6
Ostdeutschland, vier Jahre vor der Wende
E
s war derselbe Arzt, der sein Krankenhauszimmer betrat, aber dieses Mal war er nicht allein. Ihm folgte ein Ehepaar mittleren Alters, beide in langweiliges Beige und Braun gekleidet. Der Mann hatte graue Haare, die ebenso streng zurückgekämmt waren wie die des Arztes, buschige Augenbrauen und kalte Augen. Die Frau war ebenfalls grau; die langen Haare hatte sie am Hinterkopf zu einem festen Knoten aufgesteckt. Ihr Mund war verkniffen, die Nase schmal, mit einem Höcker wie eine Hexennase, ihr Blick stechend.
Die beiden blieben neben der Tür stehen und betrachteten ihn eingehend. Der Arzt trat ans Bett, fühlte nach seinem Puls und schaute in seine Augen. Anschließend machte er sich Notizen auf seinem Klemmbrett.
Rico fühlte sich nicht wohl mit diesen fremden Menschen in seinem Zimmer, während er hier klein und hilflos mit seinem Krankenhausnachthemd im Bett lag. Er sah den Arzt fragend an. »Wer sind diese Leute? Was wollen sie von mir?«
Der Arzt setzte ein falsches Lächeln auf. »Das sind Walter und Margot. Deine neuen Eltern.«
Irgendetwas in seinem Kopf hakte. Er musste den Arzt falsch verstanden haben. »Ich habe doch Eltern.«
»Deine Mutter hat sich in den Westen abgesetzt.« So wie er es sagte, klang es, als hätte sie eine komplette Grundschulklasse mit
dem Maschinengewehr niedergemäht.
»Aber mein Vater ist noch hier.«
Rico sah ihn vor sich, das schmale Gesicht, die leuchtend blauen Augen, die blonden Haare, die ihm wirr in die Stirn hingen, den lachenden Mund. Er war keiner von den Vätern, die ihren Kindern Vorschriften machten, sie drangsalierten oder einfach gar nicht beachteten. Jürgen Krawitz grinste, wenn Rico Dummheiten machte, er sprach ihm Mut zu und legte ihm warm die Hand auf die Schulter, wenn er zauderte, und er stand jeden Sonntag am Fußballplatz und feuerte ihn an. Nicht wie die anderen Väter, die schimpften und die Augen verdrehten, »Gib doch ab«, »Lauf ein bisschen schneller«, »Streng dich mal an«, »Den hättest du halten können«. Sein Vater klatschte, wenn ihm etwas gelang, zeigte ihm den erhobenen Daumen, wenn er einen guten Ball gespielt hatte, und sprang jubelnd wie ein Derwisch herum, wenn er ein Tor geschossen hatte, die geballte Faust in die Luft gereckt. Ging ihm etwas daneben, lächelte er nur und tröstete ihn nach dem Spiel. »Das hätte jedem passieren können.« – »War eben nicht dein Tag.« – »Beim nächsten Mal machst du es besser.« Mit seinem Vater an der Seite fühlte er sich stark. Ohne ihn war seine Welt leer.
Der Arzt sah ihn von oben herab an. »Dein Vater sitzt im Gefängnis. Versuchte Republikflucht.« Seine Miene war angewidert, er spuckte das Wort beinahe aus. Rico musste sich zusammenreißen, um sich unter seiner Verachtung nicht zu ducken.
»Aber irgendwann kommt er wieder raus.«
Der Arzt schnaubte leise. »Bis dahin bist du erwachsen. Es spielt auch keine Rolle. Laut Gesetz erlaubt das Verbrechen deiner Eltern dem Staat, über deinen weiteren Lebensweg zu entscheiden.« Sein Blick wurde hart. »Der zuständige Richter hat deine Zwangsadoption verfügt.«
Der Kloß in Ricos Kehle war so dick, dass er kaum schlucken
konnte. »Was ist das?«
»Die gerechte Strafe für das, was dein Vater und deine Mutter getan haben. Sie haben das Recht auf ihr Kind verspielt.«
»Aber ich will nicht zwangsadoptiert werden.«
Jetzt lachte der Arzt. »Du hast in dieser Angelegenheit überhaupt nichts zu entscheiden.« Er gab dem grauen Ehepaar einen Wink.
Der Mann trat ans Bett. Er betastete Ricos Bizeps, zog seine Augenlider hoch und studierte seine Pupillen, zwang seine Kiefer auseinander und schaute sich seine Zähne an. Anschließend nickte er seiner Frau zu. »Er ist in einem guten Zustand.«
Die Frau trat näher und musterte Rico. »Macht einen ordentlichen Eindruck, ja.« Sie wandte sich dem Arzt zu. »Wie alt ist er? Wie sieht es mit seiner Gesundheit aus?«
»Zwölf Jahre«, rapportierte der Arzt. »Gute Allgemeinverfassung. Altersgemäßer Entwicklungsstand.«
»Wie heißt er?«
»Rico.«
Die Frau kräuselte die Nase. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Das kann man ändern.«
Der Arzt hob sein Klemmbrett. »Also nehmen Sie ihn?«
Als wäre er ein Pferd oder ein Schaf auf dem Viehmarkt.
Walter und Margot tauschten einen kurzen Blick. Anschließend nickten sie. »Ja. Wir nehmen ihn.«
Rico stöhnte leise. Ihm war schlecht. Wäre sein Magen nicht leer gewesen, er hätte sich vermutlich auf die Bettdecke übergeben. So würgte er nur trocken, während das Blut in seinen Ohren rauschte und sich das Krankenhauszimmer vor seinen Augen drehte.
Das konnte nur ein Traum sein. Ein böser Traum, aus dem er hoffentlich schleunigst erwachen würde.
***
Sabine Kaufmann hatte ein mulmiges Gefühl im Magen. In ihrer Frankfurter Zeit bei der Sitte hatte man ihr einmal angeboten, in die Abteilung Interne Ermittlungen zu wechseln. Sie hatte abgelehnt, obwohl sie die Arbeit wichtig fand. Gerade bei einer Behörde, die so viel Macht hatte, durfte niemand ein falsches Spiel treiben. Aber die Vorstellung, den eigenen Kollegen mit Misstrauen zu begegnen, hatte ihr nicht gefallen. Man gehörte plötzlich nicht mehr dazu, sondern stand auf der anderen Seite. Niemand gab sich gern mit den Beamten von der Internen ab. Für die anderen waren sie Aussätzige. Wölfe, die das Rudel verlassen hatten und sich über die anderen stellten. So wollte sie nicht arbeiten. Stattdessen war es einige Zeit später die Mordkommission geworden.
Nun war sie beinahe wieder in derselben Situation. Eckard Roth war ein altgedienter Polizist. Er hatte die verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, das Sicherheitskonzept für den Bad Vilbeler Markt zu erstellen und zu koordinieren. Und genau daraus wollten sie ihm einen Strick drehen. Dabei lag nichts weiter gegen ihn vor als die Anschuldigungen der Betreiber einiger Fahrgeschäfte, die bei der Lizenzvergabe leer ausgegangen waren. Das konnte stimmen, genauso gut aber auch vollkommen aus der Luft gegriffen sein. Wenn dieser Drohbrief nicht wäre, den die Polizeistation erhalten hatte … Doch auch dafür könnten natürlich die Schausteller verantwortlich sein. Falls sie keine Hinweise auf Korruption fanden, würden sie auch diese unter die Lupe nehmen müssen. Es war die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.
Was würde geschehen, wenn sie den Verfasser des Briefs nicht ausfindig machten? Würde dann am letzten Tag des Volksfestes tatsächlich ein Polizist sterben? Oder war es eine leere Drohung? Sie hoffte, dass sie nicht an den Punkt kamen, an dem sie es erfahren mussten.
Der diensthabende Beamte hinter dem Tresen begrüßte sie
freundlich und kündigte sie telefonisch bei Roth an. Anschließend öffnete er ihnen die Panzerglastür, die den öffentlichen Bereich von den Zugängen zu den Diensträumen trennte. Er beschrieb ihnen den Weg zu Roths Büro und kehrte an seinen Platz zurück.
Kaufmann und Angersbach gingen durch einen langen, graugrün gestrichenen Flur mit ausgetretenem Linoleum. Vor Roths Bürotür blieben sie stehen.
Sabine wollte etwas sagen, doch Ralph wehrte mit einer unwirschen Geste ab.
»Ich weiß schon. Wir gehen behutsam vor und fallen nicht mit der Tür ins Haus.«
Sie musste lachen, und dabei kamen ihr gleichzeitig die Tränen. Angersbach, der schon anklopfen wollte, zog die Hand zurück und legte sie ihr stattdessen auf die Schulter.
»Hey. Was ist denn los?«
»Ich weiß auch nicht.« Sabine schniefte. »Mir gefällt das nicht. Gegen einen Kollegen vorzugehen …«
Angersbach verstärkte den Druck.
»Wir gehen nicht gegen ihn vor. Wir führen nur ein Gespräch.«
Kaufmann nickte. »Kannst du das übernehmen? Ich … Das ist meine alte Dienststelle. Ich komme mir vor wie eine Verräterin, wenn ich die Kollegen verdächtige.«
»Schon gut.« Angersbach klopfte ihr auf die Schulter. »Ich spiele den bösen Bullen.« Er wandte sich wieder der Tür zu, drehte sich dann aber noch einmal um. »Kennst du diesen Roth?«
»Nein.« Sabine nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich die Augen ab. »Vielleicht hatten wir mal miteinander zu tun, aber ich erinnere mich nicht.«
»Okay.« Ralph klopfte schwungvoll an Roths Tür. Von drinnen forderte jemand ebenso energisch zum Eintreten auf.
Der Mann, dem Ralph Angersbach im nächsten Moment gegenüberstand, hätte sich gut auf einem Werbeplakat für die Polizei gemacht: groß und aufrecht, mit militärisch kurzen, dichten grauen Haaren, kantigem Kinn und einem entschlossenen Gesichtsausdruck. Roth war schlank, breitschultrig und körperlich offenbar hervorragend in Form. Ralph wusste aus den Akten, dass er fast zehn Jahre älter war als er selbst, doch in einem sportlichen Wettstreit hätte er vermutlich haushoch gegen Roth verloren.
Eckard Roth hielt erst Kaufmann, dann Angersbach die Hand hin, ehe er ihnen Plätze in der Sitzecke anbot. Die grauen Polstersessel schienen noch aus den Sechzigerjahren zu stammen, ebenso der braune Tisch mit den Keramikfliesen. Wahrscheinlich hatte Roth die Stücke aus seinen Privatbeständen mitgebracht. Der Rest der Einrichtung des winzigen Raums waren die typischen hellgrauen Behördenmöbel, nüchtern und sachlich. An einer Wand hingen die aktuellen Fahndungsplakate, an einer zweiten erblickte Ralph eine Reihe von Urkunden, die Roth im Laufe der Jahre erhalten hatte. Er trat näher und stellte fest, dass Eckard Roth offensichtlich ein herausragender Schütze war.
»Soll ich euch einen Kaffee kommen lassen?«, fragte Roth. »Ich muss euch allerdings warnen. Die Brühe ist nicht besonders genießbar.«
»Wir hatten schon, danke.«
Roth nickte und setzte sich zu ihnen. »Also. Was kann ich für euch tun?« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Ich hatte gestern schon einen Besuch dieser Art. Die beiden Ladys von der Vilbeler DEG
. Ich bin nicht ganz schlau daraus geworden, was sie eigentlich wollten.« Er neigte den Kopf. »Gibt es irgendwelche Vorwürfe gegen mich? Will mich da jemand aus dem Verkehr ziehen?«
»Gäbe es denn einen Anlass dazu?«, fragte Ralph.
Roth sah ihm in die Augen. »Nein.« Ganz ruhig, der Blick offen.
Entweder war er ein exzellenter Lügner, oder er hatte ein reines Gewissen.
Ralph überlegte kurz und entschied sich, Schultes Anweisung zu ignorieren. »Wir sind hier, weil die Vilbeler Polizei einen Drohbrief erhalten hat. Jemand behauptet, am letzten Tag des Marktes würde es einen Anschlag geben«, erklärte er. »In diesem Zusammenhang sind auch Anschuldigungen zur Sprache gekommen, die dich betreffen. Es geht um Korruption im Zusammenhang mit der Vergabe der Lizenzen für den Vilbeler Markt.«
Roth lächelte müde. »Ihr glaubt, dass mir jemand Geld angeboten hat? Nein. Ich würde es auch nicht annehmen. Ganz abgesehen davon, dass niemand etwas davon hätte. Wofür sollte man mich denn schmieren? Ich bin für die Sicherheit zuständig. Wenn da etwas schiefläuft, fliegt mir alles um die Ohren. So viel Bestechungsgeld kann man gar nicht bezahlen, um das aufzuwiegen.«
Über diesen Punkt hatte Angersbach auf der Fahrt nach Frankfurt nachgedacht. »Angenommen, du würdest beim Betreiber eines Fahrgeschäfts Sicherheitsbedenken anmelden. Dann wäre die Wahrscheinlichkeit doch hoch, dass stattdessen ein anderer Schausteller lizenziert wird, bei dem keine Zweifel bestehen.«
»Richtig.« Roth nickte knapp. »Aber das war beim diesjährigen Markt nicht der Fall. Es ist niemand abgelehnt worden, weil es Sicherheitsmängel gab.«
»Okay.« Angersbach überlegte. Er wusste nicht recht, wie er weitermachen sollte. Sie stocherten im Nebel. Gab es dort überhaupt etwas zu finden?
»Was ist das für eine Geschichte mit dem Drohbrief?«, hakte Roth nach. »Warum denkt ihr, dass das etwas mit den Korruptionsvorwürfen zu tun hat?«
»Wir vermuten, dass es sich um ein Ablenkungsmanöver handelt. Jemand will Kräfte binden, damit der Skandal nicht aufgedeckt wird.«
Roth schüttelte den Kopf. »Wenn du mich fragst: Ihr denkt zu kompliziert. Jemand, der einen Drohbrief schreibt, will gewöhnlich genau das: Angst verbreiten, bevor er zuschlägt.« Sein Blick bohrte sich in Ralphs. »Habt ihr das ermittelt? Gibt es da niemanden, der infrage kommt? Jemanden, der ein Rachebedürfnis gegen einen der Vilbeler Beamten oder das ganze Revier hat?«
»Doch.« Angersbach berichtete in knappen Worten von der Familie Metzger. »Aber wir glauben nicht, dass sie es waren.«
»Sie sind sicher nicht die Einzigen, die eine Wut auf die Polizei haben«, gab Roth zu bedenken. »Habt ihr euch die Verurteilungen der letzten Jahre angesehen? Hat da jemand vor Gericht Drohungen ausgestoßen? Ist einer dieser Täter in den letzten Monaten entlassen worden? Da würde ich ansetzen.«
»Die Kollegen in Bad Vilbel haben das geprüft«, sagte Ralph steif. Inhaltlich hatte Roth natürlich recht, aber er mochte es nicht, wenn ihm jemand sagte, wie er seine Arbeit zu tun hatte, Kollege hin oder her. »Da ist nichts.«
Roth rückte den Kragen seines Uniformhemds zurecht und zog die Krawatte enger. »Dann kann ich euch nicht helfen.« Er schaute zu Kaufmann. »Was ist mit dir? Hast du keine Meinung zu dieser Sache?«
Sabine rang sich ein Lächeln ab. »Ich fürchte, wir müssen dem Korruptionsverdacht weiter nachgehen. Auch wenn es mir persönlich nicht gefällt.«
Roth schaute sie väterlich an. »Das ist schon in Ordnung. Ihr tut nur eure Pflicht. Aber bei mir seid ihr an der falschen Adresse.«
Angersbach fuhr sich ungeduldig durch die Haare. Diese Geschichte begann ihm auf die Nerven zu gehen. »Wie ist dein Eindruck von Kirsten Gerlach?«, erkundigte er sich. »Könnte sie empfänglich für Bestechung sein?«
Eckard Roths Miene verdüsterte sich wieder. »Kirsten? Nein. Das ist eine absolut integre Person. Was man weiß Gott nicht von vielen
Politikern sagen kann. Sie tut alles dafür, dass der Jahrmarkt in Bad Vilbel wieder ein Erfolg wird. Davon hat sie mehr als von ein paar Scheinen, die sie sich heimlich in die Tasche steckt. Sie will in ihrer Partei nach oben und vielleicht in ein paar Jahren für den Landtag kandidieren. Das würde sie nicht aufs Spiel setzen.«
»Okay.« Ralph sah Sabine an. Ihm fiel nichts mehr ein, was er noch fragen könnte. Sie bedeutete ihm mit einem Blick zur Tür, dass es ihr nicht anders ging. Angersbach stand auf. Roth und Kaufmann taten es ihm gleich.
»Danke für deine Zeit«, sagte er und gab Eckard Roth die Hand.
»Stets zu Diensten. Wenn ich euch irgendwie unterstützen kann, lasst es mich wissen. Und informiert mich, falls weitere Drohungen eingehen. Wenn auf dem Jahrmarkt tatsächlich ein Anschlag verübt wird, fällt das auf mich zurück. Ich bin für die Sicherheit verantwortlich. Am Ende muss ich den Kopf dafür hinhalten.«
»Selbstverständlich.« Angersbach trat in den Flur, und Kaufmann folgte ihm, nachdem sie sich ebenfalls von Roth verabschiedet hatte.
Das, dachte Ralph, während er die Treppe hinunterging, war das entscheidende Argument. Eckard Roth würde sich ins eigene Fleisch schneiden, wenn er unseriös agierte. Am Ende würde man ihn zum Sündenbock machen.
Sabine sah das genauso.
»Bleibt noch Kirsten Gerlach«, sagte sie. »Also schauen wir uns die Dame mal an.«
Eine knappe Stunde später klopften sie an die Tür der Politikerin.
»Treten Sie ein.« Die Vorsitzende des Stadtmarketings erhob sich von ihrem Schreibtisch und kam auf Kaufmann und Angersbach zu.
Kirsten Gerlach war eine Frau Mitte dreißig, leger gekleidet mit hellblauen Jeans und einer weißen Bluse mit Blumenmuster. Die blonden Locken reichten ihr bis auf die Schultern. Sabine betrachtete
sie mit einem Anflug von Neid. Sie trug ihre blonden Haare wieder einmal in einer Kurzhaarfrisur, dabei wollte sie sie schon seit Jahren wachsen lassen. Aber in der Phase zwischen kurz und lang sahen sie einfach furchtbar aus. Deswegen ging sie schließlich doch immer wieder zum Friseur und ließ sie abschneiden.
Das Lächeln der Stadträtin war offen und herzlich.
Nein, entschied Sabine spontan. Das war keine Frau, die sich bestechen ließ, und erst recht keine, die anonyme Drohbriefe verschickte.
»Nehmen Sie doch Platz.« Gerlach dirigierte die Kommissare zu einer großzügigen Sitzgruppe. Das Büro war hell und freundlich mit geschmackvollen Landschaftsaufnahmen an den Wänden, dezenten hellgrauen Aktenschränken und einem Schreibtisch in Birkenoptik.
Kaufmann setzte sich auf einen der blauen Stühle. Kirsten Gerlach stellte Gläser und Getränke auf den Tisch. Sie wartete, bis sich auch Angersbach gesetzt hatte, ehe sie selbst Platz nahm.
»Ich nehme an, Sie kommen wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme im Amt«, begann sie das Gespräch offensiv. »Ihre Kolleginnen von dieser Dezentralen Ermittlungsgruppe hatten mich deshalb schon aufgesucht.« Ihr Mund verzog sich ein wenig. »Sie waren sehr … investigativ. Jedenfalls eine der beiden.«
Sabine hatte keine Mühe, zu erraten, wer gemeint war. »Sie ist Ihnen hoffentlich nicht zu nahe getreten?«
Kirsten Gerlach winkte ab. »Als Politikerin ist man derlei gewohnt. Anschuldigungen dieser Art werden ständig erhoben, meistens von politischen Gegnern. In diesem Fall sind es die Schausteller, die sich durch unsere Entscheidungen benachteiligt fühlen. Ich kann das verstehen. Die Plätze auf dem Markt sind begehrt. Für manch einen geht es um die schiere Existenz. Wer verzweifelt ist, schlägt schon mal um sich. Das muss man abkönnen, sonst hat man auf einem Posten wie diesem nichts verloren.«
»Und die Vorwürfe entbehren selbstverständlich jeder Grundlage«, knurrte Angersbach und griff nach einer Flasche Bionade. Es gluckerte, als er sie schwungvoll in ein Glas goss. Die Flasche landete mit einem Knall wieder auf dem Tisch. Kaufmann sah ihn überrascht an.
Anscheinend missfiel ihm irgendetwas an der Politikerin. Sie hatte allerdings keine Ahnung, worum es sich handeln könnte.
»Ja«, entgegnete Kirsten Gerlach schlicht. »Ich habe die Entscheidungen über die Lizenzvergabe nach bestem Wissen und Gewissen getroffen. Geld hat dabei keine Rolle gespielt.«
»Dann erklären Sie uns doch mal, wie Sie Ihren äußerst kostspieligen Lebensstil finanzieren«, forderte Ralph. »Ihr Gehalt dürfte dafür keinesfalls reichen. Und das Ihres Mannes auch nicht.«
Sabine hätte fast gegrinst. Daher also wehte der Wind. Sie wusste, dass Angersbach kürzlich ein Haus im Vogelsberg entdeckt hatte, das seinem Traum recht nahekam. Leider war es für ihn nicht einfach mal so aus dem Handgelenk finanzierbar gewesen. Seitdem schimpfte er über jeden, der sich eine Luxusimmobilie leisten konnte und damit die Preise, wie er meinte, in astronomische Höhen trieb.
Gerlach behielt ihr freundliches Lächeln bei. »Das ist kein Geheimnis. Mein Vater, der schon lange verwitwet war, ist vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er hatte eine kleine, aber exquisite Schmuckwerkstatt. Ich habe sie nach seinem Tod verkauft und einen sehr guten Preis dafür bekommen. Davon haben wir das Haus finanziert. Außerdem hat er mir auch ein gewisses Barvermögen hinterlassen. Ich war plötzlich eine recht wohlhabende Frau. Da wir nun weder Miete zahlen noch Raten abtragen müssen, können wir uns von unseren Einkünften einige Annehmlichkeiten leisten.«
Kaufmann zog ihren Block hervor und machte sich Notizen. Ralph verschränkte die Arme vor der Brust. Wahrscheinlich dachte er, dass
das Leben ihm ruhig auch mal einen solchen Segen bescheren dürfte. Doch so etwas passierte meist nur Leuten, denen es schon vorher gut gegangen war. Ralph hingegen hatte von seiner Mutter nur diesen alten Kasten in Okarben geerbt, der sicher keinen sonderlich eindrucksvollen Verkaufspreis erzielt hatte. Außerdem noch eine Halbschwester, verknüpft mit der Bedingung, dass er sich um sie kümmerte, bis sie volljährig war. Sein Vater saß derweil in seinem Traumhaus im Vogelsberg und erfreute sich bester Gesundheit. Sicher, Ralph würde dieses Haus einmal bekommen. Doch zum einen wollte er an diese Option wohl kaum denken, und zweitens deutete sich eine solche Entwicklung noch lange nicht an. Für die nächsten zehn oder zwanzig Jahren würde sich vermutlich nichts an seiner Situation ändern. Aber so war das eben. Das Schicksal verteilte seine Geschenke nicht gleichmäßig. Die einen bekamen mehr, die anderen weniger. Immerhin hatte Ralph seinen Vater noch. Kirsten Gerlach dagegen war Vollwaise.
Sabine musste an ihre eigene Mutter denken, die vor zwei Jahren gestorben war und eine große Lücke hinterlassen hatte, obwohl es nicht leicht mit ihr gewesen war. Die schizophrenen Schübe, und immer wieder der Alkohol. Und dennoch … Es war besser, als allein zu sein. Der zweite Gedanke folgte auf dem Fuße: Ihren Vater hatte sie auch noch. Sie hatte ihn zwar seit dreißig Jahren nicht gesehen, seit er Hedwig und sie im Stich gelassen hatte und nach Spanien ausgewandert war, um eine neue Familie zu gründen. Aber vermutlich lebte er noch, sonst hätte man sie wohl darüber informiert. Wenn sie wollte, könnte sie nach ihm suchen und Kontakt aufnehmen. Theoretisch betrachtet. Aber wollte sie das?
Sie schob die Überlegungen beiseite. Jetzt und hier war nicht die Zeit und auch nicht der richtige Ort, um über ihre persönlichen Probleme zu sinnieren.
»Ich nehme an, Sie können diese Erbschaft belegen?«
»Sicher. Wenn Sie wollen … Ich stelle Ihnen die Unterlagen zusammen.«
»Danke.« Kaufmann schaute zu Angersbach. Der schlürfte seine Bionade und kaute offensichtlich daran, dass andere bekamen, was er sich wünschte, er selbst dagegen nicht. Ob das damit zusammenhing, dass er als Kleinkind ins Heim gekommen und später in Pflegefamilien aufgewachsen war? Fehlende Mutterliebe und Bindungsabbrüche von Anfang an, und immer das Gefühl, benachteiligt zu sein? Vielleicht würde sie ihn irgendwann danach fragen. Doch wahrscheinlich würde er nicht darüber reden wollen. Ralph war ein Mann, der Probleme lieber in sich hineinfraß, als sie im Gespräch zu bearbeiten. Wie die meisten Männer, dachte sie bitter.
»Meinen Sie, die Behauptung, es sei nicht alles mit rechten Dingen bei der Vergabe der Lizenzen zugegangen, ist völlig aus der Luft gegriffen?«, erkundigte Sabine sich. »Oder könnte tatsächlich jemand den Versuch unternommen haben, auf ungesetzliche Weise Einfluss zu nehmen?«
Gerlach schenkte sich ebenfalls eine Bionade ein. »Das kann ich natürlich nicht ausschließen. Ich kann nur für mich sprechen. Ob von den anderen Beteiligten jemand Geld genommen hat? Ich möchte es mir nicht vorstellen, aber ich bin nicht naiv. So etwas geschieht. Ich hoffe nur, dass wir trotzdem die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Gegen schlechte Berater ist man natürlich nicht gefeit.«
»Hauptsache, Sie haben eine weiße Weste«, grummelte Angersbach.
Kirsten Gerlach lachte leise und zwinkerte Sabine zu. »Ist das so Standard bei der Polizei? Guter Bulle, böser Bulle? Ich dachte, das gäbe es nur im Fernsehkrimi.«
»Das ist auch so.« Kaufmann stand auf und signalisierte Angersbach, dass sie gehen wollte. »Wir haben das nicht einstudiert. Mein Kollege ist nur schlecht gelaunt. Das kommt bei ihm gelegentlich
vor.«
»Ah ja.« Kirsten Gerlach lachte und erhob sich ebenfalls. Sie reichte Sabine die Hand. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte.«
»Sie haben uns schon geholfen. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Wenn Sie uns die Unterlagen über die Erbschaft noch zuschicken könnten …« Sie reichte Gerlach ihre Visitenkarte.
»Selbstverständlich. Sie erhalten die Dokumente so schnell wie möglich.«
»Und wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte.«
»Natürlich.« Kirsten Gerlach schüttelte auch Ralph die Hand. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.«
»Äh, ja.« Angersbach räusperte sich vernehmlich und strebte zur Tür. Kaufmann winkte der Vorsitzenden des Stadtmarketings zu und folgte ihm.
Wie war sie nur auf die Idee gekommen, Ralph könnte ein passender Partner für sie sein? Er war ein grober Klotz ohne Feingefühl. Ganz bestimmt nicht die Sorte Mann, mit der sie ihr Leben teilen wollte.
Ralph Angersbach wartete, bis Sabine auf den Flur getreten war. Dann knallte er die Tür ins Schloss.
»Besten Dank«, grummelte er. »War es nötig, mich so bloßzustellen?«
Kaufmann wandte sich ihm zu. »Das war ich nicht. Das hast du schon ganz allein geschafft.«
»Mich regt das einfach auf. Dieses ganze salbungsvolle Geschwafel. Man weiß doch, wie diese Politiker ticken.«
Sabine ging vor ihm her nach draußen. »Du solltest sie nicht alle über einen Kamm scheren. Ich fand Kirsten Gerlach sympathisch. Und ich glaube ihr.«
»Dann ist ja alles klar.« Angersbach drängte sich an ihr vorbei und
setzte sich in den Lada. Er war sauer. Allerdings vor allem, wie er sich insgeheim eingestand, auf sich selbst. Es wurmte ihn, dass sie keinen Millimeter vorankamen. Als würde man in Zuckerwatte herumwühlen. Alle gaben sich als aufrechte Bürger. Aber vielleicht war an den Bestechungsvorwürfen ja auch tatsächlich nichts dran. Wenn diese Sache mit der Erbschaft stimmte …
Er startete den Motor und lenkte den Wagen in Richtung Dortelweil. Sie schwiegen, bis er auf den Hof des Golfhotels und Restaurants Lindenhof
fuhr.
»Wie machen wir jetzt weiter?«, fragte er, nachdem sie ausgestiegen waren.
Kaufmann hängte sich die Handtasche über die Schulter. Ihre Lippen waren schmal. Anscheinend war sie immer noch sauer auf ihn.
»Wir sichten die Unterlagen, die uns Wielandt und Scherer gegeben haben. Wenn irgendwo Geld geflossen ist, finden wir es auch heraus. Irgendwelche Spuren bleiben immer zurück. Notfalls holen wir uns Unterstützung bei den Kollegen von der Wirtschaftskriminalität. Ich könnte …« Sie unterbrach sich, weil ihr Smartphone klingelte. Schnell nahm sie es aus der Handtasche und schaute aufs Display.
»Horst Schulte«, verkündete sie, nahm das Gespräch an und schaltete es auf laut, damit Angersbach mithören konnte.
Der Kriminaloberrat meldete sich knapp und erkundigte sich nach ihren Fortschritten. Kaufmann berichtete von ihren Befragungen und den dürftigen Ergebnissen.
»Morgen nehmen wir uns die Papiere vor, die unsere Kollegen von der DEG
zusammengetragen haben«, schloss sie. »Zumindest haben wir hier eine angenehme Arbeitsumgebung.«
»Ja.« Schulte räusperte sich. »Das ist eine Sache, die ich mit Ihnen besprechen wollte. Die Kostenstelle erachtet Ihre Unterbringung vor Ort nicht für nötig. Das Hotel ist zu teuer. Und bisher ist ja nichts passiert. Nur mit einer Drohung, die auch von irgendwelchen
Jugendlichen stammen könnte, die sich einen Spaß erlauben wollten, können wir Ihren Aufenthalt nicht rechtfertigen.«
»Es muss also erst etwas passieren?«, schnaubte Angersbach. Das war wieder einmal typisch. Die Polizei schritt erst ein, wenn es zu spät war. Dabei ging es in diesem Fall immerhin um Kollegen, die möglicherweise in Gefahr waren.
»Meine Entscheidung ist es nicht«, erwiderte Schulte. »Aber ich muss Sie bitten, die Ermittlungen fürs Erste von einer Ihrer Dienststellen aus fortzusetzen. Gießen oder Wiesbaden, das ist mir gleichgültig. Es wäre allerdings gut, wenn Sie weiterhin gemeinsam arbeiten. Wenn vielleicht einer von Ihnen ein Gästezimmer hat …«
»Ich habe eine Schlafcouch im Wohnzimmer«, sagte Ralph. Sabine hatte im letzten Jahr schon einmal dort übernachtet. Im Prinzip hatte er nichts dagegen. In der angespannten Stimmung allerdings, in der sie sich gerade befanden, wusste er nicht, ob es eine gute Idee war. Doch nun war es zu spät. Schulte reagierte geradezu euphorisch.
»Phantastisch, dann ist das ja auch geklärt! Ein Punkt weniger auf der Agenda. Dieser bescheuerte Markt bringt uns noch alle um den Verstand … Na ja. Fahren Sie mal nach Gießen. Und informieren Sie mich, sobald Sie Fortschritte machen.« Er verabschiedete sich, und Kaufmann steckte das Telefon zurück in die Handtasche. Auch sie schien nicht begeistert.
»Also fahren wir morgen zu dir.« Sie ließ ihren Blick über das Gelände mit dem gepflegten Rasen und dem See wandern, der in der tief stehenden Sonne glitzerte. »Immerhin haben wir noch einen Abend. Wir könnten also noch mal auf der Terrasse essen.«
»Nein.« Angersbach verspürte einen kindischen Anflug von Schadenfreude. »Ich habe doch eine Verabredung. Mit Cordula Scherer.«
Kaufmann schnitt eine Grimasse. Sie hatte diesen Teil ihres morgendlichen Treffens offenbar erfolgreich verdrängt. Kurz glitt ein
Schatten über ihr Gesicht.
»Ach ja. Ich auch«, erinnerte sie ihn bittersüß. »Mit Mirco Weitzel.«