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Markttag 3
D ie Staatsanwältin schloss gerade ihre Bürotür auf, als Sabine Kaufmann und Ralph Angersbach den Flur betraten. Sie hatten sich früh auf den Weg gemacht; die Autobahn war noch leer gewesen, und Ralph hatte die Strecke von Gießen nach Frankfurt in Rekordzeit zurückgelegt. Es war nicht ganz einfach gewesen, zu klären, wo eigentlich die Zuständigkeiten lagen, doch am Ende hatten Sabines Chef im LKA Wiesbaden und Ralphs Vorgesetzter im Polizeipräsidium Mittelhessen in Gießen beschlossen, dass es sinnvoll war, gegen Fuller & Lohmann ein eigenes Ermittlungsverfahren wegen Korruption einzuleiten. Damit fiel die Sache in den Bereich der Frankfurter Staatsanwaltschaft.
Dr. Johanna Freier hielt in der Bewegung inne und schaute ihnen entgegen. »Wollen Sie zu mir?«
»Ja.« Sabine reichte der Staatsanwältin die Hand. »Sabine Kaufmann vom LKA Wiesbaden und Ralph Angersbach von der RKI Gießen. Kriminaloberrat Julius Haase müsste uns angekündigt haben.«
»Ah.« Ein Lächeln ging über das Gesicht von Johanna Freier. »Sie sind das. Ich hatte nicht so früh mit Ihnen gerechnet.« Sie hielt ihnen die Tür auf und machte eine einladende Geste.
»Wir sind gut durchgekommen«, sagte Ralph. Sabine nickte nur. Sie hatte es langsam satt, ständig in seinem schlecht gefederten Wagen zu sitzen statt in ihrem bequemen Zoe, doch daran war im Augenblick nichts zu ändern. Der Renault stand seit Beginn der Ermittlungen auf dem Parkplatz der Polizeistation Bad Vilbel. Sie konnte froh sein, wenn er nach der langen Zeit – es waren jetzt fast zwei Wochen – überhaupt noch genug Saft hatte, um damit zur nächsten Ladestation zu kommen. Doch damit konnte sie sich beschäftigen, wenn der Schreiber der Drohbriefe gefunden, die Schmiergeldaffäre aufgeklärt und der Mörder von Eckard Roth gefasst war.
Der gestrige Abend hatte in dieser Hinsicht keine Fortschritte gebracht. Drei Stunden lang hatten sie auf dem Volksfest ihre Runden gedreht, umgeben von wabernden Menschenmassen und einer Kakophonie aus lauter Musik verschiedenster Stilrichtungen, die von allen Seiten auf sie eindröhnte, und den lauten Anpreisungen der Schausteller, die das Publikum in ihr Geschäft zu locken versuchten. Jemanden, der sich an den Handtaschen oder Jacken der Besucher zu schaffen machte, hatten sie nicht entdeckt. Dafür hatte Sabine zumindest ihre Freundschaft zu Petra Wielandt auffrischen können, die in den letzten Jahren brachgelegen hatte. Schade. Die Kollegin war wirklich nett. Sie hatten beschlossen, sich in Zukunft wieder öfter zu treffen.
Was Ralph und Cordula Scherer in der Zeit gemacht hatten, war ihr nicht klar. Als sie sich zur vereinbarten Zeit an Angersbachs Lada wiedergetroffen hatten, hatten sie nur denselben Misserfolg zu melden wie Petra und sie selbst. Aber ob sie tatsächlich ebenfalls drei Stunden lang zwischen den Fahrgeschäften, Bierständen und Essensangeboten unterwegs gewesen waren, konnte sie nicht beurteilen. Begegnet war man sich jedenfalls kein einziges Mal. Ein Zeichen dafür, dass Angersbach und Scherer nicht über das Gelände flaniert waren, sondern sich stattdessen an einen stillen Ort zurückgezogen hatten, um … Ja, was? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich die beiden hinter dem Toilettenhäuschen vergnügt hatten oder an irgendeinem anderen ähnlich ungeeigneten Ort. Vor allem wollte sie es nicht. Doch was wusste sie schon?
Das Büro der Staatsanwältin war klein, aber gemütlich. Möbel aus rötlichem Holz, Kirsche wahrscheinlich, dazu eine Sitzgruppe mit grünem Plüsch. Die Regale quollen über vor Akten, auch auf dem Schreibtisch türmte sich ein Stapel.
»Mögen Sie einen Kaffee?« Johanna Freier hielt den Telefonhörer schon in der Hand. Sabine und Ralph signalisierten, dass sie gerne einen hätten. Die Staatsanwältin bat ihre Sekretärin – oder wer auch immer am anderen Ende war – das Gewünschte zu bringen, dazu ein paar Kekse und ein wenig Wasser und Saft. Dann lud sie die Kommissare ein, sich zu setzen. Sabine staunte, dass das alles für die Staatsanwältin ganz selbstverständlich zu sein schien. Immerhin war Sonntag. Aber der staatsanwaltschaftliche Notdienst schien Johanna Freier nichts auszumachen. Im Gegenteil wirkte sie, als hätte sie Vergnügen daran.
»Sie benötigen einen Durchsuchungsbeschluss gegen die Eventagentur Fuller & Lohmann, richtig?«
»Ja. Und dazu eine Genehmigung zur Einsichtnahme in die Telefonverbindungen der beiden Teilhaber.«
»Was haben Sie gegen die Agentur in der Hand?«
Kaufmann zählte die Verdachtsmomente auf. Das gefälschte TÜV -Gutachten, die falsche Bescheinigung des Bauamts, die Verbindung zu Eckard Roth, Lothar Trautwein und Heinz Peschke, dem Betreiber der Hydra.
»Wir haben bei Roth eine große Menge Bargeld gefunden«, berichtete sie. »Insgesamt knapp sechzigtausend Euro. Außerdem haben wir mittlerweile die Auswertung seiner Telefonkontakte vorliegen. Er hat in den letzten Tagen mehrfach mit der Agentur telefoniert, auch am Abend vor seinem Tod.«
»Hm. Das ist nicht gerade viel«, bemängelte die Staatsanwältin. »Sie stützen sich im Wesentlichen auf Vermutungen, richtig? Die Telefonate könnten auch dienstlich gewesen sein, immerhin hatte Roth als Sicherheitsbeauftragter der Frankfurter Polizei direkt mit der Organisation des Marktes zu tun, nicht wahr? Und dass das Geld aus einer Bestechung stammt, ist auch nur eine Hypothese. Beweise, dass Fuller & Lohmann in irgendeiner Weise beteiligt sind, haben Sie nicht?«
»Wir hatten noch keine Einsicht in die Geschäftskonten«, erwiderte Angersbach barsch. »Aber es liegt doch auf der Hand, dass in der Agentur etwas faul ist. Das zeigt allein der Umstand, dass sich Fuller der Befragung durch uns entzogen hat.«
»Ich dachte, Sie vermuten, dass er der Mörder von Eckard Roth ist? Und dass das Motiv in der gemeinsamen DDR -Vergangenheit der beiden liegt?«
»Das ist richtig«, bestätigte Sabine.
Die Staatsanwältin wiegte nachdenklich den Kopf. »Das ist aus meiner Sicht eine hinreichende Erklärung für Fullers Flucht.«
Ralph rutschte auf seinem Sessel nach vorn. »Wollen Sie uns nicht helfen?«
Sabine warf ihm einen warnenden Blick zu. Es war ihrem Anliegen sicher nicht förderlich, wenn er die Staatsanwältin verstimmte. Doch Johanna Freier nahm ihm den schroffen Ton nicht krumm.
»Ich muss unser Vorgehen vor Gericht plausibel begründen können. Sonst fliegt uns der ganze Fall um die Ohren. Unsere Argumentation muss wasserdicht sein.« Sie lächelte Ralph an. »Haben Sie da irgendetwas für mich? Ein Sahnehäubchen, das ich dem Untersuchungsrichter vorsetzen kann, damit er dem Durchsuchungsbeschluss zustimmt?«
Angersbach knetete seine Unterlippe. Sabine dachte nach.
»Heinz Peschke hat ausgesagt, dass ihm ein Mann, den er nicht sehen konnte, das gefälschte TÜV -Gutachten angeboten hat. Er meinte, die Stimme sei ihm bekannt vorgekommen, aber er konnte sie nicht zuordnen.«
Johanna Freier blinzelte ihr zu. »Das ist doch was. Sie haben ihn also so verstanden, dass er glaubte, es könne eine Person gewesen sein, die mit der Organisation des Vilbeler Marktes zu tun hatte?«
Das war nicht ganz die Wahrheit, aber es war auch nicht allzu weit davon entfernt.
»So könnte man es vielleicht sagen«, erwiderte sie vorsichtig.
»Wunderbar.« Johanna Freier stand auf. »Dann gebe ich das so an den Untersuchungsrichter weiter.«
Es klopfte an der Tür, und ein junger Mann im dunklen Anzug mit Krawatte und streng zurückgekämmten Haaren trat ein. Er balancierte ein Tablett mit Tassen, Gläsern und einer Kaffeekanne, einer Schale mit Keksen und etlichen kleinen Flaschen. Mit vorsichtigen Schritten kam er näher und setzte es mit einem Seufzer der Erleichterung auf dem Tisch ab.
»Das ist Tobias, unser Rechtsreferendar«, stellte Freier ihn vor und blinzelte. »Er hat einen tollen Abschluss hingelegt, aber das Kellnern muss er noch üben.«
»Ich wusste nicht, dass das Teil der erwarteten Qualifikation ist«, gab der junge Mann trocken zurück. »Das stand nicht in der Stellenausschreibung.«
Johanna Freier lachte. Sie verteilte die Tassen auf dem Tisch und schenkte Kaffee ein. Dann wandte sie sich mit hochgezogenen Augenbrauen an den Rechtsreferendar. »Milch und Zucker?«
»Ach, Mist.« Der junge Mann schnitt eine Grimasse. »Das habe ich vergessen.«
»Kein Problem. Wir trinken den Kaffee schwarz«, sagte Sabine schnell, und Angersbach bestätigte das.
»Na dann. Glück gehabt.« Johanna Freier lud den Rechtsreferendar ein, sich dazuzusetzen, und schilderte ihm in knappen Worten den Fall. Sabine war beeindruckt, wie klar und präzise sie die Dinge auf den Punkt brachte.
»Ist das nicht ein bisschen dünn?«, fragte Tobias, als sie fertig war. Angersbach verdrehte die Augen zur Decke. Sabine seufzte. Sie waren doch schon fast so weit gewesen, dass Johanna Freier den Antrag beim Untersuchungsrichter stellte. Würde sie es sich jetzt wieder anders überlegen?
Tobias legte die Stirn in Falten und rieb sich das Kinn. »Fuller & Lohmann«, murmelte er. »Da war doch was.« Er kniff die Augen zusammen und grübelte. Dann schnippte er mit den Fingern. »Jetzt weiß ich es wieder. Eine Anzeige vor drei Jahren. Ein Konkurrent, den die Agentur bei der Vergabe eines Open-Air-Konzerts ausgestochen hat, beschuldigte Fuller & Lohmann des unlauteren Wettbewerbs. Das Verfahren wurde eingestellt, weil es keine Beweise gab.« Er grinste verlegen. »Ich studiere gerade die alten Fälle, um mir einen Überblick zu verschaffen.«
»Tobias hat ein phänomenales Gedächtnis. Er wird später mindestens Oberstaatsanwalt werden, vielleicht sogar Richter«, sagte Johanna Freier. »Es sei denn, er entscheidet sich für die Gegenseite und macht lieber das große Geld als Wirtschaftsanwalt.«
»Nie im Leben«, verkündete Tobias empört.
Die Staatsanwältin lachte leise. »Ich weiß doch.« Sie wandte sich wieder an Kaufmann und Angersbach. »Wir necken uns gerne ein bisschen gegenseitig. Ich hoffe, das irritiert Sie nicht allzu sehr.«
»Nein.« Sabine schaute zu Ralph hinüber. »Wir tun das auch.«
»Gut.« Johanna Freier nahm einen Notizblock von ihrem Schreibtisch und schrieb etwas darauf. »Ich denke, in der Summe reicht das. Die Anzeige von damals und die Vermutung des Betreibers der Hydra, dass es sich bei dem Anstifter des Betrugs um jemanden aus der Agentur gehandelt hat. Fahren Sie ruhig schon ins Präsidium und stellen ein Team zusammen, das die Durchsuchung der Geschäftsräume von Fuller & Lohmann vornimmt. Der Beschluss dürfte eine reine Formsache sein.«
Kaufmann und Angersbach tranken ihren Kaffee aus und erhoben sich.
»Danke«, sagte Sabine und schüttelte Johanna Freier die Hand. »Und Ihnen natürlich auch.« Sie lächelte dem Referendar zu. Der wehrte ab.
Die Staatsanwältin drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Nur nicht so bescheiden. Sonst verliere ich am Ende noch meine Wette mit dem Oberstaatsanwalt, was Ihre berufliche Karriere anbelangt, Tobias.«
Kaufmann verließ das Büro mit einem Lächeln auf den Lippen. Es war wirklich schön zu sehen, wie die beiden miteinander umgingen. Dann marschierte Angersbach mit großen Schritten an ihr vorbei, und sie seufzte leise. Schade, dass es bei ihnen beiden nicht halb so entspannt war.
Zwei Stunden später war es so weit. Sie rückten mit vier Bussen an, zwei Dutzend Bereitschaftspolizisten, zwei Kollegen von der Wirtschaftskriminalität des Frankfurter Präsidiums und Sabine und Ralph, bewaffnet mit den gewünschten Dokumenten, die ihnen der Richter umstandslos ausgestellt hatte. Sie klingelten und standen gleich darauf vor Johannes Lohmann, der dem Tross mit schreckgeweiteten Augen entgegensah.
»Was … äh …?«
Weiter kam er nicht. Angersbach hielt ihm das Blatt unter die Nase, auf das der Untersuchungsrichter seine schwungvolle Unterschrift gesetzt hatte.
»Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss für Ihre Geschäftsräume. Ab sofort dürfen Sie nichts mehr verändern oder an sich nehmen. Wenn Sie wollen, können Sie dabei sein, aber Sie dürfen die Kollegen nicht an ihrer Arbeit hindern.« Er winkte den Polizisten, die sich an Lohmann vorbeidrängten und auf die Räume verteilten. Der versuchte immer noch, seine Fassung zurückzugewinnen.
»Aber … was suchen Sie denn?«
»Das wissen Sie doch. Wir gehen davon aus, dass Sie, Ihr Kompagnon Fuller oder Sie beide zusammen an den betrügerischen Vorgängen beteiligt waren, die zu der Beinahkatastrophe mit der Hydra geführt haben.«
Er sah, dass ihm Sabine einen verwunderten Blick zuwarf. Sie hatte wohl nicht erwartet, dass er den amtlichen Jargon so mühelos beherrschte. Normalerweise redete er, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Aber er konnte auch anders. Hier ging es nicht um Kleinkriminelle, sondern um Geschäfte, die in die Nähe Organisierter Kriminalität rückten. Davon abgesehen wollte er ihr zeigen, dass er nicht der Trampel war, für den sie ihn offenbar immer noch hielt.
Johannes Lohmann hielt sich am Türrahmen fest, als hätte er Sorge, dass seine Beine ihn nicht länger tragen würden.
»Wenn sich das herumspricht, sind wir ruiniert«, murmelte er.
»Das hätten Sie sich vorher überlegen müssen«, konterte Ralph mitleidslos.
Lohmanns Kopf ruckte nach oben, sein Gesicht nahm einen fast trotzigen Ausdruck an. »Ich habe doch nicht …«, fauchte er, brach aber mitten im Satz ab und presste die Lippen zusammen. »Ich will unseren Anwalt anrufen«, presste er hervor.
»Selbstverständlich.« Angersbach machte eine einladende Geste. Kaufmann trat näher an Lohmann heran. Anscheinend hatte sie seinem kurzen Ausbruch etwas anderes entnommen als die reine Sachinformation.
»Wenn Sie etwas zu sagen haben, sprechen Sie mit uns«, empfahl sie ihm sanft. »Sie sehen ja, wir stellen hier alles auf den Kopf. Wir sichten Ihre Unterlagen, checken Ihre Telefonverbindungen und prüfen sämtliche Kontobewegungen. Früher oder später finden wir die Wahrheit heraus. Sie könnten die Sache abkürzen. Ein Geständnis macht sich immer gut vor Gericht, wenn es um mildernde Umstände geht.«
Lohmann legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich über die kurzen, dunkelblonden Haare.
»Verdammt. Ich will doch Markus nicht hinhängen.« Er schnitt eine Grimasse. »Wahrscheinlich denken Sie sowieso, dass ich bloß alles auf ihn abwälzen will, jetzt, wo er verschwunden ist.«
»Sagen Sie uns einfach, was Sie wissen. Wir werden schon die richtigen Schlüsse ziehen.«
Johannes Lohmann rang noch einen kurzen Moment mit sich. Dann knickte er ein. »Also gut. Sie haben recht. Markus hat da ein paar krumme Dinger gedreht. Zusammen mit Lothar Trautwein, der ehrenamtlich beim Stadtmarketing arbeitet, und Eckard Roth. Er denkt, ich hätte keine Ahnung, aber ich habe ein paar Telefongespräche mitbekommen.« Er gestikulierte in Richtung der Büroräume. »Wir haben so eine Anlage, bei der man nur den Hörer abheben muss, um mitzuhören.«
»Warum haben Sie nichts unternommen?«
Lohmann hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Wir konnten das Geld gut gebrauchen. In letzter Zeit war die Auftragslage nicht so gut. Markus hat sicher einen Teil in die eigene Tasche gesteckt, aber er hat auch die Löcher unseres Geschäftskontos gestopft.«
»Also haben Sie billigend in Kauf genommen, dass er mit unsauberen Mitteln arbeitet?«
Johannes Lohmann blinzelte, Ralph sah, dass seine Augen feucht waren. Er würde doch nicht in Tränen ausbrechen? Angersbach hatte wenig für flennende Männer übrig, und für Selbstmitleid noch weniger. Aber Lohmann riss sich zusammen.
»Was genau haben Sie mitbekommen?«, fragte Sabine Kaufmann.
»Nicht viel.« Lohmann dachte nach. »Ich weiß nur, dass Geld geflossen ist. Von irgendwelchen Schaustellern an Markus, und von ihm zu Roth und Trautwein. Ein Teil davon ist auch verwendet worden, um falsche Gutachten zu produzieren, aber wer das übernommen hat … Keine Ahnung.«
»Namen haben Sie keine? Von den Betreibern der Fahrgeschäfte, die gezahlt haben?«
»Nein. Wie gesagt. Ich habe nur bruchstückhaft Telefonate mitbekommen. Der Name Peschke ist einmal gefallen, aber sonst …«
»Und wie war das vor drei Jahren mit dem Konkurrenten, den Sie bei der Vergabe ausgestochen haben?«, fragte Angersbach.
Lohmann machte ein überraschtes Gesicht.
»Nein.« Seine Augen weiteten sich. »Das heißt …« Er schluckte. »Ich habe damals angenommen, die Vorwürfe wären aus der Luft gegriffen. Aber womöglich hat Markus schon da …« Wieder führte er den Satz nicht zu Ende. Auch wenn er gewusst hatte, was sein Partner trieb, schockierte ihn wohl das Ausmaß des Betrugs.
»Nehmen Sie mich jetzt fest?«, fragte er rau.
»Nein. Sie werden sich vor Gericht verantworten müssen, aber bis dahin sind Sie ein freier Mann«, erwiderte Sabine.
»Das heißt, ich kann gehen?« Lohmann schaute auf seine Armbanduhr.
»Wohin wollen Sie denn?«
»Wir haben hier heute und morgen noch größere Musikveranstaltungen, da wäre ich gern vor Ort.«
Ralph zückte sein zerfleddertes Notizheft. »Wo finden wir Sie, falls wir noch Fragen haben?«
»Auf dem Platz, auf dem die meisten Schausteller ihre Zelte aufgeschlagen haben. Ich habe mein Wohnmobil dort stehen.« Er diktierte Ralph das Kennzeichen. »Sie können es nicht verfehlen. An der Seite steht der Name unserer Agentur. Fuller & Lohmann.« Sein Gesicht nahm einen schmerzlichen Ausdruck an. »Damit ist es jetzt wohl vorbei.«
Angersbachs Mitleid hielt sich in Grenzen. Auch wenn er ihn nicht für den Hauptverantwortlichen hielt: Diese Suppe hatte sich Lohmann selbst eingebrockt.
Der Eventmanager nickte ihnen matt zum Abschied zu und schlich sich davon. Ralph und Sabine gesellten sich zu den Kollegen, die den gesamten Schriftverkehr der Agentur in Kisten verstauten, Computer und Speichermedien einpackten und die Daten der Telefonanlage auslasen. Die beiden Beamten von der Wirtschaftskriminalität machten einen zufriedenen Eindruck.
»Das ist ein dicker Fisch, den ihr da an Land gezogen habt«, bemerkte der eine von ihnen und grinste.
Sabine Kaufmann nickte.
»Damit wäre der Fall klar, oder?«, sagte sie zu Ralph. »Markus Fuller hat Heinz Peschke den Vorschlag gemacht, ihm gefälschte Gutachten für die Hydra zu beschaffen. Dafür hat er sich gut bezahlen lassen. Einen Teil des Geldes hat er an Trautwein und Eckard Roth weitergegeben, damit Peschke seine Lizenz für den Jahrmarkt bekommt und bei der routinemäßigen Sicherheitsüberprüfung nicht auffliegt. Aber dann ist der Unfall mit der Gondel passiert. Wir haben angefangen zu ermitteln. Fuller muss klar gewesen sein, dass wir über Roth auf ihn stoßen. Also hat er ihn vorsorglich zum Schweigen gebracht, und als wir dann trotzdem bei ihm aufgekreuzt sind, ist er in Panik verfallen und abgehauen.«
Angersbach rieb sich das Kinn. »Und die alte DDR -Geschichte? Wie passt die dazu? Eckard Roth war doch derjenige, der Fuller und seinen Vater bei der Stasi angeschwärzt hat, wenn es stimmt, was Schulte uns erzählt hat. Er war schuld, dass Fullers Vater im Gefängnis gestorben ist. Und ausgerechnet gemeinsam mit diesem Mann soll er schmutzige Geschäfte gemacht haben?«
Sabine dachte darüber nach. »Vielleicht hat er ihn nicht erkannt«, schlug sie vor.
»Aber Schulte hat doch gesagt …«, setzte Ralph zu einer Erwiderung an, hielt dann aber inne. Nein, Schulte hatte nichts davon gesagt, dass Roth den Eventmanager wiedererkannt hatte oder Fuller den Sicherheitsbeauftragten. Er hatte nur gesagt, dass er selbst Markus Fuller wiedererkannt hatte.
»Das heißt, es ging überhaupt nicht um Rache?«
»Wer weiß?« Kaufmann hob die Schultern. »Vielleicht hat Fuller ihn auch irgendwann erkannt, wenn er sich mehrfach mit Roth getroffen hat, um seine schmutzigen Geschäfte einzufädeln. Dann hätte er mit dem Mord zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Den Mitwisser zum Schweigen gebracht und den Verräter bestraft.«
Ralph ließ sich die Argumentation durch den Kopf gehen. So bekam die Sache Hand und Fuß.
»Also müssen wir nur noch warten, bis uns Fuller ins Netz geht«, schloss er. Irgendwann würde die landesweite Fahndung schon Erfolg haben.
Sein Magen knurrte, sie hatten am Morgen nur ein paar Scheiben Toastbrot hinuntergeschlungen, und mittlerweile war es fast Mittag. Sie könnten irgendwo gepflegt essen gehen und bei dem schönen Wetter vielleicht draußen auf der Terrasse sitzen. Aber nach den letzten Tagen wusste er nicht so recht, wie er mit Sabine umgehen sollte. Sie schien es ihm auch übel zu nehmen, dass er am Abend zuvor mit Cordula Scherer ein Duo gebildet hatte. Dabei war zwischen ihnen überhaupt nichts gelaufen, im Gegenteil. Er hatte Cordula klargemacht, dass sich das, was zwischen ihnen passiert war, nicht wiederholen würde. Danach war sie nur noch schweigend neben ihm hermarschiert und hatte ihm ab und an mit verkniffenen Lippen böse Blicke zugeworfen.
Gut, er hätte vielleicht nicht von einem Ausrutscher sprechen sollen. Das war nicht gerade gentlemanlike. Aber es war schlicht und einfach die Wahrheit.
»Was machen wir jetzt, nachdem der Fall geklärt ist?«, versuchte er sich an einem leichten Tonfall. »Sollen wir essen gehen?«
Sabine schüttelte den Kopf. Ralph schluckte. Trotz allem, was gewesen war, hatte er nicht damit gerechnet, eine so klare Abfuhr zu kassieren.
Seine Kollegin schaute ihn nicht einmal an, sondern blickte durch ihn hindurch. Erst mit einiger Verzögerung begriff er, dass sie sich auf etwas konzentrierte, das vor ihrem geistigen Auge ablief. Schließlich fokussierte sich ihr Blick wieder.
»Meinst du, Fuller war derjenige, der den Drohbrief geschrieben, den Stein durch das Fenster der Polizeistation geworfen und dein Auto beschmiert hat?«
Ralph biss sich auf die Lippen. Angesichts der sich überschlagenden Ereignisse hatte er den ursprünglichen Auslöser für ihre Ermittlungen glatt vergessen. Dabei erinnerte ihn doch das Schmähgraffito an seinem Lada beständig daran. Er dachte darüber nach. Würde jemand, der im Verborgenen seine Fäden zog, Urkunden fälschte und Schmiergelder verteilte, etwas tun, mit dem er die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zog? Natürlich könnte es ein Ablenkungsmanöver gewesen sein. Nebelkerzen, die Fuller geworfen hatte, um Verwirrung zu stiften und Kräfte zu binden, die bei der Aufklärung der Korruptionsgeschichte fehlen würden. Doch ebenso gut könnte es jemand anderes gewesen sein. Lothar Trautwein, der ebenfalls Anlass hatte, die Ermittlungen zu behindern? Oder doch die Familie Metzger mit ihrer Wut auf Mirco Weitzel und Levin Queckbörner, die sie für den Verlust des Auges des Metzger-Juniors verantwortlich machten?
»Du hast recht«, sagte er. »Wir müssen weiterermitteln.«
Wieder knurrte sein Magen, diesmal laut.
»Ja.« Sabine lächelte. »Aber zuerst tun wir etwas gegen deinen Hunger.«
Nach kurzer Überlegung hatten sie sich für die Terrasse des Café Mondnacht in Bad Vilbels Neuer Mitte entschieden. Dort war es ruhiger als in der Frankfurter Innenstadt, und man hatte einen hübschen Blick auf die Nidda, die hier vom Kanal wieder zum Flüsschen mutierte und friedlich in Richtung Frankfurt plätscherte. Das Café war Teil der gläsernen Mediathek, die sich ähnlich dem Ponte Vecchio in Florenz über den Fluss wölbte. Das Bibliotheksgebäude war von den Erbauern auf eine Brücke gesetzt worden, mitsamt einem Café und einer weitläufigen Terrasse, die als Fußweg über die Nidda diente – ein wenig mittelalterliches italienisches Flair in der Wetterau.
Ralph und Sabine hatten einen Tisch an der Balustrade der Caféterrasse ergattert und ein ausgezeichnetes spätes Frühstück genossen. Satt und zufrieden liefen sie anschließend zu Fuß zum Markt. Dabei kamen sie an dem Platz vorbei, auf dem die Schausteller ihre Campingwagen und Wohnmobile abgestellt hatten. Kaufmann ließ den Blick neugierig über die Fahrzeuge schweifen und entdeckte einen Camper, an dessen Seite der Schriftzug »Fuller & Lohmann« prangte. Im selben Moment, in dem sie hinübersah, öffnete sich die Tür, und ein Mann trat heraus.
Sabine musste zweimal hinsehen, ehe sie erkannte, dass es sich um Johannes Lohmann handelte. Zwar trug er auch jetzt Jeans, T-Shirt und Turnschuhe, doch dieses Mal war es keine Markenkleidung, sondern Massenware. Die Hose war außerdem schmutzig und hatte Risse, die ganz offensichtlich nicht schon bei der Produktion hineingeschnitten worden waren. Auch das T-Shirt wirkte schmuddelig. Auf dem Kopf hatte er eine speckige rote Kappe.
Was mochte das für eine Veranstaltung sein, die ein solches Outfit erforderte? Irgendeine Rockband, bei der zerschlissene Kleidung zum guten Ton gehörte? Als Eventmanager musste man wohl flexibel sein und sich seiner Klientel anpassen.
Für eine Sekunde schob sich ein Bild vor ihr geistiges Auge, das sie irritierte. Hatte sie diesen Mann nicht vor zwei Tagen am Kettenkarussell beim Chip-Einsammeln gesehen? Aber warum sollte Lohmann das tun? Wahrscheinlich täuschte sie sich, schließlich pflegten viele Mitfahrer im Schaustellergewerbe diesen abgerissenen Look. Oder, wenn er es doch gewesen war, war es vielleicht seine Strategie, die Beziehungen zu seiner Klientel zu vertiefen.
Im nächsten Augenblick vergaß sie ihre Überlegungen zu diesem Thema, denn Angersbach marschierte schnurstracks auf den Verkaufswagen von Metzgers Stracke zu. Sabine beeilte sich, ihm zu folgen. Sie wollte nicht, dass er wieder einmal übers Ziel hinausschoss. Bis auf Mutmaßungen hatten sie gegen Vater und Sohn Metzger nichts in der Hand.
Doch Ralph überraschte sie. Er grüßte die beiden Männer hinter der Theke freundlich, wählte mit Bedacht eine dicke Ahle Wurst aus und ließ sie sich einpacken.
»Für meinen Vater«, erklärte er, als Sabine die Stirn runzelte. »Ich dachte, wir besuchen ihn mal wieder.«
»Ja, gern.« Die Idee gefiel ihr; sie mochte Johann Gründler, der auf einem einsam gelegenen Hof im Vogelsberg lebte und auch im Alter noch sein Hippie-Image pflegte. Gründler war nicht weniger stur als sein Sohn. Darüber hinaus war er vor allem unkonventionell, und die Besuche bei ihm waren vergnüglich, weil er einen unerschöpflichen Fundus an Geschichten aus seiner Zeit in der Antiatomkraftbewegung und anderen Bürgerinitiativen zu bieten hatte.
Angersbach bezahlte die Wurst und verstaute sie in der geräumigen Tasche seiner Wetterjacke. Erst dann sagte er: »Ich nehme an, Sie erinnern sich an uns? Kaufmann und Angersbach von der Kriminalpolizei.«
»Sicher.« Die Mienen der beiden Metzgers blieben unbewegt.
»Wir hätten noch eine Frage. Wo waren Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag?«
Die Augen von Metzger senior verengten sich. »Die Nacht, in der man diesen Polizisten ermordet hat? Meinen Sie, wir waren das?«
»Das hängt davon ab, ob Sie ein Alibi haben.«
»Wir waren in unserem Wohnwagen und haben geschlafen.«
»Kann das jemand bezeugen?«
»Mein Sohn kann bezeugen, dass ich dort war. Und ich kann bezeugen, dass er ebenfalls dort war.«
Kaufmann lachte unfroh in sich hinein. Ein Alibi, das zwei Tatverdächtige sich gegenseitig gaben, war nicht besonders viel wert.
»Was ist mit Ihrer Frau?«, bohrte Angersbach weiter. »Hat sie gemeinsam mit Ihnen im Wohnwagen geschlafen?«
»Nein.« Metzger senior verschränkte die massigen Arme vor der Brust.
Ralph wartete, doch mehr kam nicht.
»Weshalb nicht?«, fragte er. »Sie ist doch mit Ihnen hier auf dem Markt?«
»Ja. Aber sie schläft bei ihrer Mutter. Die wohnt in Karben. Ich nehme an, das kennen Sie?«
Angersbach nickte. In Okarben, einem Ortsteil von Karben, hatte er bis zum letzten Sommer ein Haus besessen, in dem er einige Jahre gemeinsam mit seiner Halbschwester Janine gelebt hatte. Jetzt war das Haus verkauft, und Ralph suchte nach seinem Traumhaus im Vogelsberg. Sabine nahm sich vor, ihn nach seinen Fortschritten zu fragen. Sie wusste, dass er sehr darunter gelitten hatte, als im letzten Sommer der Kauf des Hauses in Fuchsrod geplatzt war.
»Ist bequemer als in dem Wohnwagen«, setzte Metzger senior hinzu. »Der ist eigentlich zu eng für drei Erwachsene.«
Metzger junior, der bisher wortlos zugehört hatte, nickte. Kaufmann konnte sich vorstellen, dass es nicht leicht für den jungen Mann war, ständig auf so engem Raum mit seinen Eltern zu leben. Wahrscheinlich kam es deswegen gelegentlich zu Auseinandersetzungen. Eine Entschuldigung dafür, dass den beiden Männern gelegentlich die Sicherungen durchbrannten und der Junior sogar mit einer Eisenstange auf einen Polizeibeamten losging, war es allerdings nicht.
»Das ist leider nicht das, was wir als stichhaltiges Alibi bezeichnen«, bemerkte Angersbach.
Metzger senior stemmte seine Pranken auf die Verkaufstheke. »Und welchen Grund sollten wir gehabt haben, den Bullen umzubringen? Der war doch ein hohes Tier in Frankfurt, wie man so hört.«
Das entsprach nicht ganz den Tatsachen, doch in Metzgers Augen mochte es so aussehen.
»Er war der Sicherheitsbeauftragte für den Markt«, stellte Ralph richtig.
»Schön. Aber mit dem hatten wir keinen Ärger. Wenn wir jemandem eins auf die Rübe hätten geben wollen, dann den beiden jungen Schnöseln aus Bad Vilbel, die meinem Sohn das Auge ausgeschlagen haben und vor Gericht einfach so davongekommen sind.«
»In dem Fall wäre es gut, wenn Sie für den Freitag ein lückenloses Alibi hätten. Beide.«
Das war der Tag, an dem der Stein durch die Scheibe der Polizeistation geflogen war und jemand in leuchtendem Orange das Wort »Bullenschweine« auf Angersbachs Lada gesprüht hatte.
»Für den ganzen Tag? Warum denn das?«
Ralph erklärte es ihm.
»Jetzt werden Sie aber putzig«, stänkerte Metzger senior. »Das war der erste Markttag. Da war hier der Bär los. Wir hatten alle Hände voll damit zu tun, die ganzen Kunden zu bedienen. Unsere Stracke ist begehrt. Weil sie nämlich gut ist.« Er nickte, um seine Aussage zu unterstreichen. »Da haben wir weitaus Besseres zu tun, als uns alberne Streiche auszudenken.«
»Bis zum Polizeirevier ist es nicht weit«, gab Angersbach zu bedenken. »Können Sie – oder Ihre Frau – beschwören, dass sich keiner von Ihnen im Laufe des Tages aus dem Wagen entfernt hat?«
Metzger sah ihn an, als sei er nicht ganz dicht. »Natürlich war jeder von uns mal ein paar Minuten weg. Wir müssen schließlich auch gelegentlich was essen oder zur Toilette. Man kann sich ja schlecht ausschließlich von Wurst ernähren, oder?«
Also hatten die Metzgers auch für die Anschläge auf das Polizeirevier kein belastbares Alibi. Aber sie selbst hatten auf der anderen Seite nichts in der Hand, um ihnen nachzuweisen, dass sie etwas damit zu tun hatten.
»Danke.« Ralph wirkte unzufrieden, doch auch ihm war klar, dass sie im Augenblick schlechte Karten hatten. »Das war es fürs Erste.« Er wandte sich zu Sabine um und signalisierte ihr, dass er gehen wollte.
»Ich hoffe, Sie finden den Mörder und den Typen, der Ihren Wagen beschmiert hat«, rief Metzger ihnen nach. »Damit Sie uns endlich in Ruhe lassen.«