Ich hatte keine Ahnung, daß Besuch auf mich wartete, bis ich mein Büro betrat. Ich hatte ihren Wagen nicht gesehen; ich hatte sie nicht dumm daherreden hören. Nichts.
Cops. Jede Menge Cops. Will sagen, drei Stück. Nur, daß sie mehr zu sein schienen, da ich keinen von ihnen kannte, weder die beiden uniformierten Gentlemen noch den in Straßenkleidung.
Laut sagte ich: »Wie schon mein Vater nach meiner Geburt zu meiner Mutter sagte: Das habe ich nun wirklich nicht erwartet.«
Ich war voll darauf gefaßt, auch noch den Rest meiner besten Sprüche anzubringen. Ich bekam keine Chance. Die Fremden waren nicht unbedingt freundlich.
»Wo zum Teufel sind Sie gewesen? Wir suchen jetzt schon seit anderthalb Stunden nach Ihnen«, sagte der Gentleman in Straßenkleidung.
»Hätte ich gewußt, daß Sie kommen, hätte ich einen Kuchen gebacken«, sagte ich. Ich verstehe mich recht gut auf die Erwiderung spontaner, freigebiger Gastfreundschaft. Ich hatte sie nicht eingeladen.
Der Herr in Straßenkleidung übernahm auch weiterhin das Reden. Dafür war ich dankbar. Ich vertrete schon seit langem die Auffassung, daß man Streifenpolizisten sehen und nicht hören sollte. Und ich rede viel lieber mit Leuten, deren Waffen unter einer Schicht billigen Anzugstoffs versteckt sind. Für mich gilt da: Aus den Augen, aus dem Sinn.
»Na schön, erzählen Sie uns die Geschichte«, sagte er. Bei jedem anderen hätte ich mit Goldlöckchen und den drei Bären angefangen. Aber das hätte ihnen nicht gefallen.
Ich hatte einen aktiven Tag hinter mir, jede Menge Fahrten und Gespräche und Grübeleien. Mir war nicht danach zumute, meinen Atem zu verschwenden.
Ich begab mich auf die Dienstseite meines Schreibtisches und setzte mich. Der Streifenpolizist, der auf der Schreibtischkante saß, verstand nicht gleich, also manövrierte ich meinen rechten Fuß in eine freundliche, aber unmißverständliche Position an seinem Hinterteil.
»Okay. Ihr beiden Bären setzt euch auf den Fußboden und laßt euch eine Portion Haferbrei schmecken. Und Sie, der Bär mit den Straßenkleidern, weisen sich bitte aus und erzählen mir dann, was in drei Teufels Namen hier los ist.«
Ich muß vertrauenerweckend wirken. Sie taten, was ich ihnen sagte. Der Cop in Straßenkleidern zeigte mir den Ausweis für einen Captain Wilson Gartland. Die Uniformen gingen zur Tür und setzten sich auf eine Bank, die ich dort stehen habe. Den Namen Gartland kannte ich. Ich sprach hier mit Millers höchsteigenem Captain.
Man kann nicht behaupten, daß er die Freundlichkeit in Person gewesen wäre. Nachdem er seinen Ausweis wieder eingesteckt hatte, nahm er meine Füße und warf sie vom Schreibtisch.
»Hören Sie mir zu, Samson, und hören Sie gut zu. Wir haben hier einen Mord, und wir wollen wissen, was Sie damit zu tun haben.«
»Einen Mord?« Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber das jedenfalls nicht.
»Soll ich's für Sie buchstabieren?«
Alles, was ich sagte, war nein. Echte Menschen haben nichts mit Morden zu tun, schon gar nicht mit gewaltlosen. Das haute meine rosige, kleine, tagträumerische Vorstellung von den Dingen völlig um.
Gartland nahm keine Rücksicht auf meine Überraschung. Er schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. »Glauben Sie mir, Samson, Sie versuchen besser erst gar nicht, mir dumm zu kommen.«
Wenn ich einen Grund hätte nennen sollen, warum er auf diese Weise in mein Leben einbrach, hätte ich wohl vermutet, Gartland habe etwas dagegen, daß ich mir über Miller Informationen beschaffe, und sei gekommen, um mir deswegen Schwierigkeiten zu machen.
»Bitte«, sagte ich, »fangen Sie doch vorne an. Wer?« Ich schätze, Cops hören das Wörtchen ›bitte‹ nicht sehr oft.
Gartland sagte: »Sie haben einen meiner Männer veranlaßt, einen Satz Fingerabdrücke mit denen einiger Leichen zu überprüfen, und er landet einen Volltreffer. Eine Leiche, die seit sechzehn Jahren unidentifizierbar rumliegt, und Sie kommen eines schönen Tages daher, und Bingo! Erwarten Sie von mir, daß ich Ihnen glaube, Sie wüßten nicht, was da los ist? Also, raus damit, Schnüffler! Sie können es hier loswerden oder bei uns in der Stadt.«
In der Not wurde er banal. Wir waren bereits in der Stadt, soviel zum ersten - nur nicht in seinem Haus. Und der Ausdruck ›Schnüffler‹ ist seit der Zeit der Tournure aus der Mode gekommen. Aber ich verzieh ihm. »Wo ist Miller?« fragte ich.
»Ich habe den Fall selbst übernommen.«
Das erschien mir nicht vernünftig.
»Ich rede mit niemandem außer Miller.«
»Das ist doch nicht zu fassen!« Ich schätze, ich hatte seine Gefühle verletzt, aber ich konnte sehen, was er dachte. Er wog ab, was wichtiger war - Miller einen sechzehn Jahre alten Mordfall zu überlassen, gegen die Bequemlichkeit, die es bedeutete, mich nicht kleinkriegen zu müssen.
Ich warf ihm einen Brocken hin. »Ich werde Miller alles sagen, was ich weiß.« Ich war froh, daß ich beim Reinkommen den harten Burschen gespielt hatte. Ich wußte, daß er mich im Handumdrehen hätte kleinkriegen können, aber er versuchte es gar nicht erst. Ich bin leicht kleinzukriegen, weil ich mich vor Waffen fürchte. Nicht, daß die Cops in Indianapolis rumliefen und auf Zeugen in Mordfällen schössen. Jedenfalls normalerweise nicht. Nicht auf weiße Zeugen. Nicht, bevor sie die Informationen aus ihnen rausgekriegt haben.
»Sie bringen mich zu Miller«, sagte ich, »und ich spucke alles aus, was ich weiß.« Wie ein richtiger Schnüffler. Gartland seufzte. Er winkte seine uniformierten Verbündeten heran.
»Bringt ihn aufs Revier«, sagte er in einem Tonfall, der sich wie eine Drohung anhörte, obwohl er mir in Wirklichkeit nachgab.
Raffinierte Burschen, diese Captains.
Von meinem Büro zur Cop-Zentrale fuhren wir keine zwei Blocks weit, aber sie sprachen kein Wort mit mir. Ich war dankbar für das Schweigen. Es gab mir eine kleine Chance, mich neu zu orientieren. Vor allem im Hinblick auf Leander Crystal. Entweder er hatte mich ein zweites Mal reingelegt, oder er hatte nicht alles gewußt, was vorging. Ich bildete mir eine ungefähre Vorstellung davon, wie ich die Sache durchziehen wollte, und ich war froh, daß Miller mir etwas schuldete, weil ich dafür gesorgt hatte, daß er den Fall wiederbekam.
Miller war nicht schwer ausfindig zu machen. Es gibt niemanden, der seine Anwesenheit deutlicher kundtut als ein Mann, dem man einen großen Fall weggenommen hat, der aber glaubt, es könne eine ganz leise Hoffnung bestehen, ihn wiederzubekommen. Ich war seine Hoffnung. Wirklich rührend, und ich konnte ihn immer noch zusätzlich damit unter Druck setzen, daß ich von seinen Autodiebstählen als jugendlicher wußte.
Gartland überließ mich ihm nur widerwillig. Und sein Widerwille wuchs, als er herausfand, daß ich allein mit Miller reden wollte. Aber zu guter Letzt scheuchten wir die überflüssigen Uniformen weg und hatten einen freundschaftlichen Schwatz.
»Wo?« fragte ich ihn.
»Die Fingerabdrücke deiner Ausländerin paßten zu einer Leiche in New York.«
Ich nickte, als hätte ich das bereits gewußt. Er griff nach einem Blatt Papier.
»Eine bis dahin nicht identifizierte weibliche Leiche, die im Central Park in New York entdeckt worden war. Am 23.November 1954. Eine Weiße. Alter zwischen zwanzig und dreißig. Eins sechzig. Braunes Haar. Haselnußfarbene Augen.
Seit einigen Tagen tot. Schädelfraktur und Verstümmelungen.
Sie wurde wahrscheinlich k. o. geschlagen, erwürgt und dann zwischen Taille und Knien in Streifen geschnitten.«
Diese Botschaft entsetzte und schockierte mich. Ich wiegte mich auf meinem Stuhl hin und her.
»New York hat einen kurzen Vermerk mitgeschickt. Die Fingerabdrücke der Leiche seien nie vom FBI überprüft worden - dort werden die Fingerabdrücke der Ausländer archiviert-, weil es keinen Grund zu der Annahme gab, die Frau sei Ausländerin gewesen. Nach dem Fundort und dem Zustand der Toten glaubte man, es habe sich um eine Hure gehandelt, die irgendein Wahnsinniger zerstückelt hatte. Da niemand nach ihr suchte, habe man den Fall ungelöst, zu den Akten gelegt.«
Ich nickte grimmig. Jeden Augenblick werden irgendwo auf der Welt irgendwelche Leute getötet. Es macht einem nichts aus, weil man nichts darüber weiß. Dieser Mord vor sechzehn Jahren machte mir furchtbar viel aus. Ich wußte Dinge darüber, Dinge, die andere Leute nicht wußten. Wie zum Beispiel, warum sie getötet wurde, wer sie gewesen war und warum sie zu diesem speziellen Zeitpunkt auf diese spezielle Art und Weise getötet worden war.
»Al, New York will wissen, wie wir auf Annie Lombard gekommen sind. Und das Justizministerium ebenfalls.«
»Alle wollen es wissen, wenn ich den Blick in deinen Augen richtig deute.«
»Ich kann nicht dagegen an, Al. Du weißt, was das für mich bedeuten könnte. Du weißt es wahrscheinlich besser als irgend jemand sonst.«
Ich wünschte, ich hätte ihn in diesem Augenblick zum Schweigen bringen können. Ich wußte durchaus, was es für ihn bedeutete. Aber ich wünschte, daß ich 1954 hätte da sein und es verhindern können, denn es kann nicht besonders schön gewesen sein. Ich wünschte, ich könnte dafür sorgen, daß die Milliarden Menschen, die jeden Tag herumgeschubst werden, sich das nicht mehr gefallen lassen müssen. Ich wünschte, ich wäre nicht unwichtig für jeden außer mir, und ich wünschte, ich würde nicht eines Tages sterben.
Ich sagte: »Ja, ich weiß. Ich habe mir gerade überlegt, wie wir die Sache angehen. Es gibt Leute, die ich nicht verletzen möchte.«
»Dieses Mädchen, Annie Lombard, wurde auf die schrecklichste Art und Weise verletzt, Al.«
Diese Platitüde machte mich maßlos wütend. Wer zum Teufel wußte das besser als ich? Wer wußte besser Bescheid über die Fotos des Mädchens in den fortschreitenden Stadien der Schwangerschaft, und wer wußte besser über ihre Tochter Bescheid?
»Zieh jetzt hier nicht die Bullenmasche ab, Jerry. Tu's nicht.
Du wirst die Lorbeeren für diese Sache ernten, aber es geht auf meine Weise oder gar nicht. Die Sache schmort jetzt seit sechzehn Jahren, und bei Gott, wenn du nicht aufpaßt, kann sie noch mal sechzehn Jahre schmoren.«
Als ich das sagte, meinte ich es wirklich, aber ich brauchte nicht lange, bis mir all die Unterlagen und Akten wieder einfielen, die ich rumliegen hatte, ganz zu schweigen von meinem Notizbuch. So aufbereitet, konnte sogar Gartland sich genug zusammenreimen.
Miller spürte meinen Gefühlsaufruhr, aber er hatte auch seine eigene Situation im Auge. »Es ist schwer. Das weißt du.«
»Quatsch. Ich mußte dich zuerst zwingen, das ganze Zeug für mich zu beschaffen, und jetzt führst du dich auf, als wäre das Ganze deine Idee gewesen. Nur weil ich darüber gestolpert bin, heißt das nicht, daß du blöder bist als irgend jemand sonst oder dich weniger zum Lieutenant eignest.«
Endlich hatten wir geredet. Es ist eine der Tatsachen des Lebens, daß Freunde nicht perfekt sind. Aber man lernt, die Risse zu kitten. Eine kleine Sauftour. Ein paar Erinnerungen.
Es klopfte an der Tür. Gartland schob sein Gesicht rein. Es schienen nur Sekunden vergangen zu sein, seit wir ihn das letzte Mal gesehen hatten. Wenn Miller noch irgendwelche Bedenken bezüglich unserer Abmachung gehegt hatte, hatte Gartlands stirnrunzelnde Visage sie weggewischt.
»Verschwinden Sie«, sagte Miller zu seinem Captain.
»Wir lassen Sie wissen, wenn wir soweit sind.«
Das Gesicht zog sich zurück, und wir kamen zur Sache. Ich gab ihm alles, im wesentlichen so, wie Leander es mir erzählt hatte. In chronologischer Reihenfolge, nicht so, wie ich es herausgefunden hatte.
Dann sagte ich, daß ich mit ihm zusammen Leander Crystal aufsuchen wolle.
»Aber er hat dich belogen, bis es dir zu den Ohren rauskam«, sagte er.
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte ja auch keinen großen Gesamtplan, nach dem ich alle Schuldigen ausfindig machen und alle Unschuldigen von jedem Verdacht reinigen konnte.
Aber ich wollte noch einmal mit Crystal reden, bevor wir ihm den Boden unter den Füßen wegzogen. Ich mußte eine Chance bekommen herauszufinden, ob ich mit meiner intuitiven Reaktion - dem Mann zu vertrauenwirklich so weit daneben gelegen hatte, wie es schien. Eines der Dinge, die Kinder von Erwachsenen unterscheidet, ist die Zuversicht, eigene Werturteile zu fällen und ihnen anschließend zu vertrauen.
Wenn ich beschließe, jemandem zu vertrauen, verwirrt es mich, wenn dieser jemand sich als nicht vertrauenswürdig erweist.
Miller war der Meinung, wir sollten einfach die ganze Bagage einsammeln und alles andere später klären.
Aber er ging auf meine Wünsche ein. Das war der Deal. Wir gingen hinaus und erzählten es Gartland. Wenn Miller die Sache schon Mißfiel, Gartland trieb sie auf die Palme. Aber da er immer noch keine Einzelheiten wußte, konnte er lediglich lautstark darüber räsonieren, was mit Miller passieren würde, falls etwas schiefging.
Miller gab sich cool. Was blieb ihm auch anderes übrig, als sich meinen Wünschen zu fügen, sagte er zu Gartland. Sowenig es ihnen beiden gefiel, ich hatte in dieser Sache die Trümpfe in der Hand. Und seiner Meinung nach würde ihnen, falls sie nicht schnell etwas unternahmen, der Mörder durch die Lappen gehen.
Das Ganze war eine hintergründige Erinnerung daran, daß Gartland sich dafür entschieden hatte, Miller wieder in die Sache reinzubringen, und daß die Konsequenzen er und nur er allein zu ziehen habe.
Wir erbaten und bekamen vier Streifenpolizisten und zwei Autos.
Wir gingen. Zurück blieb Gartland auf seiner Palme.