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T räume sind unfreiwillig. Daran wird in jeder Tradition geglaubt, von der neurologischen bis zur numinosen. Manche Träume werden als Prophezeiungen betrachtet, andere als Unsinn, also noch nicht eingetretene Prophezeiungen, doch auf jeden Fall halten wir alle Träume für aufgezwungen, selbst Wachträume, ununterscheidbar von Sehnsüchten …

Judy, unsere erfolgreiche Thronfolgerin, unsere Hoffnungsträgerin, unser Entelechie-Mädchen, der Familie »sanfte Erwartung« und »Blume der Hoffnung« … Jahrelang glaubte ich, sie würde es nach ganz oben schaffen. Wenn ich an einer der behaglichen alten Villen der Patrizier und verstorbenen Kanalmagnaten von Corbindale vorbeiging, dachte ich: Eines Tages wird Judy dort wohnen. Wenn ich in einer der neuen Ladenketten draußen am Highway einkaufte, wo ich nie den Dichtkitt oder auch nur einen Verkäufer finden konnte, dann dachte ich: Eines Tages wird meine Tochter euch aufkaufen und auf Trab bringen. Ich war überzeugt, dass sie alles, was sie sich jemals wünschte, alles, was Edith sich jemals gewünscht hatte, auch erreichen würde. Eine Karriere. In der Wirtschaft, der Industrie, außerhalb der Universitätspolitik. Eine Laufbahn an der Wall Street. Aktien und Anteile. Sie würde Erfolg haben und nie kämpfen müssen. Wie sie das schaffen sollte, wenn sie weiterhin so unglücklich war – darüber machte ich mir nie Gedanken. Das würde sie schon herausfinden. Sie würde aufhören, unglücklich zu sein, sie würde sich dazu entschließen, und vielleicht beschloss sie das tatsächlich an diesem Thanksgiving.

In dem beinahe halben Jahrhundert, das seit dem Morgen danach vergangen ist, hat Judy mir nie eine bessere Erklärung für ihr Handeln geliefert als ihren Schrei – ihren Sirenenschrei, der meinen Schlaf durchdrang und mich von den Papieren aufschreckte, die den Fußboden meines Arbeitszimmers bedeckten.

Ich sollte eigentlich früh aufstehen, um meine Eltern zum Bahnhof zu fahren und Judy bei Freunden abzusetzen, mit denen sie eine Schlittenfahrt im Holiday Valley unternehmen wollte. Wir sollten um sechs Uhr früh aufbrechen – oder besser gesagt, zu der Zeit sollten meine Eltern, die zwanghaften Frühaufsteher, Judy und mich aufwecken, doch Judy hatte gar nicht geschlafen: Sie war extra wach geblieben.

So jedenfalls spiele ich es in Gedanken durch: Judy starrte wach, schlaflos und – hätte ich es nur bemerkt! – ohne zu schnarchen auf die Wanduhr, bis sie, als sie meine Eltern hörte, wie sie aufstanden und unten das Klappsofa einklappten, ebenfalls das Bett verließ und sich nahe der Tür auf den Teppich kniete, die Hände gegen die Türfüllung stemmte, ihr ganzes zartes Mädchengewicht darauf stützte und ihr Gesicht vor den Türknauf hielt, sodass ihre Augen gerade so darüber reichten und sie, wenn sie nach unten schaute, ihr messinggelbes, verzerrtes Spiegelbild sah.

Um Punkt sechs standen meine Eltern vor ihrer Tür. Jedenfalls mein Vater; er drehte den Türknauf von außen, doch die Tür schien verschlossen. Er klopfte. »Wach auf, Ms. Fairness. Wir wollen los.« Keine Antwort. Jetzt etwas lauter: »Wach auf, schöne und faire Judele. Wir brechen auf«, und Judy sagte mit schläfriger Stimme: »Komm rein.« Mein Vater rüttelte am Türknauf. »Es ist abgeschlossen. Wovor hat sie Angst, dass sie sich einschließt?« »Ich ziehe doch selbst«, sagte Judy, »aber die Tür klemmt.« Aber natürlich klemmte sie gar nicht, und sie zog auch nicht daran; sie drückte mit aller Macht dagegen. »Versuch es jetzt noch mal, Zaide.« »Okay«, sagte mein Vater, »geh zur Seite« – er behauptete stets, das gesagt zu haben, und meine Mutter, die oben am Treppenabsatz stand, sowie Edith, die aus unserem Schlafzimmer getreten war und sich neben sie gestellt hatte, haben diese Behauptung abwechselnd bestätigt und bestritten, und ihre Aussagen stimmten überein oder widersprachen sich, je nach Erfordernissen und Familienklima.

»Okay, Zaide«, sagte Judy, »ich bin aus dem Weg«, aber das war sie natürlich nicht, sie blieb einfach, wo sie war, kniete vor der Tür wie ein meditierender Mönch oder ein Salam-entbietender Imam auf dem Teppich, das Gesicht dicht am Knauf, und überließ ausatmend nur die Hände der Schwerkraft, ließ die Arme schlaff an den Seiten hängen, sodass mein brachialer Vater, als er seine ganze Textilarbeiterkraft zusammennahm und sich gegen die Tür warf, diese auffliegen ließ und ihr innerer Knauf gegen ihre Nase hämmerte, als wäre die Nase ein Pflock, der durch ihr Gesicht getrieben werden sollte.

So jedenfalls stellte ich es mir vor, und ich musste es mir vorstellen, denn ich war nicht da … Ich verschlief das alles bis zu ihrem Schrei am Ende …

Ich habe es seitdem unablässig geträumt: Ihre steifen Knie, die in den gallegrünen Teppich sinken, der Schweiß von ihrer verabscheuten Nase, der auf den spiegelnden Messingknauf tropft, die notwendige perverse Disziplin, standzuhalten und im richtigen Augenblick loszulassen – um sich von meinem Vater so beschädigen zu lassen, wie sie es sich wünschte.

Oder vielmehr würde Judy noch mehr bekommen, als sie sich wünschte, denn sie hatte immer nur über kosmetische Nasenkorrekturen gesprochen, doch nun war – wie die Ärzte sofort begriffen, als mein Vater und ich sie heulend und taumelnd ins Krankenhaus stützten – eine komplette Wiederherstellung notwendig.

Das Blut auf dem Teppich ging nicht wieder heraus, obwohl Edith und, als sie müde wurde, auch meine Mutter schrubbten: Der Galle-Ton wurde bloß lila.

Meine Eltern reisten ab, ich weiß nicht mehr recht, wann, nur noch, wie – Edith warf sie hinaus und ließ dann ihre Gefühle tagelang am Telefon an den örtlichen Bodenlegern aus, versuchte einen von ihnen zu überreden, zu uns herauszukommen und neuen Teppichboden zu verlegen, ehe Judy aus dem Krankenhaus entlassen und zu uns zurückkehren würde. Und wie jede Aufgabe, die Edith sich vornahm, bewältigte sie auch diese.

Die Tür war meine Sache. Sie war gesplittert und verklebt und musste, fand Edith jedenfalls, ersetzt werden. Ich hob sie selbst aus den Angeln – schockiert darüber, wie stolz ich auf diese Leistung war –, und schon stand Judys Zimmer weit offen.

Ich schnallte die Tür auf mein Autodach und schleppte sie zu Chautauqua Lumber und Bemus Windows & Doors und ungefähr einem Dutzend anderer Unternehmen, die mir alle sagten, ein Ersatz müsse bestellt werden und käme sicher erst nach Weihnachten.

Sie hatten andere Modelle auf Lager, natürlich, aber Edith bestand auf dem gleichen Modell: Eine einzelne unpassende Innentür würde die Tragödie dahinter sofort verraten. Nachdem ich die Bestellung aufgegeben hatte, fuhr ich eine Weile herum, sah mir die Wälder an, sah mir Baustellen an, versuchte einen Ort zu finden, die alte Tür unauffällig zu entsorgen, damit ich sie nicht als eindeutigen Hinweis für Müllmänner und Nachbarn vors Haus stellen musste. Am Ende beschloss ich, sie schräg in einen Müllcontainer hinter der College-Cafeteria zu legen und zu hoffen, irgendein Kind würde sie finden und als Schlitten nutzen, wenn der Schnee von den Bergen herunterkam.

Ich fuhr an der Corbindale High vorbei, holte Judys Aufgaben ab, nahm sie mit nach Hause, erledigte sie und brachte sie wieder hin. Arbeitsblätter zu Verslehre, Säuren und Basen und Differenzial- und Integralrechnung: mit der Differenzialrechnung hatte ich Probleme.

Während Edith in einem Stuhl an Judys Krankenhausbett schlief, blieb ich zu Hause und lungerte in ihrem Zimmer herum, durchstöberte ihre Regale, bemerkte die am häufigsten verwendete Farbe in ihren Aquarellen (schwarz), die Trillergriffe, die am häufigsten über die Noten ihrer Etüden gekritzelt waren (von C zu Cis). Unter ihrem Kissen lugte die satinglänzende Ecke eines Nachthemds hervor, und ich verfluchte mich selbst, weil ich es nicht früher bemerkt hatte – dass die Judy, die ich ins Krankenhaus gebracht hatte, vollständig bekleidet gewesen war. Ihr blutverschmiertes Gesicht musste ihre Kleidung darunter, eines der unrettbaren, beschmierten Kostüme von ihren anderen Großeltern, die in meinem Traum noch knitterfrei und fleckenlos gewesen waren, verborgen haben. Ich zog das Nachthemd hervor und fand darin eingewickelt die Nasenklemme. Sie war auf der Rückseite eines Schönheitsratgebers beworben worden, Judy hatte den Bestellcoupon ausgeschnitten und losgeschickt, und seit die Klammer kurz nach Jom Kippur im schlichten braunen Umschlag eingetroffen war, hatte sie sie jede Nacht getragen, abgesehen von der schlaflosen Nacht vor … als Jabotinsky sie verwendet hatte, um sein Dossier über Judy zusammenzuheften …

Ich steckte die Klammer in eine Tasche, zusammen mit den Sachen, die Edith haben wollte – Kreuzworträtselhefte, andere Denksportaufgaben –, und fuhr zum Krankenhaus, wo ich ihr das Kurpfuschergerät in die Hand drückte.

»Judys Nasenklammer? Was soll ich denn damit? Was soll sie denn damit? Die braucht sie nicht mehr.«

»Sie hat sie nicht getragen.«

»Und?«

»Als wir sie hergebracht haben. Als das alles passiert ist. Sie hat sie nicht getragen.«

»Und das beweist was?«

»Das beweist, dass das, was passiert ist, kein Unfall war.«

Als Edith aufgehört hatte zu weinen, stand sie auf, ging mit mir zum Fahrstuhl und warf das Kneifgerät in den Mülleimer. »Darf ich fragen, Ruben – war meine Schwangerschaft ein Unfall?«

»Nein.«

»Und betrachtest du unsere Ehe als einen Unfall?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Aber hast du irgendeinen Beweis dafür?«

»Habe ich nicht, außer dir. Mein einziger Beweis ist, was du sagst.«

»Dein einziger Beweis ist, was wir beide sagen, und in diesem Fall sagen wir beide, dass Judy einen Unfall hatte.«

»Verstanden.«

»Und wenn wir das nur oft genug sagen, glauben wir es eines Tages vielleicht sogar.«

Jedes Mal, wenn ich bei meinen folgenden Besorgungen eine Tür öffnete, stellte ich mir Judy auf der anderen Seite vor; ich musste an jedes Mal denken, wenn ich eine Tür zu schnell geöffnet hatte und Judys Gesicht vor mir sah … Hatte sie diese Nummer geprobt oder gar versucht, mich mitschuldig zu machen? Was war mit den vielbändigen Nachschlagewerken, die sie von mir ausgeliehen hatte, oder mit anderen schweren, gebundenen Büchern – was hatte sie mit Marx’ Kapital gewollt, wenn nicht es von einer hohen Leiter fallen, selbst blitzschnell herunterklettern und sich dann davon mitten im erstaunten Gesicht treffen lassen? Und als sie einmal ein bisschen zu dicht an die Lücken zwischen den Lamellen des Garagenrolltors geraten war? Waren das alles abgebrochene Versuche? Als Heranwachsender in der Bronx hatte ein Junge in meiner Straße behauptet, eine bestimmte Masturbationstechnik in Verbindung mit Gummibändern hätte es ihm ermöglicht, die Haut seines Penis zu verlängern und so die Vorhaut wiederherzustellen, die ihm im Alter von einer Woche abgeschnitten worden war. Ich frage mich, ob es wohl funktioniert hat. Ich meine, er hat es mir gezeigt, er hat es uns allen in der Gasse gezeigt, aber ich konnte es nicht recht beurteilen. Zuletzt hörte ich, er habe ein Vermögen mit Versicherungen, Rückversicherungen und Verbraucherkrediten verdient. Jedenfalls könnte ich so etwas gebrauchen, so eine Art aufgemotzte mittelalterliche Streckbank, bloß für mein Hirn – um meine Tochter zu verstehen.

Nachdem ich ihre Schubladen durchwühlt hatte, ging ich in mein Arbeitszimmer, entschied mich für die endgültigen Fassungen ihrer Essays, tippte sie ab, stellte ihre Bewerbungsunterlagen zusammen und unterschrieb sie mit ihrem Namen. Am Tag, als Edith Judy wieder nach Hause brachte, ging ich damit zum Postamt. Was für ein hübsches, schlichtes Gebäude in der dezemberlichen Dämmerung. Ein hübsches, schlichtes Gebäude aus mildem Backstein. Über den Schaltern hing schon ein Kranz aus Fichtenzweigen. Auf dem Heimweg blinkten sterngekrönte Kegel, und kleine Gartenschmuck-Esel beteten ein auf Stroh gebettetes Kindlein an.

In den Weihnachtsferien ging ich weiter jeden Tag zur Uni, wenn auch nur, um auf dem Weg die aufgezogenen Vorhänge, die geputzten Fenster und die von lamettabehängten Bäumen erleuchteten Inneneinrichtungen zu begaffen. Es sah aus, als wäre jedes traute Heim eine Werbeeinblendung – und nun eine Botschaft unserer Sponsoren …

Unser Haus war das einzige, das im Dunkel lag. Wenn seine ungeschmückten Fenster im letzten Jahr – unsere Nachbarn, aber mehr noch unsere Unzulänglichkeit – mit der Erklärung adressiert hatten: »Hier wohnen Juden«, dann fügten sie in diesem Jahr noch »leider« hinzu.

Dabei wussten wir nicht einmal, wann Chanukka war.

Während Edith und ich uns drinnen gegenseitig bestraften, frohlockte Judy, blieb im Bett und fest unter der Decke eingemummelt, als hätte sie alle Knochen gebrochen, dabei hatte sie bloß leichte Schmerzen und Schwellungen, ein bisschen dunkle Ringe um die Augen. Den Kopf prinzessinnengleich auf Kissen gebettet schaute sie, um die Sichtblende ihres Schienenverbandes herum, der aus ihrem Gesicht aufragte wie eine Mullantenne, auf den Fernseher.

Der Fernseher war neu, gerade gekauft. Niemals hätte ich mir ein so teures Geschenk abschwatzen lassen, wenn ich nicht so schwach gewesen wäre. Es war ein Geschenk für uns alle von uns allen gemeinsam. Das redete ich mir jedenfalls ein: Wir brauchten Lachen im Haus, wir brauchten Leuchten, und die neusten Modelle zeigten schon Farbe. Ich wählte ein massives Gerät von Philco namens »Miss America«, dessen blonde Kiefernkonsole wie ein Kiefernstumpf aussah und die ich von den Lieferanten hinauf in Judys Zimmer schleppen ließ, ehe Edith widersprechen konnte oder überhaupt von dem Kauf erfuhr.

Ich machte allerdings klar – zunächst Judy, dann, nach ihrer Rückkehr aus der Bibliothek, auch Edith –, dass dieses Arrangement nur vorübergehend war.

Sobald Judy genesen war, würde der Fernseher nach unten wandern, wo er hingehörte.

Besonders gern mochte sie Quizshows, und es war herzerfrischend, sie in den Wachphasen zwischen dem Schmerzmitteldämmer lachen und die Antworten schreien zu hören.

Aus meinem Arbeitszimmer konnte ich die Fragen nicht deutlich hören, nur die Antworten, die Judy ausrief, und von ihnen – wenn sie korrekt waren, wie fast immer – musste ich auf die Fragen schließen. Vasco da Gama. Welcher portugiesische Seefahrer entdeckte die Schiffsroute nach Indien? Willem Barents. Nach wem ist die Barentssee benannt? Judy rief die Antworten und schimpfte laut über die falschen Antworten der Kandidatinnen und Kandidaten, und wenn sie dann sah, dass sie richtig gelegen hatte, klatschte sie. Sie applaudierte sich selbst und jubelte. Es war verstörend. Die Veränderung wirkte beinahe manisch, jedenfalls in ihrem blutigen Mumiengesicht.

Es kam mir vor, als wäre nur durch das Umlegen eines Schalters oder das Drehen eines Wählknopfs – oder durch eine Tür, die ihr ins Gesicht knallte – ein Genusskreislauf in Gang gesetzt worden, und sie lächelte wie früher als Kind, oder jedenfalls so sehr, wie der Schmerz es zuließ.

Entdecker & Entdeckungen war eine Lieblingskategorie, sie mochte aber auch Erfinder & Erfindungen, Anatomie, das Sonnensystem. Ihr gefiel der Verdacht, dass die Shows alle abgekartet waren, denn selbst wenn alle betrogen, gewann sie trotzdem. Sie notierte sich, was sie jeweils erreicht hatte, und verkündete eines Tages stolz, sie habe – nicht hätte, sondern habe – 32000 Dollar und eine Kreuzfahrt für zwei nach San Juan gewonnen: »Und welchen von euch Sonnenanbetern soll ich mitnehmen?«

Edith und ich bedienten sie von hinten und vorn – oder vielmehr: Edith bediente und ich bot ihr mein gebrochenes Herz. Wir schlichen auf Zehenspitzen die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer, über einen Teppichboden, der noch uneben und blasig lag, noch nicht von der Sonne gebleicht.

Wir klopften an ihren Türrahmen und standen an der Schwelle, die immer noch auf eine Tür wartete, Schmerztabletten und Canada Dry auf dem Tablett, und beschränkten unsere Konversation auf Quizshow-Plaudereien: Mir geht’s gut, bestens, ich freue mich so, hier zu sein … Ich möchte hier aus Hollywood ganz herzlich meine Familie zu Hause in Peoria grüßen … Ich kann es kaum erwarten, mit den Fragen loszulegen …

Unten im Erdgeschoss konferierten Edith und ich wie Dienstmädchen und Butler, die eine gescheiterte Affäre hinter sich haben und jetzt versuchen, ihre Spannungen außen vor zu lassen, weil die Herrin krank ist. Wir unterhielten uns flüsternd über Judys Mahlzeiten. Darüber, ob sie gegessen hatte, und wie viel wovon. Ob es schon zu spät war, die Familien-Weihnachtskarten zu verschicken, was, wie man uns im letzten Jahr klargemacht hatte, im Grunde verpflichtend war für alle Mitglieder der Corbindale Women’s League, des Nachbarschaftsrates Algonquin Heights und der Evergreen Street Nachbarschaftshilfe. Wir flüsterten, obwohl der Fernseher dröhnte und in der Küche der Geschirrspüler rauschte.

Wenn wir wirklich etwas zu besprechen hatten, gingen wir hinaus auf die Veranda.

Judy war gegen eine Tür gelaufen (hatten wir den Ärzten erzählt); Judy war ausgerutscht und gegen eine Tür gefallen (hatte ich Judys Lehrern an der Corbindale High erzählt); Judys Großeltern waren die Treppe heruntergekommen, als sie hinaufging, und »die alten Leute sind ganz schrecklich gestürzt, und ich musste sie im Hechtsprung auffangen« (so hatte Judy es, wie Edith mitgehört hatte, ihren Freundinnen am Telefon erzählt). Edith und ich debattierten flüsternd auf der Veranda, an welche Version wir uns halten sollten, falls jemand nachfragte, und ob wir den Ärzten Blumen schicken sollten, oder waren Blumen zu viel? Und wieso sollten wir mit Judy nicht zu einem Spezialisten in New York fahren – ein Spezialist in New York bedeutete ein jüdischer Arzt –, um sicherzugehen, dass in ihrem Inneren alles richtig verheilte, weil Nasenverletzungen manchmal auch Hirnschäden nach sich ziehen können?

»Wie das?«, fragte ich. »Welcher Arzt hat dir das denn erzählt?«

»Dr. Doolittle. Dr. Schiwago. Das ist Allgemeinwissen. Wenn das Nasenbein ins Gehirn gerammt wird, kann es etwas beschädigen.«

»Judys Nasenbein wurde nicht ins Hirn gerammt.«

»Woher weißt du das?«

»Oder wenn doch, dann hat es sie glücklicher gemacht.«

»Es hat sie noch verrückter gemacht. So sehr, dass ich Angst vor ihr habe. Davor, was sie anstellen könnte, wenn wir sie allein lassen.«

So wollte Edith einerseits Sorge demonstrieren, gleichzeitig aber aus unseren Weihnachtsterminen herauskommen und mir sagen, dass ich die gesellschaftlichen Verpflichtungen allein wahrnehmen musste. Und wenn ich allein nicht damit klarkam, musste ich sie eben auslassen. Ich war allerdings nicht sicher, was schlimmer war: dass ein Fakultätsmitglied ohne Ehefrau bei einer Veranstaltung auftauchte oder dass er überhaupt nicht auftauchte. Gar nicht aufzutauchen würde als Brüskierung wahrgenommen und religiös interpretiert; solo aufzutauchen ließe auf häusliche Probleme schließen. Trinken in der Küche. Tablettenprobleme. Ein Professor auf der Pirsch.

»Was soll ich tun?«

»Ist mir egal. Ich will nicht ausgehen. Nicht dieses Jahr.«

»Was soll ich ihnen sagen?«

Edith überlegte. »Sag ihnen, deine Frau hat Angst, deine Tochter allein zu lassen, weil sie sich dann an der Gardinenstange aufhängt oder mit Plastiktüten erstickt oder Gas aufdreht und den Ofen zündet.«

»Hör auf, Edith, du wirst unvernünftig.«

»Wir stehen im Winter flüsternd auf einer Veranda vor einem fast leeren Haus. Wir sind beide unvernünftig. Aber ich bin diejenige, die zu Hause bleiben und aufpassen muss, dass nichts passiert.«

»So wie die Leute, die nicht auf Risse im Pflaster treten oder drinnen keinen Schirm aufspannen. Wie die Leute, die nicht einschlafen dürfen, weil sonst ein Meteor auf die Erde stürzt.«

»Genau so, ja. Sag ihnen, ich bin krank.«

»Welche Art von Krankheit?«

»Eine Erkältung. Ist doch die Jahreszeit dafür. Und wer weiß, vielleicht habe ich ja eine? Vielleicht hole ich mir gerade eine, wo ich hier ohne Mantel draußen auf der Veranda stehe?«

Das Telefon klingelte, und Edith eilte hinein. Sie musste in der Küche abnehmen, bevor Judy an den neuen Nebenanschluss im ersten Stock gehen konnte, den wir auf ihren Nachttisch gestellt hatten, um es ihr so bequem wie möglich zu machen – auch wieder eine vorübergehende Maßnahme.

Wenn Edith es schaffte, vor Judy ans Telefon zu gehen und geduldig und still zu bleiben, dann konnte sie mithören, sobald sich Judy überzeugt hatte, dass ihre Mutter nicht mehr in der Leitung war, indem sie schrie: »Leg auf, Mom! Bist du da, Mom? Wenn du da bist, leg auf!«, so als müsste ihre Stimme direkt von oben herabschallen und würde nicht ohnehin verstärkt und übertragen.

Ich ging wieder hinein, schloss die Verandatür leise und vorsichtig hinter mir und zog meine Vorbereitungen so weit wie möglich in die Länge, zog gemächlich Schuhe und Mantel an, setzte den Hut auf und schaute noch einmal in die Küche, um mich von Edith zu verabschieden, die mich ignorierte.

Diese häusliche Szenerie nahm ich also mit hinaus in die Kälte: eine mitlauschende Frau, die an der Küchenzeile lehnte, den Hörer am Ohr, eine Hand über der Muschel, die andere ins Telefonkabel verwickelt, während das Verandafenster hinter ihr das letzte staubfangende Sonnenlicht in die Stille der Küche leitete.

In dieser Weihnachtszeit kam ich zu spät zu jeder Feier. Ich fuhr nicht, ich ging zu Fuß, und das sehr langsam, ich nahm einen möglichst langen Weg, und ich nahm mir in der Blooming Flour Bakery möglichst viel Zeit, eine Leckerei auszusuchen – gekaufte Weihnachtsscheite, die Ediths Krankheit glaubhaft erschienen ließen.

»Sie hat eine eklige Grippe«, sagte ich zu Dr. Hillard bei der Weihnachtsfeier der Fakultät.

»Dr. Morse hat gesagt, Sie hätten gesagt, es sei eine Erkältung. Jetzt ist es Grippe?«

»Sie ist nicht sicher.«

»Die Arme. Passen Sie lieber auf, dass daraus keine Lungenentzündung wird.«

Bei der großen Weihnachtsfeier für das ganze Kollegium sagte Dr. Morse: »Was für ein Jammer, dass sie noch nicht wieder auf ist. Die Bibliothek vermisst sie sicher. Und ich auch. Eine gesunde Edith hätte gebacken.«

»Und ich höre, Judy ist auch angeschlagen?«, fragte Mrs. Morse.

»Aber das war«, sagte Dr. Morse, »so eine Art Schlittenunfall, habe ich gehört?«

»Sie ist gestürzt und hat sich die Nase eingeschlagen, und während sie sich davon zu Hause erholte, hat sie sich wohl das gleiche eingefangen, worunter Edith leidet.«

»Das ist ja schrecklich«, sagte Mrs. Morse.

»Passen Sie auf, dass Sie es nicht auch noch kriegen«, sagte Dr. Morse. »Sonst wird es, bis es bei Ihnen landet, unheilbar sein.«

»Das ist ja grässlich«, und dann grinste Mrs. Morse. »Aber sollten Sie nicht langsam Ihr Weihnachtsmannkostüm anziehen?«

Dr. Morse legte seinen Tweed-Arm um seine Frau und zog sie eng an sich. »Rube wird dieses Jahr nicht den Weihnachtsmann für uns geben.«

»Nicht? Ach, das ist aber schade!«

»Ich glaube, Rube hat in diesem Jahre genug um die Ohren, meine Liebe.«

»Und wer wird dann Weihnachtsmann sein?«

»Ich fürchte, wir müssen in diesem Jahr ohne ihn auskommen.«

Mrs. Morse drehte sich zu mir und schaute mich mit einem lieblichen Ausdruck an, der mich vor dem Klan versteckt hätte, der meine ganze Familie versteckt und niemals ausgeliefert hätte, unter der einzigen Bedingung, dass ich alljährlich das Kostüm anzog und mit einem Sack voller Geschenke ihren Kamin hinabrutschte.

»Ich mochte es wirklich sehr, als Sie ihn gespielt haben, Dr. Blum, denn Sie hatten die richtige Einstellung. Manche Menschen haben einfach nicht die richtige Einstellung, aber Sie wissen, was die Menschen wollen, und Sie scheuen sich auch nicht, es ihnen zu geben … Das ist nicht unter Ihrer Würde …«

Ich wollte ihr schon danken, doch sie fuhr fort: »Und ich hatte gerade angenommen, Sie wären wieder unser Weihnachtsmann und würden die Tradition fortsetzen, weil Sie Ihren Bart wieder haben wachsen lassen … Ich bin so töricht … Jedenfalls bin ich froh, dass er wieder da ist. Vollbart steht Ihnen.«

Meine Hände fuhren zum Gesicht, doch eine von ihnen hielt eine Tasse Eierpunsch, der auf meine Krawatte schwappte. Ich entschuldigte mich, stellte die Tasse auf einen Wasserspender und verließ die kreppgeschmückte Sporthalle in Richtung der Waschbetonflure. Ich folgte den scharlachroten Corbin-Streifen, die an den Wänden entlangliefen. Ich rannte mit den Streifen an den Korkwänden um die Wette, deren angehefteten Ankündigungen wie Zungen schlabberten. Vor einem Schaukasten, vorn eine Glasscheibe, hinten ein Spiegel, gefüllt mit leuchtend goldenen und silbernen Trophäen, winzige vergötterte Männer mit Bällen, blieb ich stehen. Und schaute an ihnen vorbei zur Rückwand des Kastens, auf mein Spiegelbild. Ich sah mich selbst an, meine Erschöpfung, die ruinierte Krawatte, die unerwartete und verwirrende Behaarung. Edith hatte sie nicht erwähnt, und ich hatte wohl eine ganze Weile nicht mehr in ein Glas geglotzt. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann ich mich zuletzt rasiert hatte. Ich versuchte, die Haare wegzureiben wie angetrocknete Creme, doch sie waren hart und kratzig. Um meinen Mund lag ein Feld gefrorener Halme, schwarz und weiß wie Fernsehrauschen, grau wie Fernsehrauschen, und am Kinn eine etwas längere Strähne, die ich geistesabwesend um den Finger gewickelt hatte und auch jetzt wickelte, so wie Edith ihr Telefonkabel, und hinter den Trophäengötzen starrte ein ungepflegter Rabbi angewidert zurück.

Wieder zu Hause, mit Schnitten und Toilettenpapierfetzen am Hals, wagte ich den seltenen Schritt, mein Arbeitszimmer auszulassen und direkt zu meiner Frau ins Bett zu gehen, die bestimmt noch nicht schlief. Es war unmöglich zu schlafen, während das Sendeschlusssignal des Fernsehers aus dem Flur hereinsickerte und unser Schlafzimmer mit grellen Testbildfarben und geisterhaften Schraffuren überzog. Ich musste mich entweder daran gewöhnen oder aufstehen, in den Flur zu Judys türlosem Eingang gehen und den Stecker aus der sockellosen Steckdose ziehen.

»Lass es«, sagte Edith.

»Wir werden nicht schlafen können.«

»Wenn sie so schlafen kann, können wir es auch. Stör sie nicht.«

Ich legte mich wieder ins Bett und griff nach meiner Frau, doch sie drehte sich weg. »Du bist betrunken und riechst nach Rauch.«

»Tut mir leid.«

»Und du setzt deine Tochter zu sehr unter Druck. Immer sagst du, dass nichts gut genug ist. Ihre Essays, ihre Noten, ihre neuen Freunde.«

»Das tut mir leid. Ich weiß.«

»Und um es dir heimzuzahlen, hat Judy es an deinem Vater ausgelassen.«

»Ich weiß.« Und dann, einen Augenblick später: »Hat deine Mutter dir das erzählt? Ist das ihre küchenpsychologische Interpretation?«

»Hat sie. Ist es.«

»Und was hast du ihr darauf geantwortet?«

»Das ist nicht fair, Mom.«

An Silvester war der Fernseher plötzlich aus und das Haus voll mit Studiopublikum, das Edith und ich eingeladen hatten. Judys gesamter neuer Freundeskreis von den Plein Air Aficionados, die halbe Holzbläserbesetzung des Orchesters, ihre Bühnenpartner Tod Frew, Mary Busti und Joan Gerry, von denen ich ebenfalls geträumt hatte und die zu meiner Erleichterung unversehrt von den Folterungen bei uns auftauchten.

Sie wollten Judy abholen und zu irgendeinem Ball ausführen, und während sie darauf warteten, dass sie herunterkam, erkundigte der brave Tod Frew sich nach Ediths Befinden (»Ich bin froh, dass es Ihnen wieder besser geht, Mrs. Blum, mein Vater hat mir erzählt, dass Sie kürzlich krank waren.«) und nach der Gesundheit von Judys Großeltern (»Wenn ältere Menschen so die Treppe herunterfallen, kann man von Glück sagen, wenn sie dabei heil bleiben.«) und danach, ob Edith und ich für den Abend irgendetwas vorhätten (»Ihnen fällt hier doch bestimmt die Decke auf den Kopf, oder?«).

Dann schritt Judy vorsichtig die Stufen herab, strahlend in den hochhackigen Schuhen ihrer Mutter und dem blauschwarzen Etuikleid, das gerade rechtzeitig zu den Feiertagen eingetroffen war, als Ersatz gesandt von Ediths Eltern – ein Kleid für den Collegebesuch, das sie offensichtlich nicht dafür schonte –, und über all dem thronend und stolz in die Höhe gereckt eine unverbundene höckerlose Nase. Man sah immer noch einen ganz schwachen Bluterguss, und direkt von vorn auch eine leichte Schwellung, doch im Profil war sie makellos, und was da noch an gelblicher Verfärbung zu sehen war, welche blassen Flecken vom Verband noch Farbe bekommen mussten, das hatte sie mit dem halben Inhalt von Ediths Schminktisch mit Abdeckcreme und Rouge rosig geglättet, mit Wimperntusche, Kajal und karmesinrotem Lippenstift umrahmt und betont.

Tod Frew wandte sich an Edith. »Sie kommt nach Ihnen, Mrs. Blum.« Und dann an mich. »Sie kommt nach Ihrer Frau.«

»Habe ich gehört, Tod«, sagte ich und drückte Judys Hand.

»Nach meiner Mutter?«, sagte Judy. »Herrgott, das will ich nicht hoffen.«

Edith sackte zusammen.

Judy war grausam. Sie war von der cleveren Grausamkeit einer jungen Frau, die bekommen hat, was sie wollte. Und sie hatte es auf die fairste Art und Weise bekommen: durch Leiden.