Eloise Crystal hatte mein Büro kurz nach fünf verlassen. Um acht Uhr hatte ich mein Abendessen und meinen täglichen Hausputz hinter mir. Zeit für die Abendarbeit, die ich heute den Kreuzworträtseln widmen wollte. Das Entwerfen von Kreuzworträtseln gehört zu den Dingen, mit denen ich mein Einkommen ein wenig aufbessere. Nicht daß es sich wirklich lohnte, aber wenn man sowieso die Zeit totschlagen muß, kann man dabei ja ruhig ein oder zwei Dollar mitnehmen.
Neben meinen Ermittlungen treibe ich eine ganze Reihe anderer Dinge, die von Zeit zu Zeit etwas Geld einbringen. Mal bin ich Fotograf, mal Zimmermann, mal Zocker, und manchmal übernehme ich merkwürdige Aufgaben für merkwürdige Freunde. Aber in erster Linie bin ich Privatdetektiv - so steht es in meinem Ausweis. Das mache ich jetzt seit sieben Jahren und bin stolz darauf.
Sieben volle Jahre, ein Rekord.
Und bisher ist kein einziges Mal in dieser ganzen Zeit ein kleines Mädchen zu mir gekommen, damit ich seinen biologischen Papa finde.
Ich kaute an meinem Kreuzwortbleistift herum und dachte eine Weile an Eloise. Wie standen die Chancen, daß sie sich nicht mehr blicken lassen würde?
Schwer zu sagen. Vielleicht pari.
Und wenn sie Lust hatte, wieder bei mir aufzutauchen?
Hmmm. Ihr den Rat geben, sich mit ihrem Problem an andere zu wenden? Ich dachte über das ›Problem‹ nach. Wie zum Teufel sollte ich es bloß anstellen, einen lange verschollenen ›biologischen Vater‹ zu finden?
Sie war sechzehn. Wir hielten also Ausschau nach einem männlichen Menschen, der es vor sechzehn Jahren einmal mit der Mutter von Eloise Crystal getrieben hatte. Mit Fleur Crystal.
Wenn man noch die Tragzeit von neun Monaten einkalkulierte, vor fast siebzehn Jahren.
Und dieser männliche Mensch war nicht der buchstäblich naheliegendste gewesen, nicht Leander Crystal. Und was wissen wir weiter?
Nichts. Wir wissen nichts von dem Mann. Nicht einmal, ob er noch lebt. Nicht einmal, ob Fleur ihn nur im biblischen Sinne erkannt oder tatsächlich gekannt hatte. Keine weiteren Fakten bekannt.
Also versuchen wir es mit dem Wahrscheinlichen.
Wahrscheinlich war Fleur mit dem Vater ihres Kindes gut bekannt gewesen. Wahrscheinlich wußte irgend jemand irgendwo von Fleur und dem Mann, kannte die Natur ihrer Beziehung, wußte aber nicht notwendigerweise, daß sie ein Kind erwartet hatte.
Vom Wahrscheinlichen gelangen wir zum Möglichen.
Möglicherweise ereignete sich alles in Indianapolis.
Möglicherweise ist der Mann immer noch in der Gegend, vielleicht ein Typ, den Eloise selbst kennt. Wie zum Beispiel ein Freund der Familie. Ein guter Freund…
Ein Feuerwerk von Spekulationen kündigte sich an, wurde aber im gleichen Augenblick ausgelöscht, in dem das Wort denkbar erschien.
Und durch praktischere Erwägungen abgelöst. Wie sollte man vorgehen, um eine Spur zu finden?
Die Freundinnen und Freunde der Mutter befragen, um eine Vorstellung zu bekommen, was für eine Frau sie war und früher gewesen ist. Wie sie früher gelebt hat, wo sie hinging, welches die wichtigen Abschnitte ihres Lebens waren. Und was sie vor ungefähr siebzehn Jahren getan hatte.
Aber es folgten noch praktischere Erwägungen. Die ganze Sache beruhte darauf, wie verläßlich das war, was Eloise über die Blutgruppen herausbekommen hatte.
Aber wie sollte man die Blutgruppenverhältnisse einer Familie überprüfen? Ihnen eine Krankenschwester ins Haus schicken, die ihnen vorm Frühstück ein wenig Blut abzapfte?
Ich wandte mich wieder meinem Kreuzworträtsel zu. Eine halbe Stunde später, nachdem ich mir die hundert Dollar wieder ins Gedächtnis gerufen hatte, die in den weiten Gefilden meiner Börse ruhten, beschloß ich, meine Zweifel versuchsweise zu Eloise' Gunsten zurückzustellen. Sie in den Genuß von ein klein wenig einfacher Hintergrundaufklärung kommen zu lassen.
Denn ich hatte ja genaugenommen ansonsten nicht besonders viel zu tun. Vielleicht wußte ich ja morgen tatsächlich genau, was ich eigentlich für sie tun sollte und warum ich es tun sollte, und vielleicht würde ich morgen, wenn ich mir über diese Blutprobengeschichte Gewißheit verschafft hatte - vielleicht würde ich also morgen den Fall offiziell übernehmen.
Heute abend rief ich nur versuchsweise einmal bei Maude Simmons an, der Wochenendchefin vom Dienst des Indianapolis Star. Ich wählte ihre Privatnummer bei der Zeitung, diejenige, die sie für ihre Privatgeschäfte benutzt.
»Simmons. «
Ich gab mich zu erkennen.
»Berrrtie! Wie um alles in der Welt geht es dir?« ›Berrrtie‹ mit gerolltem r: Das hasse ich. Und sie weiß es.
»Ich bin hier unten auf der Hauptwache. Sie halten mich fest wegen tätlichen Angriffs auf eine Redakteuse. Ich brauche jemanden, der die anderen Gefangenen davon abhält, mich fertigzumachen.«
»Oh«, sagte sie. »Klingt nett. Schade, daß ich keine Zeit habe.
Kann ich dir vielleicht bei was anderem behilflich sein?«
»Hmm. Eine kleine Auskunft.«
»Wie originell.«
»Über Leute namens Crystal.«
»Die reichen Crystals? Leander und Fleur Graham?« Sie hatte mich bereits überholt.
»Ich denke ja. Wenn sie eine Tochter namens Eloise haben und auf dem Jefferson Boulevard wohnen.«
»Das sind sie. Wie tiefschürfend und bis wann?«
»Wie wär's mit allem, was du aus dem Kopf weißt, und jetzt sofort?«
»Armer Berrrtie. Kriegst du denn niemals vernünftige Aufträge?« Dann folgte eine Pause. Ich vermutete, sie wartete auf eine Antwort. Ich ignorierte das Schweigen. Ich gehe meinen Weg und komme damit schon zurecht.
Aber statt dessen sagte sie: »Es ist nicht zu fassen.«
»Was?«
»Der Rohrpostapparat hier hat mir gerade den aktuellen Bericht von der Viehbörse zukommen lassen. Wußtest du, daß Kälber in Chicago unverändert geschlossen haben?
Achthunderttausend Dollar für ein Rohrpostsystem, und es versorgt mich mit dem Bericht vom Schlachtviehmarkt. Es ist zum Weinen.«
Wir legten eine Schweigesekunde ein. Maude haßt Geldverschwendung.
»Liegt dein Notizbuch bereit?«
»Ja.«
»Also, zunächst einmal sind sie reich. Ich meine echte Millionen, im Plural, reich. Wie reich, das kann ich herausfinden, wenn du willst«
»Nein, danke, Kumpel, im Augenblick nicht. Wie sind sie so?«
»Nun, sehr ruhig.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, daß kein Klatsch die Runde macht, der sich auf irgend etwas bezieht, das der Star als unmoralisch betrachten würde. Und auch in der Vergangenheit kein Klatsch, soweit ich mich erinnere. Geht es um eine Scheidung? Falls ja, dann ist das eine lukrative Sache für dich.«
Ich schämte mich, ihr einzugestehen, daß ich drauf und dran war, mich von dem Kind der Crystals engagieren zu lassen.
»Keine Scheidung. Ich bin mir noch nicht sicher, was es eigentlich wird.«
»Armer Berrrtie.«
»Erzähl mir irgendwas Interessantes. Irgendwas.«
»Also, ich kann mich noch an die Geschichten über Fleurs alten Herrn erinnern. Das war Estes Graham, und von dem kommt übrigens auch das Geld. Er starb ´53 oder ´54 und hatte jahrelang Riesengeburtstagspartys gegeben, zu denen jeder hinging, der in der Stadt was auf sich hielt. Das Dumme war nur, daß es dort keinen Tropfen Alkohol gab. Wir haben hier einen, der mal dort war; ich glaube 1950. Der hat seinen Flachmann mitgenommen. Der alte Estes Graham hat ihn erwischt und von seinem Schwiegersohn, also Leander Crystal, höchstpersönlich vor die Tür setzen lassen. Aber das ist alles, was ich aus dem Kopf weiß. Ich sage dir, diese Crystals führen beide ein sehr zurückgezogenes Leben. Nichts von diesem ganzen Gesellschafts- und Wohltätigkeitsquatsch, in den sich die meisten Leute mit so viel Geld hineinziehen lassen.«
»Und das war's?«
»Das ist alles, was ich dir aus dem Kopf sagen kann. Ich kann meine Leute dransetzen und dir mehr Details beschaffen. Wir haben hier einen ganz netten Stab für unsere Recherchen. Du müßtest uns vielleicht einen kleinen Wink geben, was du eigentlich wirklich willst.«
»Ich fürchte, für den Augenblick muß ich es dabei belassen.
Wieviel?«
»Oh, nur eine kleine Anerkennung. Was immer du für angemessen hältst. Großzügig, aber angemessen.«
Wir hängten ein.
Ich ging zum Schreibtisch in meinem Wohnzimmer und nahm mir einen Umschlag. Ich überlegte, ob ich vielleicht ein ZehnCent-Stück hineinstecken sollte, aber um der Zukunft willen beschloß ich, keinen Unfug zu machen. Ich schrieb einen Scheck über fünf Dollar aus und schickte ihn an Miss Simmons, c/o Indianapolis Star.
Maude ist schon so eine Nummer. Altgedient, gottlos, trunksüchtig und habgierig. Und ein Segen für die ungefähr dreißig Privatdetekteien in Indianapolis. Ihr eigentliches Geschäft besteht darin, vom Nervenzentrum des Star aus, für dessen Sonntagsausgabe sie zuständig ist, ihre Privatkundschaft mit Auskünften zu versorgen. Mit all dem, was man nicht drucken kann: persönlichen Schicksalen, Kreditauskünften, Familiengeheimnissen. Sie verfügt über ein ganzes Netz von Leuten, die die Ohren offenhalten und auch sonst über allerlei Fähigkeiten verfügen. Und sie macht echtes Geld damit.
Gewöhnlich nicht mit so kleinen Fischen, wie ich einer bin, obwohl sie mit mir auch schon ein paar gute Geschäfte gemacht hat. Sie behauptet, daß selbst die Polizei ihre Dienste in Anspruch nimmt, und ich bin geneigt, ihr das abzunehmen.
Ich ließ mein Notizbuch auf dem Telefontischchen zurück, aber mein Kopf war inzwischen über die Kreuzworträtselphase hinaus. Ich wäre froh gewesen, wenn wir schon Donnerstag gehabt hätten und nicht erst Mittwoch. Nicht so sehr, weil ich dann besser wüßte, woran ich bei Eloise und Konsorten war, sondern weil dann die Pacers spielten. Das erste Spiel der Saison als amtierender Meister der American Basketball Association.
Ich bin Basketballfan, und die Radioübertragungen der Spiele der Pacers sind wirklich eine gute Sache, um mir bei der Bewältigung der langen Winterabende zu helfen. Manchmal, wenn ich Glück habe und die Sportfotografen irgendwie verhindert sind, werde ich auch engagiert, um ein paar Aufnahmen vom Spiel zu machen. Ich habe alles da, um Schwarzweißbilder zu entwickeln, und abgesehen von dem kleinen Nebenverdienst ist die Fotoausrüstung auch für die Detektivarbeit von Nutzen. Manchmal paßt eben alles genau zusammen.
Ich versuchte, die Crystals aus meinem Kopf zu verbannen.
Aber es gab zu viele konkrete Überlegungen, um darüber hinweggehen zu können. Nach dem wenigen, das ich von Maude erfahren hatte, war Fleur wohl ein stilles Wasser. Und deswegen vielleicht tiefgründig? Gefährlich?
Und Eloise? Eine Kindfrau. Die Pubertät schafft die biologische Voraussetzung für eine gespaltene Persönlichkeit.
Vielleicht war das die eigentliche Frage: Welche Hälfte war diejenige, die mich engagieren wollte? Und wie standen die Chancen, daß es sich mit den Blutgruppen wirklich so verhielt, wie sie gesagt hatte? Doch wozu rätseln und lange lamentieren?
Ich konnte warten, bis ein neuer Morgen graute.
Ich legte mein Kreuzworträtsel ein letztes Mal beiseite und schrieb einen Brief an meine Tochter. Ich erzählte ihr von einigen Hasen und Bären, mit denen ich mich letztens unterhalten hatte. Sehr nette, gar nicht symbolische Hasen und Bären, denen es gutging und die sich auf die Knie schlugen, wenn sie einen Witz erzählten. Meine Tochter ist inzwischen neun. Vielleicht ein bißchen zu alt, um ihr mit Hasen und Bären zu kommen. Aber als Vater kann man auch nicht alles wissen.
Mit dem Buch, das mir schon am Nachmittag Gesellschaft geleistet hatte, begab ich mich schließlich zur Ruhe.