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D
urch die große Scheibe der Intensivstation konnten sie das Bett sehen, in dem Konrad Möbs lag. Um die Brust hatte er einen dicken Verband. Er hing an etlichen Kabeln und Schläuchen, aber seine Augen waren offen, und er atmete selbstständig.
Ein Arzt im weißen Kittel stand neben ihnen und wies mit dem Kopf ins Innere. »Ihr Kollege hat großes Glück gehabt. Die Kugel ist knapp am Herzen vorbeigegangen. Wir konnten sie entfernen, und wenn die Wunde verheilt ist, werden wohl keine Schäden zurückbleiben.« Er schaute auf Angersbachs Fuß, der mit einer straffen Bandage umwickelt war und in einer Gehhilfe aus Kunststoff steckte. »Gebrochen?«
»Nein. Nur ein Bänderriss.« Ralph grinste schief.
Der Arzt nickte. »Halten Sie ihn ruhig und legen Sie das Bein hoch. Sie haben ja jetzt Zeit, nicht wahr? Ihr Fall ist abgeschlossen.«
»Ja. Wir müssen nur noch ein paar Berichte schreiben.«
»Das kann sicher Ihre Kollegin erledigen«, meinte der Arzt. »Sie sollten sich krankschreiben lassen. Je weniger Sie herumlaufen, desto schneller heilt Ihr Fuß.«
Ralph machte eine vage Handbewegung. Der Arzt hatte sicher recht, aber ihm graute davor, wochenlang alleine zu Hause herumzusitzen. Die Zeit, die ihm jetzt noch mit Sabine blieb, wollte er sich nicht nehmen lassen.
Kaufmann zeigte auf den Patienten. »Dürfen wir zu ihm rein?«
»Aus medizinischer Sicht spricht nichts dagegen. Aber strengen Sie
ihn nicht zu sehr an. Für ihn gilt dasselbe wie für Ihren Kollegen. Schonung ist der beste Weg zur Heilung.«
»Wir reden nur kurz mit ihm.« Sabine nahm sich einen der grünen Kittel, die neben der Tür hingen, und schlüpfte hinein. Ralph tat es ihr gleich. Sie setzten die grünen Hauben auf, die ebenfalls bereitlagen, und banden einen Mundschutz um. Ralph kam sich ein wenig albern vor, als hätten sie sich als Statisten für eine Krankenhausserie zur Verfügung gestellt. Aber die Maßnahmen waren sicher vernünftig.
In der Tasche des Arztes piepte es. Er zog ein kleines elektronisches Gerät hervor, warf einen Blick darauf und steckte es wieder zurück. »Ich muss mich verabschieden. Die Arbeit ruft.« Er lief mit schnellen Schritten über den Gang davon.
Sabine klopfte an die Tür des Patientenzimmers und öffnete sie.
Konrad Möbs starrte an die Decke und schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Sabine Kaufmann nahm sich einen Stuhl und setzte sich an sein Bett. Angersbach blieb am Fußende stehen.
»Hallo, Herr Möbs.« Sie hatte den Impuls, seine Hand zu streicheln, ließ es aber sein. So vertraut waren sie nie miteinander gewesen. Im Gegenteil. Möbs hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihr das Leben schwer zu machen. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle?
Möbs wandte ihr endlich den Blick zu. »Ich muss mich wohl bei Ihnen bedanken. Sie haben mir das Leben gerettet.«
»Wir haben nur unseren Job gemacht.«
Ralph legte die Hände auf die Metallstange am Fußende. »Warum haben Sie nichts gesagt? Sie haben Johannes Lohmann doch erkannt. Seit wann wussten Sie, dass er Rico Krawitz ist?«
Möbs legte den Kopf in den Nacken. »Erst seit der Trauerfeier für Horst. Er saß neben Markus Fuller in der zweiten Reihe. Da hat sich irgendwas in meinem Hinterkopf geregt. Er kam mir bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht einordnen. Am Abend zu Hause ist es mir
eingefallen.«
»Warum haben Sie uns nicht informiert? Sie wussten doch, dass wir den Verdacht haben, dass die Morde an Roth und Schulte mit dieser alten DDR
-Geschichte zu tun haben.«
Möbs senkte den Blick. »Ich habe es nicht übers Herz gebracht. Nach allem, was ich Rico angetan hatte. Es war ja auch gar nicht sicher, dass es wirklich um diese Sache damals ging.«
»Trotzdem hätten Sie mit uns reden müssen«, beharrte Sabine.
»Das konnte ich nicht. Ich habe Rico geliebt, genau wie seine Mutter. Er war wie ein eigener Sohn für mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er ein Mörder ist. Rico war ein guter Junge. Ich wollte nicht glauben, dass er so etwas Schreckliches getan hat.«
Sabine war gegen ihren Willen gerührt. Sie hätte nie geglaubt, dass ein harter Hund wie Möbs auch eine menschliche Seite hatte. Abrupt stand sie auf. Am Ende wurde ihr Möbs noch sympathisch …
»Ihre Loyalität hätte Sie beinahe das Leben gekostet«, erwiderte sie barscher, als sie es vorgehabt hatte.
Möbs wich ihrem Blick nicht aus. »Ich war nie ein guter Menschenkenner, nicht wahr? Ich habe den falschen Leuten vertraut und die richtigen zurückgewiesen.«
Kaufmann hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Sie musste hier raus.
Angersbach bemerkte ihre Not. »Wir wollten Ihnen nur mitteilen, dass Rico gestanden hat. Die Morde an Roth und Schulte. Er war auch der Verfasser der Drohbriefe. Und er hat seine alten Freunde vom Kettenkarussell angestiftet, den Stein durch die Scheibe zu werfen und meinen Wagen zu beschmieren. Er wusste, dass sie im großen Stil Handys stehlen und in irgendwelchen Onlineshops verkaufen, und hat behauptet, wir wären ihnen auf der Spur. Die Aktionen gegen die Polizei waren angeblich ein Ablenkungsmanöver, aber in Wirklichkeit ging es Rico nur darum, uns seine Freunde als Tatverdächtige zu präsentieren.«
Möbs lächelte leicht. »Er war immer ein kluger Kopf. Wenn man ihm bessere Chancen eingeräumt hätte …«
Das war Sabine nun doch zu schlicht. »Man muss kein Mörder werden, nur weil man eine schwere Kindheit hatte. Er hatte genügend Zeit, diese Erlebnisse zu verarbeiten. Wir haben schließlich alle unser Päckchen zu tragen.« Sie ging zur Tür, zwang sich aber, sich noch einmal umzudrehen. »Gute Besserung«, wünschte sie. Dann schlüpfte sie nach draußen.
Ralph folgte ihr. Er ging neben ihr her zum Ausgang. Bei jedem Schritt verursachte seine Kunststoffgehhilfe einen harten Knall auf dem Linoleum.
Als sie draußen standen, schaute er sie von der Seite an. »Ich gehe noch einen Kaffee trinken. Kommt die toughe Kommissarin mit?«
Sabine holte tief Luft. Am liebsten wäre sie weggelaufen, doch dann würde sie nur wieder allein in ihrer Wohnung in Wiesbaden sitzen und grübeln.
»Klar«, sagte sie. »Dann können wir gleich die Arbeit verteilen, die noch zu erledigen ist.«
Angersbach grinste. »Ich dachte, das machst du? Du hast es doch gehört. Ich soll mich schonen.«
Kaufmann verdrehte die Augen. Das war wieder typisch. Vor anderen wurde der starke Mann markiert, aber wenn es um die langweiligen Berichte ging, fiel ihm plötzlich ein, dass er nicht arbeitsfähig war.
»Du kannst den Fuß hochlegen, während du tippst«, gab sie schroff zurück. »Ich leihe dir auch meinen Laptop. Den kannst du dir auf den Schoß stellen.« Sie schaute auf Angersbachs grünen Lada, der immer noch von der grellen Schmiererei an der Seite geziert wurde. »So schlimm scheint es ohnehin nicht zu sein. Auto fahren kannst du ja auch.«
Ralph machte eine einladende Handbewegung. »Nicht nur das.
Wenn du nett bist, nehme ich dich sogar mit.«
Sabine kletterte auf den Beifahrersitz und blickte angestrengt durch die Frontscheibe. Vielleicht sollte sie doch lieber nach Hause fahren. Auf die Dauer waren diese seltsamen Vibrationen zwischen Ralph und ihr schwer zu ertragen.
Auf halber Strecke änderte er seine Meinung. Statt die Bäckerei anzufahren, die er im Sinn gehabt hatte, steuerte er den Lada in Richtung Vogelsberg. Allein mit Sabine im Café zu sitzen erschien ihm plötzlich zu intim. Was sollte er denn tun? Über den Tisch nach ihrer Hand greifen, ihr tief in die Augen sehen und über seine Gefühle sprechen? Andere Männer mochten das fertigbringen, aber er konnte es nicht. Wenn das Schicksal es so wollte, musste es einfach passieren. Ohne große Vorreden, aus der Situation heraus.
Sabine reagierte nicht auf seinen Richtungswechsel. Sie starrte durch das Seitenfenster auf die Wiesen und Felder, ohne ein Wort zu sagen. Die Spannung zwischen ihnen war mit Händen zu greifen. Offenbar war ihr das ebenso unangenehm wie ihm.
Erst als er den Weg zum Haus seines Vaters hinauffuhr, blickte sie auf. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Anscheinend gefiel ihr diese Lösung ebenfalls besser.
Angersbach lenkte den Wagen auf den Platz vor dem Haus und gab einen überraschten Laut von sich. Dort stand nicht nur Gründlers alter schlammbrauner Passat, sondern auch ein Hippie-Bus. Ein alter VW
-Bus, über und über mit Graffiti besprüht. Ralph identifizierte eine hügelige Landschaft, blauen Himmel und Dutzende bunt blühender Blumen. Setzte Johann Gründler nun doch seine Idee von der Hippie-WG
in die Tat um, und die ersten potenziellen Mitbewohner gaben sich ein Stelldichein? Sowenig er von dem Plan hielt, so recht war es ihm jetzt. Je mehr Personen anwesend waren, desto weniger würde jemand versuchen, seine Gefühle auszuforschen.
»Sieht aus, als hätte dein Vater schon Besuch«, bemerkte Kaufmann. »Ich hoffe, wir stören nicht.«
Ralph holte die eingewickelte Ahle Wurst aus dem Kofferraum. »Falls doch, geben wir einfach die Stracke ab und fahren wieder.« Er ging zur Haustür und drückte auf den Klingelknopf.
Im Inneren des Hauses rührte sich nichts. Erst als er ein zweites und drittes Mal geläutet hatte, öffnete sich die Tür.
»Ralph.« Johann Gründler, unrasiert, die grauen Haare am Hinterkopf zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden und mit der obligatorischen braunen Weste, die an griechische Schafhirten erinnerte, grinste breit. »Du kommst genau richtig.« Er breitete die Arme aus und fasste Kaufmann an den Schultern. »Sabine. Schön, dass ihr da seid.«
Gründler winkte sie herein und ging ihnen voran. Angersbach schnupperte. Aus dem Wohnzimmer zog durchdringender Marihuanageruch in den Flur. Sofort versteifte er sich. Er wollte nicht Zeuge werden, wie sich ein Haufen alter Männer illegalen Aktivitäten hingab.
Kaufmann versetzte ihm einen leichten Stoß in den Rücken.
»Nun geh schon. Das ist nur Eigenbedarf.«
Ralph schnitt eine Grimasse. Das fehlte ihm noch, dass sich Sabine mit Gründlers Hippiefreunden gegen ihn verbündete. Er hielt seinem Vater das Päckchen hin. »Hier. Habe ich dir mitgebracht.«
Gründler entfernte das Papier und las den Aufdruck. »Mhm. Metzgers Stracke.« Er roch an der Wurst. »Gute Wahl. Eine bessere findest du weit und breit nicht.«
»Aha.« Angersbach hatte nicht gewusst, dass Metzger über die Jahrmärkte hinaus bekannt war. Aber für ihn als Vegetarier war das auch von untergeordnetem Interesse.
»Reiner Zufall. Wir hatten die Familie bei unseren Ermittlungen im Visier.«
»O ja. Das sind ordentliche Haudegen.« Gründler grinste. »Was haben sie denn angestellt?«
»Nichts.« Angersbach begann zu bereuen, dass er sich für den Besuch bei seinem Vater entschieden hatte. Zu viel Anarchie, dabei brauchte er doch gerade etwas, woran er sich festhalten konnte.
»Wir dachten, sie könnten für die Drohbriefe verantwortlich sein, die man dem Polizeirevier Bad Vilbel geschickt hat«, bereicherte Kaufmann seine sparsame Antwort. »Aus Rache. Weil Weitzel und Queckbörner bei einem Einsatz wegen häuslicher Gewalt und den daraus folgenden Auseinandersetzungen dem Junior versehentlich ein Auge ausgeschlagen haben. Aber sie hatten nichts damit zu tun.«
Gründler legte die Wurst auf die Arbeitsplatte in der Küche.
»Die essen wir später«, versprach er. »Im Augenblick sind wir beim Tee. Es gibt auch Scones.«
Er öffnete die Wohnzimmertür, und Ralph linste neugierig in den großen Raum.
Drei Personen saßen in den abgewetzten Sesseln vor dem Kamin. Allerdings waren es keine alten Männer mit grauen Haaren, wilden Bärten und Haschpfeifen in den Fingern, sondern der Rest der Familie: seine Halbschwester Janine, ihr Verlobter Morten und dessen Kommilitone John. Die drei standen auf, als sie sahen, wer gekommen war, und Janine flog ihm in die Arme.
Ralph begrüßte sie und schüttelte den beiden Männern die Hand.
»Was tut ihr denn hier?«
Janine lächelte breit. »Wir fanden es so schön, dass ihr uns besucht habt. Da dachten wir, wir fahren einfach mal in den Vogelsberg und schauen bei Onkel Joe vorbei.«
»Onkel Joe«, wiederholte Ralph mit zweifelndem Unterton.
»Du solltest mal hören, wie Morten Johann ausspricht«, grinste Janine. »Außerdem klingt Joe doch viel cooler.«
Cool? Na, das
traf es! Alte, kiffende Männer in ewig währender
Midlife-Crisis. Doch Angersbach schluckte jeden Kommentar hinunter. Da standen sie plötzlich alle. Gründler war zwar nicht wirklich mit Janine verwandt; Ralph und sie hatten unterschiedliche Väter, doch Janine hatte den alten Gründler sofort adoptiert, als sie sich kennengelernt hatten. Wahrscheinlich, weil sie diese rebellische Ader hatten. Und der Kommissar stellte fest, dass sein Umfeld eben doch nicht nur aus einem Metzger und einem Rechtsmediziner bestand.
Sabine Kaufmann hatte keine Mühe, die wirkliche Motivation für die Reise zu erraten.
»Ihr wollt sicher wissen, wie es mit dieser alten DDR
-Geschichte weitergegangen ist, stimmt’s?«
Janine und die beiden Männer waren kein bisschen verlegen. Sie strahlten Sabine an.
»Na ja«, sagte John und zwinkerte ihr zu. »Nachdem wir nun schon dabei waren …«
»Setzt euch.« Gründler wedelte mit den Händen. »Ich hole euch Tassen. Und dann erzählt ihr alles ganz genau. Ich will diese Geschichte auch hören.«
Ralph ließ sich auf das altersschwache Sofa fallen, und Janine kuschelte sich neben ihn. Sabine übernahm Janines Sessel. Gründler kam mit den Tassen, einer frischen Kanne Tee und einem Teller mit duftenden Scones. Den Aschenbecher, in dem noch die Reste des Joints lagen, räumte er diskret beiseite. Er kannte Ralphs Einstellung zu diesem Thema, und Ralph rechnete es ihm hoch an, dass er darauf Rücksicht nahm.
Er nahm die Tasse, die ihm sein Vater reichte, und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Er war froh, dass er sich für diesen Besuch entschieden hatte. Das war genau die Atmosphäre, die er brauchte, um die aufreibenden letzten Wochen zu verarbeiten.