29

Spät ins Bett und früh aus den Federn. Ich hatte irgendwie gehofft, ein paar Abstecher machen zu können. Die Eltern meiner Mutter kamen aus der Gegend zwischen Lafayette und Indianapolis. Aus Kokomo, oder genauer gesagt aus solchen Metropolen wie Camden und Deer ›Crick‹ und Flora und Delphi. Wo sie aufgewachsen ist, war Logansport schon eine Großstadt. Wo die feinen Großstadtpinkel herkommen.

Aber ich hatte keine Zeit, haltzumachen und die Bekanntschaft mit dem Land meiner Vorfahren zu erneuern. Ich mußte mich ranhalten, um bis zwei bei Chivian in Lafayette zu sein.

Seine Praxis war eine halbe Klinik mit seinem Namen ganz oben auf der Tafel. Es war wohl nicht bei dieser einen CrystalGeschichte geblieben. Die Katze, die das Mausen nicht läßt, stand sich nicht schlecht.

Meine Sekretärin mit der goldenen Stimme war eine Enttäuschung. Damit hatte ich eigentlich nicht gerechnet. Ich hatte mich auf ein Biest gefaßt gemacht oder möglicherweise, als Außenseiterchance sozusagen, auf eine Schönheit. Aber nein. Nur eine ganz gewöhnliche, alte Landfrau aus den Weiten Indianas, ungefähr dreißig. Eindeutig Durchschnitt.

Natürlich nur, bis sie den Mund aufmachte, aber ich war etwas zu nervös, um ihre stimmlichen Qualitäten zu bewundern.

Ich hatte Mühe, den Dingen zu folgen, die sie sagte.

Wie zum Beispiel »Mr. Keindly?« Das warf mich fast um. In den beiden Worten schwang kein besonders starker Ausdruck des Wiedererkennens mit, und ich hatte an andere Dinge gedacht. Also nickte ich.   

»Sie können zum Doktor rein, wenn er mit der Patientin fertig ist, die jetzt bei ihm ist. Wollen Sie sich vielleicht setzen? Es wird nur ein paar Minuten dauern.«

Ich war allein in einem seltsamen Wartezimmer. Irgendwie geht man immer davon aus, daß man im Wartezimmer eines Arztes mit anderen Leuten zusammensitzt. Ich vertrödelte die Zeit mit Zeitschriften. Bei den Zeitschriften eines Arztes ist Vorsicht geboten. Es liegen zwar die gewöhnlichen, mit Bildern, Nachrichten und Vergnüglichem versehenen Zeitschriften herum, aber der Löwenanteil des Zeitschriftenbudgets geht an medizinische Journale verschiedener Arten, die im Wartezimmer dann ihre Pflicht gleich auf zweifache Weise erfüllen. Wenn man nicht sehr vorsichtig ist, bekommt man eine davon zu fassen und liest plötzlich etwas über die verschiedenen Krebsarten, die bei Kindern häufig vorkommen, und wie wenig man in drei Viertel der Fälle dagegen tun kann. Nicht gerade sehr erbaulich für Eltern, die ihr Schnuckelchen zum Onkel Doktor bringen, damit er sich mal diese kleine Beule auf seinem Kopf ansieht.

Oder für Detektive, die ihre Töchter schon lange nicht mehr gesehen haben. Ich protestiere hiermit nachdrücklich gegen Krebs bei Kindern.

Ein sehr attraktives brünettes Weibsbild verließ, was ich für das Sprechzimmer des Arztes hielt. Sie war ungefähr genauso alt wie meine Sekretärin, und in jeder Hinsicht das, was ich mir von dieser erhofft hatte. Als der Arzt hinter der Brünetten die Tür schloß, wandte ich mich wieder der Dame am Schreibtisch zu. Dies gab mir Gelegenheit und Vorwand, ihr Gesicht zu begutachten, über dessen Pickelnarben sie in dicker Schicht sonnenbraunes Makeup aufgelegt hatte.

Dann trafen sich unsere Blicke. Etwas Außerordentliches geschah. »Das Ergebnis von Windpocken, die ich mit achtzehn hatte.«

»Tut mir leid«, sagte ich, und es tat mir leid, schrecklich leid.

»Gehen Sie heute abend mit mir essen?«

Sie hob die linke Hand, deren Ringfinger die Antwort auf meine Frage trug. Ihre Gegensprechanlage summte. »Ich bin ein Narr«, sagte ich.

»Ja«, sagte sie. »Sie können jetzt zum Doktor rein.« Die Tür des Arztes öffnete sich, und Henry Chivian kam mit ausgestreckter Rechter auf mich zu.

»Mr., ähm, Keindly, glaube ich. Ich bin Doktor Chivian.

Kommen Sie doch rein.«

Ich kam rein. Chivian war durchschnittlich groß, hatte aber eine dunkle, echte Bräune, buschige Augenbrauen und einen dicken schwarzen Haarschopf. Er ging schnell, beinahe rücksichtslos zu seinem Schreibtisch zurück. Der Mann hatte was.

Ich verbrachte ein paar Sekunden damit, mich im Sprechzimmer umzusehen, einem wohlhabenden Sprechzimmer modernen Zuschnitts, an dessen rechter Wand ein eingerahmtes medizinisches Diplom hing - in dem Bereich der Wand, der einen medizinischen Kompromiß darstellt, weil sowohl Patient als auch Arzt ihn sehen können. Also besah ich mir das Diplom.

Universität Oklahoma, Januar 1943. Auf jeden Fall war er also älter als Leander Crystal, wenn ich auch nicht wußte, wie viele Jahre. Man sah es ihm nicht an.        

Der Rest des Sprechzimmers, Bücher auf einem offenen Regal, ein paar Schränke, alles hübsch ordentlich, und ein paar Bilder oben auf dem Bücherregal unter dem medizinischen Diplom. Ein Bild als Soldat und zwei andere, die beide den Arzt mit anderen Männern zeigten, anscheinend in gediegenem Ambiente. Ich konnte nicht genau feststellen, in welchem. Aber ich hatte auch nicht viel Zeit.

Der Doktor sah geschäftsmäßig drein. »Mrs. Rogers sagt, Sie hätten irgendeine Art von Männerproblem, Mr. Keindly. Das kann eine ganze Menge bedeuten.«

»Wenn ich ganz offen sein darf, Doktor, bin ich nicht meinetwegen zu Ihnen gekommen. Ich habe ein ziemlich delikates Problem und hoffte, Sie könnten mir bei der Lösung helfen.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln.

Vielleicht mochte er delikate Probleme. Er lehnte sich zurück, um den Genuß zu steigern. »Sprechen Sie weiter.«

»Ich habe das Gefühl, daß Sie bereits erraten haben, worum es geht«, sagte ich, »aber ich sage es trotzdem. Meine Tochter hat sich in die Klemme gebracht, ich meine, sie ist schwanger. Ich hoffte, Sie würden uns helfen oder uns jemanden nennen, der uns helfen könnte.«

»Aber warum kommen Sie da ausgerechnet zu mir? Es läuft doch bestimmt niemand herum und erzählt, ich würde Abtreibungen vornehmen.« Der Hauch eines Lächelns blieb, wo er war. Und ich bekam Informationen.

»Nein, aber ein Freund von mir, nun… Die Sache ist die, daß wir ziemlich verzweifelt sind. Lucy, das heißt meine Tochter hat sozusagen bis auf den letzten Drücker gewartet, bevor sie uns was erzählt hat, und wir haben nicht viel Ahnung von diesen Dingen. Wir hätten nie gedacht… also, wir haben mit einer Freundin gesprochen, und sie meinte, sie wüßte zwar nichts Genaueres, aber Sie seien ein freundlicher Mann und würden uns möglicherweise helfen und mir sagen, wo wir uns Hilfe verschaffen können.«

»Wie genau hat Lucy sich in diese Art von Klemme hineinmanövriert?« Er ließ die Frage für einen Augenblick im Raum stehen, um sich in deren genauer Tragweite ergehen zu können. Aber gerade als ich ihm von der Neuwagenfahrt erzählen wollte, die ich Lucy unklugerweise im Sommer zugestanden hatte, kam er auf den Punkt. Er sagte: »Ich meine, wußte Lucy denn nicht, daß so etwas passieren könnte, oder ist sie der Typ Mädchen, der ziemlich sorglos mit seinen Zuneigungen und Abwehrmechanismen umgeht?« O ja, er genoß die Sache wirklich.

»Das würde ich nicht sagen«, sagte ich.

»Also, Mr. Keindly Sie sind doch sicher ein erfahrener Mann und haben gewußt, daß niemandes Tochter in dieser Welt vor den Versuchungen des Fleisches sicher ist, ganz gewiß nicht ohne Leitung, Vorbereitung und Warnung. Sicher hätten Sie ihr wenigstens zeigen können, wie man ein Diaphragma benutzt oder die Pille oder sonst etwas in der Art. Nur für den Notfall.«

Ich fühlte mich zunehmend unbehaglich in der Rolle, in der ich zu dem Mann gekommen war. Aber genausogut könnte man die Scheunentür abschließen, nachdem das Pferd schon durchgegangen ist. Dieselbe Art von Hilfe, die er Lucy anbot.

»Alles Bedauern auf der Welt kann nicht ungeschehen machen, was geschehen ist«, sagte ich. »Werden Sie uns nun helfen oder nicht?«

»Da haben Sie absolut recht, absolut.« Er nahm seinen Rezeptblock zur Hand und verwandte mehrere Augenblicke darauf, einige Zeilen zu schreiben. Dann riß er das oberste Blatt ab, faltete es und hielt es mir hin.

»Sie haben recht, Mr. Keindly. Und es tut mir leid, wenn ich ungefällig erschienen sein sollte. Ich werde Ihnen durchaus helfen. Ich habe hier den Namen eines Mannes aufgeschrieben, der in der Lage sein sollte, Ihnen einen gewissen Beistand zu leisten. Seine Praxis mag zwar ein wenig zwielichtig erscheinen, und er geht vielleicht mit spitzgefeilten Kleiderbügeln auf ihre Tochter los und…« Er fiel sich selbst ins Wort, indem er den Zettel vor mir auf den Schreibtisch fallen ließ und sich in seinem Stuhl weit zurücklehnte und lachte.

Laute, vulgäre Lachsalven, bei denen er sich den Kopf halten mußte. Er machte mir angst. Aber laute Geräusche und Trugschlüsse machen mir immer angst.

Ich griff nach seinem Rezept für meine Probleme und faltete es auseinander. Es lautete:

Albert Samson Indianapolis, Indiana USA, Welt Der Bastard hatte die ganze Zeit über gewußt, wer ich war.

Es gibt Augenblicke in diesem Geschäft, da können alle Worte der Welt nicht genau ausdrücken, was in der kürzestmöglichen Zeitspanne vorgegangen ist.

Es gab nichts, was ich tun konnte, außer abwarten, bis er ausgelacht hatte. Für gewöhnlich versuche ich, kein Spielverderber zu sein, aber es ist auch eine recht gut gesicherte Erkenntnis, daß ich selbst gelungene Scherze nicht allzugut aufnehme, wenn sie auf mein Konto gehen. Leander Crystals letzte Chance, mich aus der Sache rauszukaufen, ging an diesem Nachmittag in Lafayette, Indiana, in Lachsalven auf.

Als er anfing zu schnaufen, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen, war ich gerade damit beschäftigt, mir seine Bilder anzusehen. Eins zeigte überhaupt nicht ihn, sondern jemanden, den ich nicht kannte. Eins sah wie eine Zeitungsaufnahme von ihm aus, auf der er von irgend jemandem so etwas wie eine Ordensschnalle entgegennahm. Und das dritte zeigte den Arzt in seiner vollen Armeeuniform. An diesem Bild stimmte irgend etwas nicht. Ich wußte nur nicht, was.

Chivian hatte sich wieder etwas beruhigt; ich kam jetzt richtig in Fahrt.

»Hübscher kleiner Scherz, Doc«, sagte ich mit meiner besten Bogart-Stimme und meinem besten Cagney-Blick.

»Na ja, ich entschuldige mich, Samson. Aber man hatte mich vorgewarnt, daß Sie vielleicht vorbeikommen könnten, und ich vergleiche die Namen und Adressen neuer Patienten immer mit dem Telefonbuch und einem Adressenregister von Lafayette.

Mr. Keindly hatte weder eine Telefonnummer noch eine Adresse. Ich hätte Sie auch weitermachen lassen, aber ich habe heute einfach nicht mehr genug Zeit, um mir einmal in Ruhe anzusehen, wie ein richtiger Privatdetektiv arbeitet.« Er grinste, der Bastard.

»Beantworten Sie mir denn jetzt einige Fragen, oder spielen Sie weiter den Witzbold?«

»Sollte eigentlich von den Fragen abhängen, ich weiß. Aber ich muß die Tatsache, daß ich nichts in meinem Leben zu verbergen habe, gegen die Dreistigkeit abwägen, mit der Sie hierherkommen und mir überhaupt irgendwelche Fragen stellen.«

»Es hängt davon ab, wie gut Sie mit Leander Crystal befreundet sind.«

»Soll das heißen, daß Sie sein Angebot annehmen?«

»Nicht unbedingt, aber damit ist die letzte Frage bereits beantwortet.«

»Ich weiß.« Er seufzte. »Ich hatte mir etwas mehr Stil von Ihnen erhofft, Samson, aber Sie bieten nichts als miese kleine Spielchen. Leander und ich waren zusammen in der Armee. Wir sind in Kontakt geblieben, und als er sich in Indianapolis niederließ, hat er mich gefragt, ob ich es nicht ebenfalls dort versuchen wolle. Ich hab's versucht und wurde zum Hausarzt seiner Familie. Nach einer Weile hatte ich den Wunsch, hier in der Gegend eine Praxis aufzumachen; er hat mir geholfen, ein Darlehen dafür zu bekommen. Dann hat sich hier eine günstige Gelegenheit ergeben, und ich bin geblieben. Ich fahre für gewöhnlich alle zwei Wochen einmal nach Indianapolis, um nach Fleur zu schauen. Am Nachmittag spiele ich dann Golf mit Leander. Manchmal bleibe ich allerdings nicht bis nachmittags.   

Wollen Sie sonst noch etwas wissen? Wenn ja, fassen Sie sich bitte kurz. Es warten Patienten auf mich.«

»Nein, sonst nichts«, sagte ich.

Ich stand auf, verließ den Raum und schloß ganz leise hinter mir die Tür.

Im Wartezimmer saßen keine Patienten. Da war nur Mrs. Rogers.

Als ich an ihr vorbeiging, sagte sie: »Haben Sie ihm den ganzen Spaß gemacht, den Sie für mich in petto hatten? Er brauchte das. Er war ziemlich nervös die letzten paar…«

Das Ende ihrer besorgten Ausführungen hörte ich nicht mehr.

Ich hatte die Tür zugezogen, und gleichzeitig hatte sie aufgehört zu reden. Das Echo ihres Lachens verfolgte mich, während ich zu meinem Wagen hinausging, aber das war vielleicht einfach nur meine Phantasie.

Ich fuhr wie der Teufel zurück nach Indianapolis.

Kombination aus Stimmung und Umständen. Wenn Leander Crystal solche Freunde hatte, brauchte er wahrscheinlich keine Feinde. Während der ersten Hälfte der Fahrt brütete ich noch viele andere ebenso neuartige Erkenntnisse aus.

Aber als ich in die Stadt kam, entspannte ich mich langsam.

Es ging auf fünf zu, und die Tatsache, daß ich an dem stadtauswärts gerichteten Straßenverkehr der Rushhour vorbei in die Stadt hineinrollte, verbesserte meinen Zustand. Ich wurde nachdenklicher. Nachdenklich genug, um klarzukriegen, was mich an diesem Armeefoto gestört hatte. Im Prinzip nichts. Es hatte nicht im mindesten gelogen. Es mußte aufgenommen worden sein, als Chivian etwa dreißig Jahre alt war, wenn man an die Ausbildung auf der Uni dachte und das alles.

Fast dreißig und nur noch sehr wenige Haare. Viel weniger als heute. Jetzt wurde mir auch klar, warum er selbst im Augenblick des Triumphs seinen Kopf festhalten mußte. Der Bastard war kahl, kahl wie ein Ei.

So kahl, könnte man sagen, wie Leander Crystal.

Vom Kessler Boulevard bis zur Achtunddreißigsten Straße, was keine geringe Entfernung ist, lachte ich laut vor mich hin.

Und ich hörte da auch nur deshalb auf, weil ich müde wurde und ein Verkehrspolizist mich irgendwie merkwürdig ansah.

Den Rest des Weges überlegte ich mir, daß Chivian ohne seine Perücke und Bräune Leander ziemlich ähnlich sehen würde. Was die oberflächliche Beschreibung betrifft, jedenfalls.

Chivian war etwas größer, etwas schwerer und etwas älter. Und viel ekelhafter. Irgendwie erschien Crystal mir nicht als Kandidat für besondere Ekelhaftigkeit. Es war, als sei Chivian eine Art armer Verwandter, die bleiche Imitation, der rohere Crystal.

Und es ging mir durch den Sinn, daß ihre Beziehung vielleicht enger war als die von Freunden; eine Idee, auf die man vielleicht ein klein wenig Mühe verwenden durfte. Ich machte mir eine Notiz.

Den ganzen Weg nach Hause hatte ich nicht den geringsten Verkehr.        

Aber dafür hatte ich zu Hause jede Menge Verkehr gehabt.

Die Post lag wie gewöhnlich auf dem Boden, und ich stampfte sie beim Reinkommen in die Dielenbretter. Eine Sache war interessant, ein Brief vom Standesamt von New York.

Aber ein paar andere Dinge waren nicht so wie sonst. Die Schubladen meines Büroschreibtisches standen offen. Dasselbe beim Schreibtisch und dem Sekretär im Wohnzimmer. Ich mache immer alle meine Schubladen hübsch zu. Das vergesse ich nie, so senil ich sonst auch sein mag. Ich hatte kleine Besucher gehabt.

Ich ging an meinen Aktenschrank. Der ist nicht verschließbar.

Ich habe nie ein Schloß gebraucht.

Ich öffnete bei C. Die Akte über die Crystals fehlte. Die Akte mit den Negativen und den Abzügen, die mir die Gesetzeshüter freundlicherweise überlassen hatten, ebenso wie die Unterlagen aus Fishmans Praxis und die Briefe an Graham.

Ich erlitt beinahe einen Schock. Ich rannte zurück zu meinem Büroschreibtisch, auf dem ein prächtiger, wunderschöner exquisiter Satz Abzüge der Crystal-Bürounterlagen prangte, in zehn wohlorganisierten Häufchen. Meine Arbeitskopie. Die auf dem Schreibtisch lag, wunderschön und prächtig und bereit, durchgearbeitet zu werden. Wenn ich noch irgend etwas gebraucht hatte, um mich in die Arbeit zu vertiefen, dann war es das. Was für ein lächerliches Spiel - zwei erwachsene Männer, die »Rauben wir einander die Büros aus!« spielten.

Mein einziger Trost war, daß Crystal nicht gewußt hatte, daß Miller mir zwei Sätze mit Abzügen gegeben hatte, nicht nur einen. Und ich dankte Crystal im stillen für seine zusätzliche Botschaft: Irgendwas war in diesen Unterlagen zu finden. Ich ging davon aus, daß mein Besucher Crystal gewesen war.

Ich öffnete den Brief aus New York und sah mir das Geburtszertifikat von Eloise Crystal an. Geburtshelfer war Henry Chivian. Welche Überraschung!

Mit dieser Geburtsurkunde fing die neue Akte Crystal an, und mit einem Foto davon fing die neue Sicherheitskopie an, die auf unentwickeltem Film wohlversteckt bleiben würde. Es sei denn, sie wurde gebraucht.

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und adressierte einen Briefumschlag an Leander Crystal. In den Umschlag hinein steckte ich mit einer Träne im Auge seinen Scheck über fünfzigtausend Dollar. Flüchtig kam mir der Gedanke, daß ich ihn statt dessen vielleicht lieber um viel, viel mehr bitten sollte.

Was würde er tun?

Aber das wäre unmoralisch gewesen. Wenn ich mir schon den Kopf über Moral zerbrach, gab es nur eine anständige Lösung, nämlich den Mund zu halten, den Fall sausenzulassen und dem Mann sein Geld trotzdem zurückzugeben.

Wenn ich den Scheck einlöste, unter welchen Umständen auch immer, würde ich mich schuldig fühlen. Nicht daß man sich nicht an ein Leben mit Schuldgefühlen gewöhnen könnte…

Fast hätte ich Chivians Rezept mit in den Umschlag gesteckt, aber dann besann ich mich eines anderen. Es war eine Handschriftenprobe von dem Mann. Statt dessen machte ich also ein Foto davon und heftete das Original in die Akte mit Eloise' Geburtsurkunde. Es könnte ein Anhaltspunkt sein. Und Leander würde das Stückchen Papier wohl kaum brauchen, um den Bericht über mein Abenteuer in Lafayette voll auszukosten.

Wahrscheinlich hatte er diesen Bericht bereits bekommen.

Ich gönnte mir eine Pause für einen Gedanken. Die Post war, als ich nach Hause kam, genau dort gewesen, wo sie hingehörte.

Aber die Schubladen nicht. Das bedeutete entweder, daß mein Besucher sich mit der Post mehr Mühe als mit den Schubladen gegeben hatte, um den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, oder daß die Post nach meinem Besucher gekommen war.

Ich tippte auf letzteres. Die Post kommt für gewöhnlich gegen zwei. Crystal hatte heute morgen beschlossen, die Sachen holen zu lassen. Bevor ich mit Chivian gesprochen hatte. Das war seltsam. Und bedeutete, daß Chivian ihn wahrscheinlich am Abend zuvor angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, daß ein Mr. Keindly nahte, aber niemand wüßte, woher. Und Crystal war zu dem Schluß gekommen, das müsse bedeuten, daß ich keinerlei ›vernünftigen Argumenten‹ zugänglich war.

Das waren tatsächlich eine Menge Vermutungen. Es war möglich, daß es gar nicht Crystal gewesen war, der die CrystalAkte mitgenommen hatte. Aber ich hatte weiß Gott Mühe, mir eine Alternative auszudenken. Außer vielleicht Eloise. Aber warum?

Hmm. Es war zuviel. Ich sammelte den mir noch verbliebenen Satz meiner kostbaren Fotos ein und ging auf leisen Detektivsohlen die Treppe hinunter und in ›meinen‹ Drugstore.

Dort kaufte ich sämtliche Rollen Fünfunddreißig-MillimeterSchwarzweißfilm auf, die zu haben waren, und dazu ein paar Kartoffelchips und einen Rhabarberapfelkuchen. Dann kehrte ich ins Büro zurück.

Ich begann meinen Abend, indem ich Fotos von allen Fotos machte, die noch zu besitzen ich mich glücklich schätzen durfte.

Als ich alle Bilder geschossen hatte, die ich schießen wollte, versteckte ich die unentwickelten Filme unter meiner Matratze und machte mich daran, mich ernsthaft mit den Unterlagen aus Crystals Büro zu beschäftigen.