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»Es tut mir leid, Ihnen lästig fallen zu müssen, aber ich komme vom Bundesamt für Ausländer und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir ein paar Augenblicke Ihrer Zeit widmen könnten.«

Aus der Nähe sah der alte Bursche nach ungefähr fünfundsechzig aus, mit Unmengen weißen Haares und auch sonst in ziemlich guter Verfassung. Es sind die Dünnen, die sich lange halten.

»Mein Name ist Joe Jenkins. Ich bin dreiundachtzig Jahre alt, Jungchen, und hab mein ganzes Leben lang nicht einen einzigen Tropfen getrunken, hab nie Probleme mit irgendeiner Art von Polizei gehabt und habe mir keinen einzigen Tag meines Lebens Sorgen gemacht. Also, gibt es sonst noch irgendwas, das Sie wissen wollen?«

Es war kurz nach halb zehn. Ich hatte eine halbe Stunde lang Mrs. Forebushs Nachbarn ausgefragt und mich nach Leuten erkundigt, die schon seit ungefähr 1953 hier in der Gegend wohnten. Ich versuchte, etwas über die ausländische Mieterin in Erfahrung zu bringen. Ich war auf den Gedanken verfallen, daß irgend jemand aus der Nachbarschalt sich vielleicht an sie erinnern könnte. Schien einen Versuch wert zu sein.

Mrs. Forebushs Haus lag so, daß eine Menge Nachbarn einen Mieter dort im Auge behalten könnten. Es stand direkt neben einem Eckhaus und grenzte mit dem Garten an eine Hintergasse.

Also war für mich das Eckhaus interessant und die ersten zwei oder drei Häuser um die Ecke, von deren Hintergärten aus man vielleicht Mrs. Forebushs Garten überblicken konnte, außerdem das Haus auf der anderen Seite der Hintergasse, was mir gleich zwei Familien bescherte, weil es ein Doppelhaus war. Und vielleicht noch ein paar auf der anderen Straßenseite.

Ich hatte mich um die Ecke herumgearbeitet, und obwohl ich eine Menge Leute gefunden hatte, die schon lange genug hier lebten, konnte sich nur eine einzige Person überhaupt an irgend etwas erinnern. Es war eine Dame namens Fay. Sie hatte in ihrem Haus ihre Kinder, Zwillinge namens Newton und Norman, großgezogen und beabsichtigte, dort auch zu sterben.

Das sagte sie jedenfalls. Ausführlich. Sie konnte sich vage daran erinnern, daß ein junges Paar in dem Haus gelebt hatte, »bevor diese Forebush es bekam.« Sie schien im Grunde gar nichts über sie zu wissen; den Mann hatte sie nur ein paarmal zu Gesicht bekommen. Es war möglich, daß Newton oder Norman mehr wußten. Beide waren jetzt verheiratet. Ihre Mutter gab mir ihre Namen und Adressen.

Es war das Beste, was ich hatte.

Ich hatte auch in den beiden Häusern gegenüber von Mrs. Forebushs Haus auf der anderen Straßenseite vorbeigeschaut, aber nur eins davon war bewohnt. Ein Mädchen von ungefähr zwanzig war gerade eingezogen und packte Umzugskisten aus.

Ich fragte nach den früheren Bewohnern, weil ich hoffte, sie vielleicht aufspüren zu können. Die Frage munterte sie nicht gerade auf. Sie waren im vergangenen Monat bei einem Autounfall gestorben.

Ich war jetzt in dem Doppelhaus an der Hintergasse gegenüber dem Haus von Mrs. Forebush. Meine letzte Chance.

Der alte Bursche, den ich bei meinem ersten Besuch in der Fünfzigsten Straße auf der Veranda gesehen hatte.

Ich fragte ihn, wie lange er schon in dieser Gegend wohnte.

»Wohnen? Hier? Seit Erschaffung der Welt, mein Junge, seit der Erschaffung der Welt. Ich bin genauso lange hier wie das Haus, seit 1926. Ich habe es damals gleich gekauft, und das war gut so, denn während der Wirtschaftskrise war es ein Lebensretter, ein echter Lebensretter.«

Er schien einem Schwätzchen nicht abgeneigt.

»Also, was wollen Sie wissen? Ich kann Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen. Zum Beispiel über das Haus, aus dem Sie gerade gekommen sind. Der alte Kauz hat sich und seine Frau letzten Monat auf dem Highway nach Kokomo plattgefahren, am Sechsundzwanzigsten war das. Er war zu alt zum Fahren. Zu alt. Vor vier Jahren haben sie ihm sogar für sechs Monate den Führerschein abgenommen. Aber er hat ihn zurückgekriegt. Und Jetzt sehen Sie, was ihm das eingebracht hat. Und seiner kleinen Frau. Sie hätte wirklich was Besseres verdient, jawohl. Richtig nette kleine Dame.   

Und das Haus, in dem Sie vorher waren, das.. «

Ich fiel ihm ins Wort, obwohl er mich wirklich faszinierte.

»Es geht mir um das gleich gegenüber.« Ich zeigte auf die andere Seite der Gasse.

»Hab ich mir schon gedacht«, sagte er weise. »Jedenfalls waren Sie ja in den letzten Wochen ein paarmal drin. Worum geht's? Hat Mrs. Forebush vor, es zu verkaufen? Hübsches kleines Haus, da könnten Sie's schlimmer treffen.«

»Nein, ich versuche nur etwas über die Leute herauszufinden, die vor Mrs. Forebush dort gewohnt haben.«

»Ah, ja richtig. Sie kommen von der Regierung oder so, sagten Sie doch? Was ist los? Ha'in die irgendwas angestellt?

Sucht die Polizei nach ihnen?«

»Nein, ich muß nur etwas über sie wissen.«

»Tja, wollen wir mal sehen.« Er kratzte sich am Kinn. Er tat es wirklich. »Es hat ziemlich lange Railroad Mackeson gehört.

Könnte das derjenige sein, über den Sie was wissen wollen?«

»Ich weiß nicht. Hat er direkt vor Mrs. Forebush in dem Haus gewohnt?«

»Jedenfalls war er der einzige Bewohner, der auch nur einen Pfifferling wert war. Aber der ist jetzt tot. Das wird Ihnen also nicht weiterhelfen.«

»Wer ist nach ihm in das Haus gezogen?« Die Salamitaktik.

»Hmm, wollen mal sehen. Das Haus stand eine Weile leer, während die Kinder sich darüber in den Haaren lagen, wer es bekommen sollte. Dann beschlossen sie, es zu verkaufen und sich statt dessen das Geld zu teilen. Das muß so 1952/53 gewesen sein. Ungefähr zu der Zeit, als Ike es geschafft hat, sich wählen zu lassen. Das heißt, zum ersten Mal. Guter Zeitpunkt, um ein Haus zu verkaufen. Also haben sie's verkauft, und zwar ziemlich schnell. Ich erinnere mich daran, daß der neue Besitzer, wer immer das auch war, ein paar Veränderungen vorgenommen hat. Was irgendwie eine Schande war. Nicht daß der alte Mackeson jemals viel mit dem Garten angefangen hätte, aber der Hof wirkt mit Blumen viel größer als mit großen Büschen.

Ich schätze, deshalb hat es auch so lange leer gestanden.«

»Es hat leer gestanden?«

»Ja, Sir. Mehrere Monate. So wie ich es sehe, hat der Besitzer es gekauft, um es zu vermieten. Hat es auf Vordermann gebracht, sozusagen. Sind viele Möbel reingetragen worden.

Und dann hat er es wohl eine Zeitlang nicht vermieten können.

Vielleicht ein schlechter Zeitpunkt, um möblierte Häuser zu vermieten. Ich weiß nicht. Aber so war's.«        

»Was ist dann passiert?«

»Tja, abgesehen von einem jungen Paar, das ein paar Monate dort lebte, hat es Mrs. Forebush gehört.«

»Ich glaube, es ist das junge Paar, das mich interessiert.« Er kniff die Augen zusammen und sah mich an. Er trug keine Brille. »Warum? Warum die? Vielleicht weil die Dame Ausländerin war?«

»Genau das, alter Knabe.«

»Was sagten Sie noch gleich, woher kommen Sie?«

»Ausländeramt.«

»Warum kommen Sie dann ausgerechnet hierher?«

»Wir können sie nicht finden. Das Haus ist die letzte Adresse, die wir von ihr haben.«

»Also bei Gott! Sie wohnt seit über fünfzehn Jahren nicht mehr hier. Warum sind Sie ausgerechnet jetzt hinter ihr her?«

»Sie wissen doch, wie das ist. Wir haben jede Menge Papierkram, und die Sachen stapeln sich.«

»Auweia! Lassen Sie sich eins von mir sagen, Sohnemann. So betreibt man kein Geschäft. Ich habe zu meiner Zeit eine ganze Reihe mächtig erfolgreicher Geschäfte betrieben, und so, wie Sie die Sache angehen, wird sich Ihres nicht lange halten.«

»Was wissen Sie über das junge Paar?«

»Nicht viel. Sie waren nicht lange hier. Haben viel Zeit im Haus verbracht, das kann ich Ihnen sagen. Alle beide. Und sie sind zusammen einkaufen gegangen. Sah nicht so aus, als kämen sie so besonders gut zurecht miteinander. So was sieht man Paaren an. Ich schätze, sie hatten gerade erst geheiratet, bevor sie hierherkamen, und nach einer Weile konnte ich auch sehen, warum sie Schwierigkeiten hatten. Sie wurde langsam immer runder, und das kam nicht vom Essen. Also, was meine Frau ist, Gott hab sie selig, die hätte Ihnen auf ein paar Wochen genau sagen können, wie lange sie noch zu tragen hatte. Aber ich erinnere mich nicht mehr.«

»Haben sie das Kind bekommen, bevor sie hier weggezogen sind?«

»Nee. Ich schätze, sie waren das Haus leid, oder vielleicht auch einander. Sie sind eines Tages einfach gegangen, mit ein paar Koffern. Und nicht mehr zurückgekehrt.«

»Können Sie mir sagen, wie die beiden aussahen?«

»Nun, mittlerweile müßten sie sich natürlich sehr verändert haben. Aber damals… « Er dachte nach. »Das Mädchen war, mal abgesehen von ihrem Bauch, ein zierliches kleines Ding, braune Haare, hübsch, jung. Vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig. Er war viel älter. Na ja, vielleicht nicht viel älter, aber er sah älter aus. Vielleicht vierzig oder so. Seine Haare waren, soweit ich mich erinnern kann, ebenfalls braun. Jedenfalls das, was noch davon übrig war.«

»Er war kahl?«

»Fast. Schätze, seine Platte ist heute ziemlich blank gescheuert.«

»Wissen Sie noch, wann die beiden weggegangen sind?«

»Nicht genau. Aber das kann Mrs. Forebush Ihnen sicher sagen. Sie ist erst ein paar Wochen später eingezogen. Richtig nette kleine Dame, diese Mrs. Forebush. Richtig freundlich. Und ein richtig schnuckeliges kleines Weibsbild für ihr Alter.

Glauben Sie, die würde sich für einen älteren Mann interessieren? Älter als sie, aber jung im Herzen? Würden Sie sie das für mich fragen, Jungchen?«

»Das mach ich gern, Mr. Jenkins, aber irgendwie meine ich, daß Sie in den letzten fünfzehn Jahren doch selbst irgendwann mal Gelegenheit gehabt haben müßten, sie danach zu fragen.«

»Mein Junge, das hätte ich vielleicht tun können, aber so ganz das Richtige wär's wohl nicht gewesen, oder? Ich meine, wo ich doch schon eine Frau hatte. Meine Mrs., Gott sei ihrer Seele gnädig, sie ist erst vor vier Monaten gestorben. Ich hatte mir schon vorgenommen, mal mit Mrs. Forebush zu plaudern, aber das kann ich kaum tun, bevor eine schickliche Trauerzeit verstrichen ist, oder, hmm? Ich dachte nur, na ja, Sie wissen schon, wenn Sie auf gutem Fuß mit ihr stehen, könnten Sie da mal für mich vorfühlen. Das wäre doch nicht unmoralisch, nicht wahr?

Und dann hätte ich ein wenig mehr, das mich antreibt, etwas, worauf ich mich in den nächsten acht Monaten freuen kann.«

»Ich sag Ihnen, was ich machen werde. Wenn ich es irgendwie in das Gespräch einflechten kann, frage ich sie, wie sie über eine zweite Ehe denkt. Und wenn sie es in Erwägung zieht, mache ich Ihnen, wenn ich weggehe, ein Zeichen mit dem Daumen. Wir wär das?«

»Das wär wirklich nett, mein Junge. Irgendwie hat man den Eindruck, daß heute niemand mehr was für einen alten Mann tun mag. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar. Von ganzem Herzen.

Mächtig reizendes kleines Frauchen. Für ihr Alter.«

Als ich ging, salbaderte er im Geiste weiter. Mit jedem Schritt auf Mrs. Forebushs Haustür zu fühlte ich mich mehr und mehr wie ein Pandarus für Senioren.

Mrs. Forebush war zu Hause und überrascht, mich so früh zu sehen. Früher, als sie für gewöhnlich Besucher empfing, aber ich ließ mich nicht abwimmeln. Schließlich waren wir ja keine Fremden mehr. Ich blieb nur ein paar Minuten und erzählte ihr, woran ich arbeitete. Sie konnte nicht viel hinzufügen, außer daß sie am 14. September 1954 eingezogen war und der Vormieter vieles zurückgelassen hatte. Viel nicht, falls es die gesamte Ausstattung des Hauses gewesen sein sollte, aber viel dafür, daß er es einfach zurückgelassen hatte. Betten, und zwar jeweils eins in zweien der Zimmer, ein paar Möbel, Essen, Töpfe und Pfannen, Geschirr, Besteck, Laken und Bettzeug.

Es klang stark nach der Liste der Dinge, die Leander nach dem Ankauf des Hauses hergebracht hatte.

»Was haben Sie damit angefangen?« fragte ich sie. »Ich habe den ganzen Kram weggegeben. Der Heilsarmee. Bevor er ging, hat Mr. Crystal mir noch gesagt, daß ich mit dem Zeug machen könne, was ich wolle, daß es mir gehöre. Und weggeben war genau das, was ich damit machen wollte.«

»Und das Ausländeramt hat sich nur nach dem Mädchen erkundigt?«

»Ja.«

»Ich habe mit Ihrem Nachbarn auf der anderen Seite der Gasse gesprochen.«

»Der alte Mann. Sitzt den ganzen Tag vorne am Fenster und sieht zu, daß ihm nur ja nichts entgeht, was in dieser Straße passiert.«

»Seine Frau ist vor kurzem gestorben.«

»Ich weiß. Ich kannte sie nicht, aber wahrscheinlich war es die Anstrengung, all seine Ferngläser zu säubern und seine Bleistifte anzuspitzen.«

Ich verabschiedete mich.

Als ich die Treppe hinunter zu meinem Wagen ging, machte ich dem alten Mann das versprochene Zeichen mit dem Daumen.

An der Tür blieb ich stehen und ging dann zurück, um noch ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

»Sie mag mich also wirklich, hm?« Sein Gesichtsausdruck kam einem lüsternen Grinsen so nahe, wie es ohne Zähne möglich war.

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe sie bloß gefragt, ob sie jemals darüber nachgedacht hätte, noch mal zu heiraten, und sie sagte, das hätte sie.«

»Junge, Junge«, sagte er.

»Ich wollte Sie noch was anderes fragen. Sie führen nicht zufällig Buch über die Vorgänge hier in der Straße, oder? Wie zum Beispiel über Autos, die hier entlangfahren, und so weiter?«

»Na und ob! Warten Sie 'n Augenblick, mein Junge.« Ich wartete, halb ungläubig, halb hoffnungsvoll. Es würde ziemlich langwierig sein, Listen von vor fünfzehn Jahren registrierten Autos durchzugehen, aber ich konnte die Arbeit jemand anderem aufhalsen. Geld ist ein wunderbares Schmiermittel.

Er kam mit einem alten Hauptbuch und zeigte mir die erste Seite.

»Angefangen habe ich 1935. Mir war klargeworden, daß es Krieg geben würde. Ich dachte, irgend jemand könnte sich vielleicht für das Kommen und Gehen hier in der Gegend interessieren. Könnte doch nützlich sein. Sie wissen schon, wenn in jeder Straße einer war, der die Dinge im Auge behielt, dann ließ sich so vielleicht der eine oder andere Spion dingfest machen.«

»Könnte ich vielleicht etwas spätere Eintragungen sehen?«

»Sagen Sie ›Halt!‹, mein Junge.«

Er blätterte langsam weiter. Als er ungefähr drei Viertel des Buches hinter sich hatte, kam eine leere Seite. »Das war s.«   

»Mehr haben Sie nicht?« Die letzte Seite trug die Überschrift: »21. Dezember bis 31. Dezember 1949«

»Was wollen Sie, junger Mann? Da war der Krieg schon lange vorbei. Und meine Augen sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Hilft Ihnen das irgendwie weiter?«

»Ich fürchte, nein. Aber trotzdem vielen Dank. Ich bin Ihnen wirklich dankbar.«

»Ach, das geht schon in Ordnung. Hätte nie gedacht, daß es irgend jemandem viel nützen würde. Da hätte es schon ein ganzes Netzwerk von Leuten wie mir geben müssen.«

»Da haben Sie wohl recht. Aber machen Sie sich nichts draus.«

»Sagen Sie mal, junger Mann, jetzt, wo die Zeiten lockerer werden, meinen Sie nicht, daß da vielleicht sechs Monate Trauerzeit reichen würden?«

»Besser ist immer noch ein Jahr. Wer was auf sich hält, respektiert die Traditionen.«

»Das denke ich auch. Denke ich auch.« Ich wandte mich zum Gehen, und er blieb zurück und kratzte sich das Kinn.