Noch im Hausflur, auf dem Weg zu meinem Büro, sah ich, daß dessen Tür offenstand, weit offen, nicht nur einen Spaltbreit.
Mein Herz begann zu hämmern. Ich hasse Überraschungen, vor allem, wenn ich weiß, daß eine bevorsteht, aber nicht weiß, was oder in diesem Falle wer mich erwartet. Ob ich meine Verteidigung mobilisieren muß oder meinen Charme.
Ich dachte kurz darüber nach, einfach wieder zurückzumarschieren, bei den Cops vorbeizugehen und mit Miller zu reden. Widerstrebend entschied ich mich dagegen. Ich wollte Miller nach meinem abendlichen närrischen Anruf nicht mit einem persönlichen Auftritt zusätzlich unter Druck setzen.
Aber ich konnte auch nicht direkt ins Büro gehen. Also stattete ich meinem leerstehenden Nachbarbüro einen kurzen Besuch ab. Ich öffnete das Schloß und schlüpfte hinein. Es waren nur zwei schmutzige, leere Räume, abgesehen von den Verbesserungen, die ich im Umfeld der Badewanne vorgenommen hatte. Ich suchte mir die am wenigsten vergammelte Ecke aus und deponierte mein Notizbuch dort.
Dann den Satz Fotos, die ich in einem Manila-Umschlag bei mir trug. Dann mein Jackett mit seinen Taschen voller Einnahmen und Ausgaben.
Während der wenigen Schritte zurück zu der Mausefalle, die ich mein Zuhause nenne, fragte ich mich, wer oder was genau dort auf mich warten mochte.
Als ich durch die offene Tür spähte, kam mir ein Verdacht.
Mein Büro war leer.
Nach einer schnellen Bewegung, um festzustellen, ob irgend jemand hinter der Tür stand, ging ich so leise, wie ich konnte, hinein. Ich schlich auf Zehenspitzen zu meiner Wohnzimmertür hinüber. Auch sie stand offen. Bevor ich hindurchschaute, blieb ich stehen, um zu lauschen. Ich hörte nichts. Vielleicht hatte ich einfach, als ich am Morgen aus dem Haus ging, alle Türen offengelassen. Obwohl ich versuche, auf solche Dinge zu achten, könnte es mir passiert sein. Ich rahmte mir im Geiste ein Bild von mir selbst, wie ich auf Zehenspitzen durch meine eigene leere Wohnung schlich. Ein Beschatter, der sich vor seinem eigenen Schatten fürchtete.
Aber wie soll ein Mann leben, wenn er sich nicht ernst nimmt?
Ich schlich weiter in mein Hinterzimmer.
Mein Eßzimmersessel war umgedreht, zum Fenster herum.
Auf eine seiner breiten Ulmenarmlehnen hing ein Kopf mit walnußfarbenem Haar herunter.
Er rührte sich nicht. Ich stand, wie mir schien, eine Ewigkeit dort, und der Kopf rührte sich nicht.
Ich sah mich im Zimmer um. Keine anderen Leute, und auch ansonsten anscheinend unberührt. Ich warf noch einen Blick auf den Hinterkopf meiner früheren Klientin. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich tun sollte. Ich schlich mich, immer noch auf Zehenspitzen, zu ihr.
Ich schaute in ihr Gesicht. Augen geschlossen, bleich. Reglos.
Ich nahm ihre Hand. Sie war warm.
Sie öffnete die Augen und schaute in meine. Ließ ihre Hand in meiner und reckte sich langsam. Und wachte langsam auf.
»Ich bin schon eine ganze Weile hier«, sagte sie. Der Schlaf verlieh ihrer für gewöhnlich so gewandten Redeweise etwas Benommenes. Ich ließ ihre Hand los, wich vorsichtig ein Stückchen zurück und setzte mich vor sie auf den Fußboden.
Was unvermeidlicherweise dazu führte, daß ich ihr unter den Rock schaute. Das machte mich verlegen, also stand ich auf und setzte mich statt dessen aufs Fensterbrett. Von dort aus lenkte mich der tiefe Ausschnitt ihres Kleides ab. Sie zeigte eine ganze Menge Teenagerdekollete.
Das machte mich auch verlegen. Ich holte mir meinen Telefonstuhl und schob ihn vor sie hin. Weder drüber noch drunter. War zauberhaft. Meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf ihre Triefaugen und ihre Blässe.
Sie setzte sich gerade hin. »Ich wollte wissen, was Sie tun.
Und warum«, sagte sie.
»Ich sehe, daß Sie eine harte Zeit hinter sich haben. Probleme zu Hause?«
»Ja, seit Sie angefangen haben rumzuschnüffeln.« Sie verfiel in Schweigen, während wir beide über die Tatsache nachgrübelten, daß ursprünglich sie diejenige ge wesen war, die mich zum Schnüffeln veranlaßt hatte.
»Ich will, daß Sie aufhören«, sagte sie mit endgültigem Tonfall.
»Daß ich womit aufhöre?« fragte ich. Und sie fing an zu weinen. Und blieb beim Weinen.
Ich bin sicher, es war alles echt und so weiter. Aber ich bin keiner von denen, deren steinerne Herzen von Tränen Risse kriegen. Wenn sie zu meiner Familie gehört hätte, hätte ich ihr befohlen, den Mund zu halten oder im Flur weiterzuweinen. Da sie jedoch eine Art Gast war, ließ ich sie weitermachen, denn das Geheul war nicht laut genug, um die Nachbarn zu stören.
Nicht daß man in diesem Drecksloch überhaupt jemanden stören könnte. Und Nachbarn hatte ich auch nicht. Mit den fünfzigtausend Dollar wäre es sicher kein Problem gewesen, meinen Heimathafen in freundlichere Gewässer zu verlegen.
Während sie sich ausweinte, machte ich uns eine Kanne Tee.
Das Teemachen dauerte gerade lange genug. Ich goß mir einen Becher und ihr eine Tasse ein. Ich stellte ihre Tasse auf ein kleines Tablett, setzte ein kleines Glas Milch drauf, eine Zuckerdose und einen Löffel daneben und stellte das Tablett auf die Armlehne des Sessels. Es war gerade genug Zeit verstrichen.
Das weiß ich, weil sie ein »Danke schön« schniefte. Wenn ich früher aufgetaucht wäre, hätte sie gar nichts gesagt und das Tablett vielleicht mit ihren Krämpfen und Qualen heruntergestoßen.
Aber vielleicht auch nicht. Der Sessel hat eine ziemlich breite Armlehne, und Tabletts darauf haben guten Halt. Ich setzte mich wieder auf meinen Telefonstuhl.
Sie betrachtete den Tee eingehend und ließ dann mit einem kleinen Seufzen etwas Zucker aus der Dose in den Löffel rieseln. Zwei Löffel Zucker, dann Milch. Ich nehme Milch; ich kann Zucker in heißem Tee nicht ausstehen. Aber jeder, wie er mag. Sie verschüttete auch etwas Zucker auf dem Tablett, was sie vermieden hätte, wenn sie den Zucker über der Tasse auf den Löffel gegeben hätte. Das Kind hatte keine besonders manierlichen Angewohnheiten. Männer, die allein leben, werden in dieser Hinsicht pingelig. Ich muß bald Schluß machen mit dem Alleinleben. Es unterwandert, was von meiner charmanten und zartfühlenden Persönlichkeit noch übrig ist.
Sie rührte in ihrem Tee, und dieses Tun verwandelte sie wieder in eine Kindfrau. Als solche versuchte sie sich an einem Eröffnungszug. »Ich dachte, daß Sie mich früher ganz gern hatten.« Sie blickte mit großen, feuchten, braunen Augen zu mir auf. Das Weinen hatte etwas Farbe in ihr Gesicht gebracht. Sie sah gar nicht schlecht aus, aber ich konnte mir kaum ein Lachen verkneifen. Wenn ich wirklich an einer Sache dran bin und die Sache mich gepackt hat, dann bin ich ein richtiger kaltherziger Mistkerl.
»Ich mochte Sie auch. Tu ich immer noch. Sie waren ein guter Boss.«
Sie spielte ihre Rolle voll aus, wandte sich ab, schniefte, alles, was dazugehörte. »So hab' ich das nicht gemeint.«
»Ich weiß«, sagte ich. Aber obwohl ich niemals Tiere trete, bin ich nicht immer nett zu Kindern. »Sie wollen, daß ich aufhöre. Womit soll ich Ihrer Meinung nach aufhören?«
»Mit allem, was Sie tun, egal, was es ist.«
»Ist es schlimm zu Hause?«
»Ich weiß nicht, was los ist, aber alle sind einfach schrecklich.
Mami hat alle möglichen Anfälle, und ihr Arzt sagt, sie soll im Haus bleiben, und kommt alle paar Tage von Lafayette rüber, um nach ihr zu sehen. Und Daddy weiß einfach nicht mehr weiter.«
»Und Sie glauben, es ist alles Ihre Schuld, weil Sie mich auf diese Sache angesetzt haben.«
»An dem Tag, an dem Sie rübergekommen sind und mit ihm gesprochen haben, dachte ich, es wäre alles vorbei. Und alles besser. Ich meine, Daddy hat an diesem Tag zum ersten Mal so mit mir gesprochen, als wäre ich kein kleines Mädchen. Und er hat gesagt, daß jetzt alles besser würde und daß er sich wirklich um Mami kümmern würde und um alles andere. Und immerhin haben Sie rausgefunden, was ich wissen wollte. Ich verstehe nur nicht, warum Sie noch weiter rumschnüffeln.«
Und mir wäre es wirklich schwergefallen, es ihr zu sagen. Ich wollte die Geschichte, die man ihr erzählt hatte, nicht voreilig demontieren. Nicht, bevor ich eine vollständige Geschichte hatte, die ich an die Stelle der alten setzen konnte. Aber sie bedrängte mich.
»Warum tun Sie das?« fragte sie.
»Ich lasse mich nicht gern belügen«, sagte ich. »Wer hat Sie belogen?« fragte sie scharf.
»Ich habe nicht gesagt, daß jemand es getan hat.«
»Wer hat Sie belogen?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Nicht mein Vater! Er hat Sie nicht belogen.« Ich bemerkte, daß sie ihre terminologischen Probleme im Hinblick auf Leander Crystal entwirrt hatte.
Sie ging mir auf die Nerven. »Ich habe nicht gesagt, daß mich irgend jemand belogen hat, ich habe gesagt, ich lasse mich nicht gern belügen, und das bedeutet, daß ich, wenn man mir eine Geschichte erzählt, diese Geschichte überprüfe, um sicherzugehen, daß man mich nicht belogen hat. Und genau das tue ich im Augenblick, und genau das werde ich auch weiterhin tun. Und außerdem«, fügte ich hinzu, weil ich mich so verdammt ekelhaft selbstgerecht fühlte, »ich hab's nicht gern, wenn man in mein Büro einbricht.«
»Wer ist in Ihr Büro eingebrochen?«
Ich seufzte und antwortete bedächtig: »Jemand, der sich nur für eine Akte mit der Überschrift ›Crystal‹ interessierte. Was glauben Sie, wer das war?«
Sie war offensichtlich erschüttert. »Und daraufhin haben Sie den Scheck zurückgeschickt?«
Warum die Dinge komplizieren; technisch gesehen war es die Wahrheit, auch wenn ich den Entschluß vorher getroffen hatte.
»Daraufhin habe ich den Scheck zurückgeschickt«, sagte ich.
»Und Sie glauben, er hat es getan?«
Als Lehrer im Fach ›Grundsätzliches für Detektive‹ fühlte ich mich deplaziert. »Ich nehme an, daß es der Nikolaus gewesen ist, weil er die Adresse Ihres Schornsteins vergessen hat.«
»Sie brauchen gar nicht so gemein zu werden.«
»Ich weiß. Ich bin einfach nur müde.«
»Ich muß Sie langweilen«, sagte sie mit einem Ausbruch von Gefühl, »ich muß Sie ganz schrecklich langweilen.«
Ich verstehe einfach nicht, wie es kommt, daß ältere Männer sich mit jungen Mädchen einlassen. Sie sind so verdammt unzuverlässig. Oder vielleicht liegt es gerade daran, daß sie sich verändern, daß sie nicht Tag für Tag, Minute um Minute gleich sind. Aber mich laugt so was aus.
»Machen Sie sich deswegen mal keine Gedanken, kleine Dame«, sagte ich mit so viel Freundlichkeit, wie ich aufbringen konnte. »Es tut mir leid, wenn meinetwegen im Hause Crystal die Wellen hochschlagen, aber das ist zu diesem Zeitpunkt ganz bestimmt nicht mehr Ihre Schuld. Schieben Sie mir die Sache in die Schuhe. Ich bin auf) eden Fall ziemlich pervers, was diese Dinge betrifft, wenn Sie den Ausdruck kennen. Das ist auch der Grund, warum ich nicht reich bin.« Wie wahr! »Ich werde versuchen, es so schmerzlos wie möglich zu machen. Versuchen Sie mir zu vertrauen, wenn Sie können, und wenn Sie's nicht können, dann hoffe ich nur, daß Sie begreifen, daß Sie nichts dagegen tun können.«
»Nichts?« fragte sie. Ich wußte, was sie dachte. Ich glaubte zu wissen, was sie dachte. »Absolut nichts.«
»Okay«, sagte sie. Sie stand auf, ging zur Tür und drehte sich dann noch mal um. »Ich fühle mich besser. Ich weiß nicht, warum, aber ich fühle mich viel besser.« Ich nickte wohlwollend. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Danke für den Tee. Er war recht gut.« Sie ging.
Ich fühlte mich auch besser. Ich wußte, warum. Nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tatsache, daß mir, ganz gleich, wie das alles ausging, diese letzte Begegnung mit ihr viel besser gefiel als das angespannte, verbitterte kleine Mädchen, mit dem ich im Haus der Crystals gesprochen hatte. Damals war sie mir so unsympathisch gewesen, daß ich sie buchstäblich vollkommen vergessen hatte. Obwohl ich wünschte, ich hätte ihr gesagt, sie solle ihr Mäulchen halten, wenn sie nach Hause kam.
Ich fand langsam wieder Geschmack an meiner kleinen Klientin. Meiner ehemaligen Klientin.