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Das Telefon weckte mich. Ich bin nicht so gescheit, es mir ans Bett zu stellen - oder vielmehr das Bett ans Telefon, da dessen Schnur sehr kurz ist. Wenn es läutet, muß ich mich aufraffen.

Dr. Fishmans Sekretärin war am Apparat und sagte: »Ich verbinde Sie mit Dr. Fishman.« Unter den gegebenen Umständen schien mir das eine sehr komplexe Aussage zu sein.

Ich murmelte etwas und versuchte verzweifelt, mir ins Gedächtnis zu rufen, in welchem Teil des Raumes ich mich befand und wo es in diesem Raum eine Uhr gab. Der Tag stand unter einem guten Stern; ich entdeckte die Uhr. Sie zeigte auf fünf nach acht. Wäre das Telefon am Bett gewesen, hätte ich es unter das Kopfkissen gesteckt.

»Mr. Samson? Ich glaube, Sie haben mich angerufen.«

Richtig! Und jetzt lassen Sie mich in Frieden! »Ihr Betrieb arbeitet ja sehr effizient, Doktor.«

»Das tut er.« Seine Stimme klang viel jünger, als ich erwartet hatte. Und kräftig. Sie riß mich aus meinem frühmorgendlichen Dämmerzustand. »Und wer sind Sie?«

»Ich schreibe einen Artikel über die Familie Estes Graham, über deren Vergangenheit und die Nachkommen. Ich interviewe Leute, die die Familie kennen oder gekannt haben. Und soviel ich weiß, sind Sie ihr Arzt.«

»Das bin ich, und vor mir war es mein Vater. Aber was, glauben Sie, werde ich Ihnen erzählen?«

»Ihre Eindrücke von der Familie, Anekdoten, alles mögliche habe ich mir erhofft.« Für den Anfang. »Haben Sie die Genehmigung der Crystals eingeholt?«

»Ich habe nicht um eine Genehmigung nachgesucht.« Sie unangenehmer Mensch. »Es soll eine Geschichte für die Sonntagsausgabe des Star werden. Und als solche fällt sie unter Nachrichten und wird auf jeden Fall geschrieben. Deswegen halten wir es für das beste, nicht erst um eine Erlaubnis zu bitten. Es entspräche nicht unserem Berufsethos, da ja ohnehin weitergemacht wird, ganz gleich, ob mit oder ohne ausdrückliche Zustimmung.«

»Ich verstehe. In diesem Fall, fürchte ich, werde ich nicht in der Lage sein, Ihnen zu helfen. Das verstößt nämlich gegen mein Berufsethos.«

»Ich erwarte nicht von Ihnen, daß Sie irgendwelche Vertraulichkeiten ausplaudern.« Ich erwarte es nicht, sondern würde einfach darum bitten. »Und es soll kein kritischer Artikel werden.«

»Mr. Samson, solange ich nicht durch gerichtliche Vorladung dazu gezwungen oder von der Familie Crystal eigens dazu gedrängt werde, werde ich weder über Estes Graham und die Crystals noch über irgend etwas anderes mit Ihnen reden. Ob Sie eine Geschichte für den Star oder für den lieben Gott schreiben, interessiert mich nicht. Ich glaube nicht, daß wir noch etwas zu besprechen haben.«

Dieser ungehobelte Bastard. Menschen sind unberechenbar.

Er sagte noch nicht einmal auf Wiederhören. Oder guten Morgen. Ich spürte den geistigen Mangel an Gemeinsinn, der im zwischenmenschlichen Umgang herrscht. Und ich spürte einen körperlichen Mangel: soll heißen, mir fehlte ein gutes Frühstück. Nahrung macht einen wichtigen Teil meines Lebens aus. Ich nehme gerne täglich etwas zu mir. Aber der Kühlschrank hielt nichts bereit, um dem unsanften Erwachen und dem völligen Mangel an Hilfsbereitschaft, wie berechtigt er auch sein mochte, ihre bittere Schärfe zu nehmen. Manchmal kommt es mir so vor, als sei ich nicht dickfellig genug für meinen Job.

Also gut.

Ich knabberte einen Toast und entwarf einen Plan.

Ich hatte mich letzten Abend für Fishman vor Shubert und den Schwestern entschieden, und es war eine schlechte Wahl gewesen. Also würde ich meinen Fehler heute morgen berichtigen und über dieses Mißgeschick, diese Peinlichkeit triumphieren.

Eine Viertelscheibe Toast später machte ich mich auf den Weg zur Eloise' High School.

Die Central ist die ›neue‹ öffentliche High School der Stadt, die zur Zeit ›in‹ ist. Strenggenommen liegt sie nicht zentral, sondern nördlich der Innenstadt in Jefferson, wo die Reichen zu Hause sind. Die Schule hat den größten Schülerparkplatz der ganzen Stadt.

Von meinem Büro zur Central ist es zu Fuß zu weit. Ich ging durch die Hintergasse, die mein Büro vom Stadtmarkt trennt, und zischte mit meinem knalligen 58 er Plymouth los. Auf zur Central.

An der Tür wurde ich von einer ältlichen Frau ins Gebet genommen, deren Stimme um zehn nach neun am Morgen schon wie Abend klang. Sie blickte beim Sprechen nicht auf.

»Ziemlich spät dran, nicht wahr? Hast du eine Genehmigung?« Sie saß an einem Tisch neben dem Eingang und sortierte Papiere.

»Gerade zur rechten Zeit, würde ich sagen.«

Aber selbst nachdem sie aufgeblickt hatte, gab es noch Komplikationen. Offenbar kommt kaum jemand in die Schule, um einen gewöhnlichen Lehrer zu sprechen. Sie wollen zum Schulleiter, zum Basketballtrainer, zu den Studienberatern oder, Gott behüte, zu den Kindern.

»Wir sind mitten in der Unterrichtsstunde«, sagte sie. »Das wußte ich nicht.«

Sie zuckte die Achseln und ließ mich durch. Ich sah ganz proper aus, aber das interessierte sie gar nicht. Ihre Aufgabe war es, säumige Schüler auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.

Ich schlenderte durch die Eingangshalle, bis ich schließlich eine Tür mit dem Schild LEHRERZIMMER fand. Ich ging hinein, in eine Art Klassenzimmer mit verschmutzten Pulten, die zu Reihen aufgestellt waren. Da sah man doch sofort den Fortschritt der modernen Pädagogik. Zu meinen Zeiten waren die Pulte auf dem Boden angeschraubt gewesen.

Hier saßen Männer und Frauen in den Ecken und rauchten, und vorn, wo man einen gestikulierenden Lehrer erwartet hätte, stand eine Kaffeemaschine.

Ich näherte mich einer wohlgemuten Brünetten im Minirock, in deren Haarpracht sorgfältig blonde Strähnen verteilt waren.

Sie drückte drei Knöpfe auf der Maschine gleichzeitig. Kaffee schwarz. Portion Milch. Portion Zucker.

»Das ist die einzige Möglichkeit, Milch und Zucker von dieser Maschine zu bekommen«, sagte sie. »Sind Sie eine Vertretung? Ich schätze, Sie suchen den Zigarettenautomaten.

Wir haben keinen. Der Schulinspektor hat ihn entfernen lassen, als dieser ganze Krebsquatsch anfing. Ich würde Ihnen eine von meinen mitgeben, aber ich habe nur noch zwei, und die meisten Männer mögen sowieso kein Menthol.« Sie blickte mich von unten an, als sei nun ich an der Reihe.

»Ich wollte eigentlich einen Lehrer hier treffen. Mr. Shubert.

Einen Biologielehrer.«

»Ah, Johnny. Der Verheiratete. Der wird erst in der dritten Stunde frei sein. Das heißt, wenn die Pause nach der zweiten Stunde und die ›Klassenstunde‹ vorbei sind.«

»Zu welcher Uhrzeit wird das ungefähr sein?«

»Sie sind also gar keine Vertretung, oder?«

»Nein, bin ich nicht.«

»Oh. Wirklich zu schlimm!« sagte sie und versuchte rätselhaft zu klingen. Wahrscheinlich verfiel sie nur in ihr Berufsgehabe.

»Die ›Klassenstunde‹ dauert ungefähr noch eine halbe Stunde.

Dann müßte er eigentlich kommen. Er ist noch nicht alt genug, um irgendwo anders hinzugehen, und er ist auch nicht einer dieser überkandidelt intellektuellen Typen.«

»Gut«, sagte ich, ohne die Hürden, die ich da genommen hatte, überhaupt zu kennen.

Sie nahm ihren Kaffee, der bis dahin in der Maschine gestanden hatte und abgekühlt war, und begab sich damit zu einer rein männlichen Gruppe am anderen Ende des Raumes.

So daß ich schließlich mit der Morgenausgabe des Star allein im Lehrerzimmer der Central High School sitzen blieb.

In den vierzig Minuten, bis John Shubert eintrat, herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, aber kein Mensch sprach ein Wort mit mir.

Nein. Das ist nicht vollkommen richtig. Fünfundzwanzig Minuten nachdem ich mich gesetzt hatte - als ob er wüßte, daß ich bei ›flüssigkeitsdurchtränkt‹ mit vier Buchstaben hängengeblieben war -, erwachte ein Lautsprecher in der Decke zum Leben. Eine Glocke läutete, und eine tiefe, klangvolle Stimme, verunstaltet nur vom schweren, nasalen Akzent des Provinzlers aus Indiana, begrüßte uns Jungen und Mädchen und wies uns an, uns zum Fahneneid zu erheben. Die Lehrer im Lehrerzimmer zuckten nicht einmal mit der Wimper. Entweder war ihnen bewußt, daß sie nicht gemeint waren, oder sie waren einfach abgestumpft allem gegenüber, was um sie herum vorging. Wie dem auch sei, ich war es zufrieden. Mir war nicht danach zumute aufzustehen.   

Auf den Eid folgte eine Aufnahme des Starspangled Banner; der Gesang wurde durch eine ungeschlachte Baßstimme live angeführt.        

Die Musik endete, aber die Stimme ließ sich weiter vernehmen. »Diese Aufnahme unserer Nationalhymne und vieler anderer schöner Stücke, eingespielt von der Central High School Band, ist in jedem Klassenzimmer bei eurem Beauftragten für Tonaufnahmen erhältlich. Unterstützt eure Band und tragt dazu bei, daß sie sich neue Instrumente anschaffen kann. Nur fünf Dollar das Stück. Kauft zwei, und ihr könnt eine verschenken!« Die Tagesdurchsage schloß mit dem Läuten einer Glocke. Die Klassenstunde war vorbei. Im Lehrerzimmer kam es zu einer ganzen Serie von Abgängen und Auftritten.

Ich erkannte John Shubert an dem mit Zetteln vollgestopften Biologiebuch, das er bei sich hatte. Und daran, daß er verheiratet aussah.

»Mist«, wandte er sich an das Lehrerzimmer im allgemeinen und niemanden im besonderen. » Es muß doch eine bessere Möglichkeit geben, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Idealismus, John, mehr Idealismus«, wies ihn ein kerngesund wirkender Mann zurecht, der sich in eine der Schulbänke gequetscht hatte. Er mischte gerade ein Deck Karten. Ich trat zu ihnen.

»Mr. Shubert? Ich würde gerne mit Ihnen über eine Ihrer Schülerinnen reden.«

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir uns während des Kartenspiels unterhalten? Das ist meine Spielstunde. Soweit man hier davon reden kann.« Er setzte sich in eine der Bänke und steuerte sie wie einen Autoscooter dem Kartenmischer entgegen, der jetzt gab. Ich zwängte mich in die Bank gegenüber von Shubert auf der anderen Seite des Ganges. Er nickte seinem Freund zu. »Das ist Clark Mace. Über wen wollen Sie etwas wissen?«

»Über Eloise Crystal.« Der Kartenkünstler gab langsam und mit großer Konzentration, als wolle er vermeiden, Fehler zu machen.

»Ahh, Eloise Crystal.« Shubert lehnte sich in seiner Bank zurück, während ihm all das, was ich gerne wissen wollte, durch den Kopf ging. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Ich heiße Albert Samson. Ich stelle Nachforschungen für Elly Lilly an. Wir haben samstags eine Wissenschaftssendung, in der sich Eloise Crystal um einen Platz beworben hat. Wir haben eine Reihe von Bewerbern von High Schools, und ich verschaffe mir bei deren Lehrern in den naturwissenschaftlichen Fächern einen Eindruck von unseren Kandidaten.«

»Wird da nicht gewöhnlich ein Fragebogen geschickt?«

»Wäre es Ihnen denn wirklich lieber, wenn wir einen Fragebogen geschickt hätten?«

»Amen, Bruder«, mischte sich der geduldige Geber ein. »Ein Job, bei dem es auf naturwissenschaftliche Kenntnisse ankommt«, sagte Shubert und fand Gefallen an der Idee. Ich fand sie inzwischen auch ganz gut. »Das ist eine Überraschung.«

»Warum?«

»Sie hat eigentlich nie erkennen lassen, daß sie, nun, an einer Berufslaufbahn interessiert ist. Um ganz offen zu sein, überrascht es mich mehr, daß sie sich um einen Job bewirbt, als daß dieser Job mit Wissenschaft zu tun hat. Was wird sie dort tun müssen?«

»Wir werden sie in die Laborarbeit einweisen. Es ist vor allem die Frage, ob sie dafür ein Händchen hat, aber etwas Biologie wäre auch hilfreich. Sie erwähnte, daß sie bei Ihnen auch außerlehrplanmäßig im Labor gearbeitet hat.

Blutuntersuchungen, glaube ich.«

»Ja, Blutuntersuchungen. Darin ist sie sehr gut. An Genetik hat sie einen Narren gefressen. Hat kein einziges Mal gefehlt, seit wir damit angefangen haben. Genetik nimmt in den Kursen heute einen viel größeren Raum ein als früher, wissen Sie. DNS und so weiter. Wir fangen ziemlich früh damit an und behandeln dann auf dieser Grundlage die Bereiche Ökologie und natürliche Selektion. Ein ungewöhnlicher Ansatz, aber wir sind recht stolz darauf.«

»Halten Sie sie für gescheit?«

»Ausgesprochen gescheit, aber manchmal ein wenig unstet.

Alles, wofür sie sich interessiert, macht sie extrem gut. Sie behält alles und übernimmt auch Sonderaufgaben. Aber was sie nicht interessiert, nimmt sie erst gar nicht zur Kenntnis, und noch häufiger kommt sie erst gar nicht zur Schule, wenn solche Dinge an der Reihe sind.«

»Sie kommt nicht zur Schule?«

»Oh, sie wird wohl irgendwo rumhängen. Machen doch alle.

Was ist schon dabei?« Er hob den Kopf. »Sagen Sie, sind Sie sicher, daß sie sich selbst um die Stelle beworben hat? Wissen Sie genau, daß die Bewerbung nicht von ihrem Vater kommt? Er hat sie eingereicht, habe ich recht?«

»Ihr Vater ist nicht unbeteiligt.«

»Das habe ich mir gedacht. Er war neulich da, um mit mir zu sprechen. Er schien sich echte Sorgen um sie zu machen.

Einzelkind, glaube ich. Offensichtlich ist sie zu Hause etwas schwierig geworden. Schien gar kein übler Typ zu sein, der Mann.«

»Ich habe ihn leider noch nicht kennengelernt.«

Ich trug ein wenig dick auf. »Also, haben Sie vielen Dank, Mr. Shubert. Ich will Ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen.«

Er wedelte großmütig mit seinen vernachlässigten Karten.

»Es wäre schön, wenn Sie unser Gespräch Eloise gegenüber nicht erwähnten. Das würde sie unter Umständen bei den letzten Qualifikationsprüfungen beeinträchtigen.«

Er nickte. »Ich hoffe für sie, daß sie die Stelle bekommt.«

»Wir werden sie nach Möglichkeit berücksichtigen.« Angetan von dem offensichtlichen Erfolg meines kleinen Täuschungsmanövers verließ ich das Lehrerzimmer. Bestimmte wichtige Punkte hatten geklärt werden können: In gewissem Maße war bestätigt worden, daß Eloise vernünftig war und daß man ihrer Analyse der Blutgruppen vertrauen konnte. Es war jetzt Viertel nach zehn, und ich hatte noch jede Menge Zeit. In der Eingangshalle der Schule war jetzt niemand mehr zu sehen.

Das Haupttor war verschlossen, der Tisch stand verlassen da.

Ein durch und durch ordentlicher Laden. Wachen waren nicht nötig. Ich unterdrückte den Impuls, ins Sekretariat zu gehen und für fünf Dollar Bandaufnahmen zu erstehen, die höchstens ein paar Cents wert waren, und stiefelte ruhig und einigermaßen fröhlich zurück zu meinem Wagen.

Wie kann ein Polizist, der über ein Minimum an Selbstachtung verfügt, ein Knöllchen an einen 58er Plymouth heften? Gibt es in diesem Land denn keinen Respekt vor dem Alter? Ich wischte den Strafzettel von der Windschutzscheibe und wurde dann echt sauer. Es war nicht einmal ein richtiges Strafmandat.

»Es verstößt gegen die Schulordnung, ohne Parkgenehmigung auf den Lehrerplätzen zu parken. Bitte tun Sie das nicht wieder.

Wir haben Ihr amtliches Kennzeichen registriert. Falls es sich nicht um Ihren ersten Verstoß handelt, werden wir Sie der Polizei melden, die Sie wegen Falschparkens belangen wird.«

Wie ich Schulen liebe! Also machte ich mich auf den Weg zur nächsten.

Ich fuhr über die Neunundvierzigste Straße auf das Gelände der Butler University. Zwischen deren beiden Wahrzeichen hindurch, die mir sehr vertraut waren. Eins davon ist die ButlerSporthalle, die jetzt Hinkle Field House heißt. Dort wird Basketball gespielt. Na schön.

Das andere ist ein Gewässer, das wir unter dem Namen Stiller Teich kannten. Zu meinen Zeiten war es ein üppig bewachsener kleiner Tümpel; Wasser floß herein, und Wasser floß hinaus.

Klares, frisches Wasser, in dem im Sommer schöne Blumen wuchsen und das im Winter eine gute Eisfläche zum Schlittschuhlaufen abgab. Ich bin in meiner High-School-Zeit immer mit meinen Freunden dorthin gegangen. Der Teich war damals viel besucht. Aber das war einmal. Armer Teich. Stinkt im Sommer, und im Winter ist das Eis uneben von all dem Zeug, das darin wächst.

Als ich ins Innere des Campus vorstieß, brauchte ich nur noch den Schildern zur Schwesternschule zu folgen. Ich war nie zuvor dort gewesen, was unwiderlegbar beweist, daß ich außerhalb Indianas studiert habe.

Kurz nach elf hatte ich die Registratur gefunden und war dort eingetreten.

Ich weiß nicht, ob sie die Registratorin war, aber die einzige Person, die ich hinter der langen Theke entdecken konnte, war eine einarmige Dame in Zivil. Ich mußte zweimal hinschauen; man kriegt nicht oft einarmige Damen zu Gesicht. Eine Folge unserer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Ich ging auf ihr Ende der Theke zu, sie auf meins.

»Nun? Was kann ich für Sie tun?«

»Ich mache Ihnen nur ungern Umstände«, log ich, »aber eine Frau, die früher einmal hier gelernt hat, hat sich bei uns um eine Stelle beworben, und wir haben bisher ihre Unterlagen von hier nicht bekommen.«

»Ach ja?« Sie schien in sich zu gehen; sie schürzte die Lippen; sie zuckte die Achseln. »Name und Jahrgang?«

»Sie hat keinen Abschluß gemacht, aber 1949 angefangen. Ihr Name ist Fleur Graham.«

Sie begab sich von der Theke an einige Aktenschränke und kehrte überraschend schnell mit der akademischen Akte von Fleur Graham zurück.

Ich sah sie kurz durch. Es ließ sich wenig daraus entnehmen.

Name, Heimatadresse, Adresse am Studienort (die gleiche), der Name ihrer High School, ihr Geburtsdatum und die Liste der Lehrveranstaltungen, an denen sie in ihrem ersten und einzigen Jahr hier teilgenommen hatte. Als Abschluß war überall ›k. A.‹ für ›kein Abschluß‹ vermerkt. Eine schöne Akte. Erinnerte mich stark an mein erstes Semester meines ersten Studienjahres.

»Gibt es eine Möglichkeit herauszufinden, ob noch Lehrer von ihr hier aktiv sind?«

»Herrje. Wir haben keine Akten darüber, wer die von ihr belegten Stunden gegeben hat, guter Mann. Lehrer kommen, Lehrer gehen.«

»Aha. Kann ich denn wohl eine Kopie dieser Akte bekommen?«

»Ja, sicher.« Sie nahm die Blätter und machte eine Kopie.

»Das macht zehn Cent.«

Ich beglich meine Schuld und ging.

Man konnte diese Akte nicht uneingeschränkt als hilfreich bezeichnen, aber immerhin schloß sie definitiv genau das aus, was ich mir von der Butler University erhofft hatte. Freunde aus Fleurs Zeit als Schwesternschülerin. Die feine Dame hatte zu Hause gewohnt und nicht im Studentenheim. Jetzt konnte ich nur noch alle anderen Mädchen, die 1949 an der Schwesternschule der Universität angefangen hatten, ausfindig machen und fragen, ob sie vielleicht noch irgendetwas über ein stilles Mädchen namens Fleur wußten, das vielleicht in einem ihrer Kurse gewesen war. Keine sehr effiziente Methode. Darauf konnte ich jetzt keine Zeit verschwenden.   

Von der Schwesternschule fuhr ich zurück auf den Campus und parkte dort. Ich hatte noch anderthalb Stunden bis zu meiner Verabredung bei Mrs. Forebush; also entschloß ich mich zu einem geruhsamen Mittagessen. Ich hielt Ausschau nach einer Mensa. Es ist kein Problem, in einer angeblich nicht allgemein zugänglichen Kantine zu essen, wenn sie nur groß genug ist.        

Man geht einfach mit düsterem Gesichtsausdruck hinein. Das erweckt den Eindruck, als gehöre man dazu, weil man weiß, wie das Essen ist, das einen erwartet.

Das Essen war nicht gut, aber zumindest gab es nicht viel davon. Ich nahm noch einen Kaffee und belauschte die Gespräche in meiner Umgebung, so gut ich konnte.

Dann kamen ein paar Mädels zu mir, um sich mit mir anzufreunden. Wir unterhielten uns ganze zwanzig Minuten lang darüber, wie schwierig unsere Kurse waren. Ich stach alle aus.

Der Schwesternberuf ist wirklich eine harte Sache für einen ›alten Knaben‹. Sie waren sehr mitfühlend und ein wenig überrascht, als ich um Viertel vor zwei schließlich abzischte.