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Ostdeutschland, vier Jahre vor der Wende
D ie Zeit verrann unerbittlich. Kostbare Sekunden, Minuten. Wenn sie sich nicht bald auf den Weg machten, würden sie zu spät kommen. Aber die Männer in den grauen Uniformen hatten keinen Grund, sich zu beeilen. Sie genossen ganz offensichtlich, was sie taten.
Schubladen und Schranktüren wurden aufgerissen, der Inhalt herausgezerrt und auf dem Boden verteilt. Papiere wurden durchwühlt, Dokumente gründlich geprüft. Es klirrte, als einer der Volkspolizisten die Besteckschublade umdrehte und Messer, Gabeln und Löffel zu Boden fielen.
Rico ballte die Fäuste, öffnete und schloss die Hände immer wieder. Er hörte den eigenen Herzschlag, und das Blut rauschte ihm in den Ohren. Sein ganzer Körper kribbelte. Warum waren sie ausgerechnet heute gekommen?
Sein Vater stand an der Wand, schmal und stocksteif, die Arme verschränkt, das Gesicht wachsweiß. Die Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht. Er wollte es sich nicht anmerken lassen, aber Rico kannte seinen Vater. Er wusste, dass er Angst hatte.
Wenn sie etwas fanden, das ihr Misstrauen erregte, wenn sie sie mitnahmen, war alles verloren.
Rico schloss die Augen. Er musste an etwas anderes denken. An die Zukunft. Wie er mit seinen neuen Fußballschuhen über den Platz stürmte, den Ball eng führte, die gegnerische Abwehr spielerisch umdribbelte und abzog. Tor! Er riss die Arme hoch, hörte das begeisterte Johlen der Zuschauer. Dann waren seine Mitspieler bei ihm, klatschten ihn ab, schlugen ihm auf die Schulter, rannten ihn fast über den Haufen. Er schaute zur Ehrentribüne, wo Franz Beckenbauer saß. Der Bundestrainer hob den Daumen für ihn!
Ein harter Knall.
Rico riss die Augen auf.
Einer der Volkspolizisten schlug mit seinem Gewehrkolben auf das Schloss der Schreibtischschublade. Es sprang auf, und der Mann riss die Unterlagen heraus. Der Anführer blätterte sie durch. Er hatte ein hässliches Mopsgesicht, tief liegende Augen und dicke Tränensäcke darunter, dazu einen breiten Mund mit wulstigen Lippen, die sich jetzt wütend verzerrten. Er warf die Papiere auf den Boden und gab seinen Männern einen Wink.
»Wir ziehen ab.«
Schwere Stiefel auf den Holzbohlen, das Scheppern der Ausrüstung, finstere Mienen. Dann war nur noch der Anführer im Raum. Er hob drohend den Zeigefinger. »Dieses Mal hast du Glück gehabt. Aber verlass dich nicht darauf. Wir haben ein Auge auf dich.«
Damit wandte er sich ab und folgte seinen Männern. Ricos Vater stöhnte auf. »Verdammt.« Sein Blick wanderte zur Uhr über der Anrichte. »Schon so spät.«
Er öffnete die Wohnungstür einen Spalt, lauschte ins Treppenhaus. Rico hielt die Luft an. Es war nichts mehr zu hören.
Sie sahen aus dem Fenster.
Vor dem Haus stiegen die Volkspolizisten in ihre Wagen und fuhren davon.
»Los jetzt. Schnell!«
Sein Vater riss die Tür weit auf. Rico beeilte sich, ihm zu folgen.
Hastig liefen sie die Stufen hinunter bis in den Keller. Der Hinterausgang war nicht verschlossen, dafür hatten sie schon am frühen Abend gesorgt. Sie huschten hinaus, kletterten über die Mauer aufs Nachbargrundstück und rannten zu dem kleinen Verschlag, in dem der Nachbar seine Gartengeräte verwahrte. Sein Vater öffnete die Tür und holte die beiden Rucksäcke heraus, die sie am Nachmittag dort deponiert hatten. Darin befand sich alles, was sie mitnehmen wollten. Geld, ein paar Klamotten, einige Erinnerungsstücke. Es war nicht viel, aber Rico war das gleichgültig. Im Austausch für das, was sie zurückließen, würden sie eine Zukunft bekommen.
***
Kriminaloberrat Horst Schulte war alt geworden. Das früher volle braunschwarze Haar und die buschigen Augenbrauen, die an einen Habicht erinnerten, waren grau, die Tränensäcke schwerer, die Haut um den Mund herum faltiger. Kein Wunder, dachte Ralph Angersbach. An ihm selbst gingen die Jahre ja ebenfalls nicht spurlos vorbei. Mittlerweile war auch sein Haar von etlichen grauen Strähnen durchzogen, und seit einiger Zeit beobachtete er vermehrten Haarausfall.
Angersbach überlegte, wann er Schulte zuletzt gesehen hatte, und stellte fest, dass die Begegnung bereits einige Jahre zurücklag. Schade eigentlich. Er hatte den energischen und geradlinigen Kollegen immer geschätzt.
Schulte und er hatten in der Sitzgruppe in Schultes Büro Platz genommen. Die Sekretärin hatte Kaffee und Kekse gebracht. Ralph trank einen Schluck. Der Kaffee war zu stark, doch hieß es in der Werbung nicht immer, dass Koffein das Haarwachstum stärke? Mit einem flüchtigen Schmunzeln nahm er sich das Schreiben vor, das die Bad Vilbeler Kollegen an Schulte gefaxt hatten.
In diesem Jahr wird der Vilbeler Markt mit einem Feuerwerk der besonderen Art enden. Der Tod wird den krönenden Abschluss bilden. Denkt daran: Ich habe euch im Visier. Eure Tage sind gezählt. Auf den Sünder wartet das Höllenfeuer. Macht euch bereit und sprecht euer letztes Gebet. Ihr entkommt mir nicht.
Natürlich ohne Unterschrift. Auf dem Umschlag, von dem Schulte ebenfalls eine Kopie erhalten hatte, stand in fetter Arial Black die Anschrift der Polizeistation, der Riedweg in Bad Vilbel, dem Schriftbild nach zu urteilen mit einem Laserdrucker ausgedruckt. Ein Absender fehlte.
Ralph hielt den Zettel hoch. Sein Schmunzeln war verschwunden. »Sicher, dass das nicht nur ein Dummejungenstreich ist?«
Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wir haben selbstverständlich sofort das LKA kontaktiert. Es gibt dort Kollegen, die auf linguistische Analysen spezialisiert sind.«
Schulte stand auf und nahm ein Blatt von seinem Schreibtisch. »Der Verfasser zeichnet sich durch eine sichere und differenzierte Verwendung der deutschen Sprache aus«, las er vor. »Der Text lässt auf einen umfangreichen Wortschatz schließen, der gut beherrscht wird. Er ist grammatikalisch korrekt und fehlerfrei. Die hohe Stilsicherheit und Eloquenz deuten auf einen Schreiber mit höherem Bildungsniveau hin, der wenigstens die allgemeine Hochschulreife, eventuell auch einen Hochschulabschluss erworben hat.«
Schulte ließ die Hand mit dem Papier sinken. »Das klingt nicht nach dummen Jungen, oder was meinen Sie?«
»Nein.« Angersbach kniff die Augen zusammen. Wenn man das Schreiben ernst nahm, stand ein gewalttätiger Anschlag auf die Polizeistation zu befürchten. Wäre es dann nicht angebracht, nicht nur die Analyse des Schriftstücks, sondern den ganzen Fall dem Landeskriminalamt zu überlassen, statt einen einzelnen Beamten der Gießener Mordkommission zurate zu ziehen? Er wollte gerade eine entsprechende Bemerkung machen, als es an der Tür klopfte.
Horst Schulte lächelte. »Herein«, rief er.
Ralphs Herz machte einen Satz, als sie eintrat. Obwohl er sich nach den gemeinsamen Ermittlungen in Fuchsrod geschworen hatte, den Kontakt aufrechtzuerhalten, war er wieder abgerissen. Er war einfach unglaublich schlecht in diesen Dingen. Vielleicht hatte er auch Angst davor gehabt, zu hören, wie es Sabine mit den Verletzungen erging, die sie erlitten hatte. Seine gebrochene Rippe war längst verheilt, aber die Erinnerung an den Fall verfolgte ihn oft nachts in seinen Träumen. Wer wusste schon, wie es bei ihr war?
Erst jetzt ging ihm auf, dass er sie vermisst hatte. Das Lächeln entfaltete sich wie von selbst auf seinen Lippen, wurde aber nicht erwidert.
»Ralph.« Kaufmann nickte ihm ernst zu. Sie hatte Berufliches und Privates schon immer besser zu trennen gewusst als er.
Angersbach wusste nicht genau, was er tun sollte. Aufzustehen und sie zu umarmen war zu viel, ein einfaches Händeschütteln im Sitzen zu wenig. Am Ende tat er gar nichts. Es fiel nicht weiter auf, weil Horst Schulte mit großen Schritten auf Sabine zuging. Er fasste sie an den Schultern und schaute sie mit väterlicher Neugier an.
»Frau Kaufmann. Gut sehen Sie aus.« Er ließ sie wieder los. »Ich bin froh, dass Julius meinem Wunsch entsprochen hat.« Schulte wandte sich zu Angersbach um. »Kriminaloberrat Julius Haase, Frau Kaufmanns Vorgesetzter im LKA . Ich habe ihn gebeten, Frau Kaufmann für diese Ermittlung abzustellen. Bei Bedarf werden weitere Kollegen dazukommen. An die Herren Schmittke und Rahn erinnern Sie sich vielleicht noch?«
Ralphs Laune verschlechterte sich zusehends. Natürlich erinnerte er sich. Die beiden LKA -Beamten hatten sie bei einem Fall in ihrer Zeit bei der Bad Vilbeler Mordkommission unterstützt. Zwei aufgeblasene Wichtigtuer, die alles besser wussten und wenig hilfreich waren. Einer rothaarig, einer blond, fiel ihm wieder ein, aber beide gleichermaßen blasse und verwaschene Charaktere. Ralph hatte sie nie auseinanderhalten können. Wozu auch? Nun gut, korrigierte er sich im Stillen, am Ende hatte sich ihre Mitarbeit doch noch als nützlich erwiesen. Trotzdem verspürte er nicht das geringste Bedürfnis, die beiden wiederzusehen.
Er stellte die Kaffeetasse beiseite und stand auf. »Schön. Wenn das LKA die Sache übernimmt, werde ich ja nicht gebraucht. Es fällt ohnehin nicht in meine Zuständigkeit.«
Schulte hob die Hand, Kaufmann die Augenbrauen.
»Das ist alles mit Ihrem Vorgesetzten besprochen«, stoppte ihn der Kriminaloberrat. »Die Regionalkriminalinspektion Gießen stellt Sie für die Zeit der Ermittlungen in Bad Vilbel frei, also bis zum Ende des Vilbeler Marktes.« Er wedelte mit den Armen, als wollte er eine Hühnerschar in den Stall treiben. Ralph und Sabine verstanden es als Aufforderung, sich zu setzen, und nahmen in den grauen Schwingsesseln Platz. Schulte nickte zufrieden und gesellte sich dazu.
»Uns allen ist daran gelegen, dass diese Sache möglichst wenig Staub aufwirbelt. Dieses Volksfest ist das bedeutendste der südlichen Wetterau, ein Aushängeschild und von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung. Und die Kollegen in Bad Vilbel sollen nicht mehr als nötig beunruhigt werden. Deshalb möchten wir, dass jemand die Angelegenheit bearbeitet, der sich dort auskennt und mit dem sie vertraut sind.«
Angersbach dachte, dass er außerordentlich beunruhigt wäre, wenn er einen solchen Brief bekäme, sagte aber nichts. Kaufmann kräuselte die Nase. »Ich weiß nicht, ob Möbs sich besonders freut, uns wiederzusehen.«
Schulte schaute sie nachsichtig an. »Konrad ist seit einigen Jahren im Ruhestand. Wo ich im Übrigen in drei Monaten auch sein werde. Die Landesregierung hat zwar meinem Antrag zugestimmt, meine Dienstzeit über das vorgesehene Rentenalter hinaus zu verlängern, weil ich nicht im exekutiven, sondern im administrativen Bereich tätig bin, aber mit zweiundsechzig ist endgültig Schluss.«
»Ach so.« Angersbach sah, dass Kaufmann sich entspannte. Mit Konrad Möbs war es zu einigen unschönen Zusammenstößen gekommen. »Dann sind also nur noch Mirco Weitzel und Levin Queckbörner in Bad Vilbel?«
»Gemeinsam mit einigen neuen Kollegen. Die Polizeistation ist wieder gut besetzt. Aber das werden Sie ja sehen.« Schulte schien keinen Zweifel zu haben, dass sie die Aufgabe übernahmen. Es war ja auch gar nicht ihre Entscheidung. Man hatte sie längst abgeordnet.
Ralph tauschte einen Blick mit Sabine.
»Okay«, sagte sie. »Dann fahren wir jetzt nach Bad Vilbel.«
»Mit deinem oder meinem Wagen?«, frotzelte Angersbach. Das war ein ständiger Streitpunkt zwischen ihnen. Kaufmann verurteilte seine veraltete Benzinschleuder, er belächelte ihr elektrisches Spielzeugauto. Ein Wagen, der nicht aufheulte und röhrte, wenn man Gas gab – das war doch kein Auto.
»Jeder mit seinem«, gab Kaufmann zurück. »Ich will anschließend nach Hause. Du nicht?«
Schulte ging dazwischen. »Es wäre mir lieber, wenn Sie vor Ort wären. Ich habe Ihnen bereits Zimmer in Bad Vilbel reserviert.«
Sabine wehrte ab. »So weit ist es nicht von Wiesbaden aus.«
»Von Gießen aus auch nicht«, stimmte Angersbach ein. Knapp vierzig Kilometer vielleicht, eine halbe Stunde Fahrzeit, solange man nicht im Stau stand.
Schulte ging zu seinem Schreibtisch und nahm einen Prospekt zur Hand, den er zwischen Ralph und Sabine auf den Tisch legte.
»Es wäre das Golfhotel Lindenhof in Dortelweil, drei Kilometer bis zur Polizeistation Bad Vilbel. Moderne und bestens ausgestattete Zimmer mit Balkon, weitläufige Anlage mit gepflegten Grünflächen, Terrassenrestaurant mit Blick auf den See.«
Angersbach schaute auf das Titelbild des Prospekts. Es weckte ohne Zweifel Begehrlichkeiten. Und warum eigentlich nicht? Auf diese Weise konnte man die Arbeit mit ein wenig Entspannung verbinden. In Gießen wartete niemand auf ihn. Sabine und er könnten im Hotelrestaurant zu Abend essen, ein, zwei Gläser Wein zusammen trinken und ein wenig von dem nachholen, was sie im vergangenen Jahr versäumt hatten.
Kaufmann blätterte den Prospekt durch. Ihr gingen wohl ähnliche Gedanken durch den Kopf, jedenfalls lächelte sie.
»Wenn das so ist … Dann fahre ich nur nach Hause, um zu packen.« Sie schaute zu Ralph. »Es ist vermutlich trotzdem besser, wenn jeder mit dem eigenen Auto fährt. Wir können uns anschließend gleich auf den Rückweg machen und schon heute Abend im Hotel sein.«
Horst Schulte lächelte zufrieden. »Machen Sie sich ein Bild. Erstatten Sie mir regelmäßig Bericht. Und versuchen Sie, so behutsam wie möglich zu agieren.«
»Klar.« Angersbach stand auf. Kaufmann tat es ihm gleich, allerdings warf sie ihm einen skeptischen Seitenblick zu.
Ralph ahnte, weshalb. Seine Kollegin glaubte, dass es ihm an Sensibilität mangelte. Dass er nicht in der Lage wäre, subtil vorzugehen. Ganz falsch lag sie damit nicht. Aber er würde ihr beweisen, dass er auch anders konnte.
Schulte hielt sie auf, ehe sie den Raum verließen. »Eine Sache noch: Bisher wissen nur die Kollegen Weitzel und Queckbörner von dem Drohbrief. Queckbörner hat ihn in Empfang genommen und geöffnet. Die beiden waren zu diesem Zeitpunkt allein in der Polizeistation. Ich habe sie angewiesen, mir das Dokument zuzuschicken und ansonsten Stillschweigen über das Schreiben zu bewahren. Es wäre mir sehr lieb, wenn das so bliebe.«
Angersbach schaute rasch zu Kaufmann und sah, dass sie die Stirn runzelte.
»Wäre es nicht besser …«, setzte er an, doch Schulte unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung.
»Nein. Es gibt keinen Grund, das gesamte Revier in Angst und Schrecken zu versetzen, solange wir nicht wissen, was an der Sache dran ist.« Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Nur für den Fall, dass wir uns nicht richtig verstanden haben: Das ist keine Empfehlung, sondern eine Dienstanweisung.«
Ralph lag einiges auf der Zunge, das er Schulte entgegenzusetzen gehabt hätte, doch er schluckte es hinunter. Besser, er stiftete nicht gleich in den ersten Stunden der Ermittlungen Unfrieden. Vielleicht hatte der Kriminaloberrat ja recht, und es gab tatsächlich keinen Grund, Panik zu verbreiten. Sie würden sich zunächst einen Überblick verschaffen, und dann konnte man Schultes Entscheidung immer noch diskutieren.
»Zu Befehl.« Angersbach tippte sich nachlässig mit zwei Fingern an die Stirn. Schultes Blick wurde noch ein wenig grimmiger.
»Nun gehen Sie schon«, forderte er.
Ralph hielt Sabine die Tür auf und folgte ihr durch den Flur nach draußen. An ihrem steifen Rücken konnte er ablesen, dass ihr die Sache ebenso wenig gefiel wie ihm.
Sabine Kaufmann startete ihren Renault Zoe und fuhr mit einem leisen Surren vom Hof der Regionalen Kriminalinspektion. Hinter ihr dröhnte der Motor von Ralphs Lada auf. Kaufmann rollte mit den Augen. Es war ihr ein Rätsel, was Ralph an dieser stinkenden Dreckschleuder fand. Vom ökologischen Aspekt einmal ganz abgesehen.
Sie lenkte den Wagen in Richtung Bad Vilbel. Mit jedem Meter, den sie der Stadt näher kam, verstärkte sich das mulmige Gefühl. Es gefiel ihr nicht, dass Horst Schulte die ganze Angelegenheit unter dem Deckel halten wollte. Wenn es nach ihr ginge, würden alle Vilbeler Kollegen sofort informiert werden. Schließlich mussten sie wissen, dass es eine Bedrohung gab.
Aber die Entscheidung lag nicht bei ihr. Schulte war zwar nicht mehr ihr direkter Vorgesetzter, aber er war der höherrangige Beamte. Sie war ihm gegenüber weisungsgebunden. Sich über seine Anordnung hinwegzusetzen würde ihr ein Disziplinarverfahren einbringen. Im schlimmsten Fall könnte es eine Degradierung und die Versetzung in eine unbedeutende Dienststelle zur Folge haben.
Dass sie in den nächsten Tagen und Wochen in der Stadt arbeiten würde, in der sie zuletzt mit ihrer Mutter gelebt hatte, bereitete ihr zusätzlich Bauchschmerzen. Sie würde an jeder Ecke mit Erinnerungen konfrontiert werden. Ein paar schönen vielleicht, vor allem aber schmerzlichen.
Ein Stück voraus tauchte am Straßenrand ein verwittertes Steinkreuz mit weißem Flechtenbewuchs auf. Das Sühnekreuz, jener Ort, an dem Hedwig Kaufmann ermordet worden war. Sabine spürte den Druck hinter den Augen, und heiße Tränen rannen ihr über die Wangen. Ungeduldig wischte sie sie weg.
Sie durfte jetzt nicht daran denken, sonst war sie nicht arbeitsfähig. Sie wollte auch nicht, dass einer der Kollegen merkte, wie aufgewühlt sie immer noch war. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, sich in der Männerwelt der Polizei Respekt zu verschaffen. Gerade für eine kleine und zart gebaute Frau wie sie. Sie weckte bei Männern den Beschützerinstinkt, nicht das Gefühl, eine verlässliche Partnerin an ihrer Seite zu haben. Die Kollegen vom Gegenteil zu überzeugen hatte sie einiges gekostet. Auf keinen Fall wollte sie, dass sich daran etwas änderte. Trotzdem schaute sie immer wieder in den Rückspiegel, bis das Sühnekreuz nach einer lang gezogenen Kurve endlich ihren Blicken entschwand.
Sie passierte die Ortseinfahrt von Bad Vilbel, durchquerte den Kreisel, an dem die Friedberger Straße zur Kasseler Straße wurde, bog am nächsten in die Homburger Straße ab und fuhr am dritten Kreisel in die Straße Am Sportfeld. Von dort zweigte nach knapp hundertfünfzig Metern der Riedweg ab, in dem sich die Polizeistation befand.
Sabine parkte den Zoe auf dem Hof hinter dem L-förmigen, zweistöckigen Gebäude. Das weiße Haus mit den türkisen Fensterrahmen, in dem man auf den ersten Blick ein Ärztehaus aus den Neunzigerjahren vermuten konnte, hatte sie schon damals angesprochen. Mit dem hohen, über zwei Etagen reichenden Fenster über dem Eingang und den zahlreichen Gauben im mit hellroten Ziegeln gedeckten Dach sah es freundlich, solide und vertrauenerweckend aus.
Hinter ihr röhrte Angersbachs dunkelgrüner Lada Niva auf den Hof. Ralph stellte den Motor ab, kletterte aus dem Wagen und wartete neben seinem Fahrzeug.
Kaufmann atmete noch einmal tief durch und wischte sich mit einem Taschentuch die letzten Tränenspuren vom Gesicht. Dann griff sie nach ihrer Handtasche, hängte sie sich über die Schulter und stieg ebenfalls aus.
Eine neue Herausforderung wartete auf sie, und Sabine war bereit, sie anzunehmen.