wegen meines Anrufs bei ihm in Verdacht haben und Leander warnen. Aber wovor sollte er ihn warnen? Vor jemandem, der für einen Zeitungsartikel Fragen über die Familie stellt? Ich hatte ihm Maudes Namen nicht gegeben. Er kannte nur meinen Namen. Er konnte herausfinden, daß ich Privatdetektiv war; na und?
Die Vorstellung machte mich ein wenig neugierig - es könnte interessant werden, abzuwarten, was sich aus all dem entwickelte. Ich hatte Leander Crystal bisher noch nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Sicherlich war er wichtig, war er ein Teil der Geschichte. Soweit ich die Geschichte bisher kannte.
Würde er glauben, daß Fleur Schritte zu einer Scheidung unternahm? Was konnte er vernünftigerweise annehmen?
Wie dem auch sei, ich war immerhin zu Hause und nicht verhaftet oder sonstwie in Schwierigkeiten. Ich hatte die Informationen, hinter denen ich her gewesen war, auf Film gebannt. Jetzt mußte ich mir die Informationen auf dem Film nur noch zugänglich machen.
Ich begann mit der Entwicklung.
Als ich zum ersten Mal die Fotoausrüstung für meine Arbeit benutzte, mußte ich meine Filme noch entwickeln lassen. Das Filmentwickeln, vor allem, wenn es darauf ankommt, daß kein Teil des Films beschädigt wird, ist eine ziemlich schwierige Angelegenheit. Aber inzwischen beherrsche ich das recht gut.
Mit einer Routine, die ich mir im Laufe der Jahre angeeignet habe, erziele ich ganz gute Negative.
Schwierig zu entscheiden war nur, ob ich den Film über Nacht trocknen lassen sollte oder lieber versuchen, diesen Hergang zu beschleunigen, um sofort Abzüge machen zu können. Aber dann hätte ich auch noch darauf warten müssen, daß die Abzüge trocknen und sie doch nicht sofort lesen können.
Also beschloß ich, die Filme über Nacht in Ruhe trocknen zu lassen. Ich hängte sie in meinem Wandschrank auf, der gleichzeitig als Dunkelkammer diente. Und dann hängte ich mich selbst zum Trocknen auf; ich zitterte immer noch. Ich sah mir einen Spätfilm an. Oder auch zwei.