Abspann & Gastauftritte

V ier Jahre nach dem gerade geschilderten Abend wurden Zeev Jabotinskys Gebeine aus einem Friedhof auf Long Island exhumiert und nach Israel überführt, wo sie neben dem Grab Theodor Herzls auf dem Jerusalemer Herzlberg erneut beigesetzt wurden. Prunk und Pracht der Zeremonie sollten verschleiern, dass es sich dabei eigentlich um eine Kränkung, eine posthume Verletzung handelte – da Ben-Gurion und die israelische Führung endlich erkannt hatten, dass man Zeev Jabotinskys Würde und Vermächtnis noch mehr beschädigen konnte als die Briten, die ihm eine Bestattung in seinem Herzensland verweigert hatten, indem der moderne Staat ihm ein zweites Begräbnis ausgerechnet neben der Ruhestatt seines ärgsten Rivalen und auf dessen Hügel zuwies.

Ebenfalls 1964 kehrte der 18-jährige Jonathan (Yonatan) Netanjahu nach Israel zurück und trat als Fallschirmjäger in die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte ein. Für seinen Einsatz im Sechstagekrieg und im Jom-Kippur-Krieg wurde er ausgezeichnet und zum Befehlshaber der als »Späher des Generalstabs« (hebräisch: Sajeret Matkal ) bekannten Terrorbekämpfungs- und nachrichtendienstlichen Elite-Aufklärungseinheit befördert, bei der auch die anderen beiden Netanjahu-Brüder später dienen sollten. Am 27. Juni 1976 nahm die Maschine von Flug 139 der Air France, die aus Paris nach Tel Aviv unterwegs war, bei einer Zwischenlandung in Athen zwei Mitglieder der Volksfront zur Befreiung Palästinas und zwei Mitglieder der westdeutschen Revolutionären Zellen an Bord. Bald nachdem das Flugzeug in Athen gestartet war, entführten es diese vier Terroristen und dirigierten es nach Libyen um, wo es in Bengasi aufgetankt werden sollte. Von dort aus musste das Flugzeug Kurs auf Entebbe nehmen, einen Ort in der Nähe der Hauptstadt von Uganda, ausgerechnet dem Land, das die Briten, als es noch Britisch-Ostafrika hieß, ironischerweise ursprünglich als neue Heimat für einen jüdischen Nationalstaat ins Spiel gebracht hatten. Auf dem Flughafen von Entebbe wurden die 241 Geiseln in die Passagierhalle des alten Terminals gezwängt. Dort wurden die Juden von den Nicht-Juden getrennt und Letzteren die Rückkehr nach Frankreich erlaubt, während Erstere zusammen mit der Besatzung des Flugzeugs gegen ein Lösegeld festgehalten wurden. Die Terroristen boten an, sie gegen 5 Millionen US Dollar und die Freilassung von 53 palästinensischen und pro-palästinensischen Gefangenen gehen zu lassen, die damals in israelischen Gefängnissen, aber auch in Westdeutschland, Kenia, der Schweiz und Frankreich inhaftiert waren; ein Kreis, zu dem etwa Mitglieder der Rote Armee Fraktion – vormals Baader-Meinhof-Gruppe – gehörten sowie Kōzō Okamoto, japanischer Staatsangehöriger, der 1972 am israelischen Flughafen Lod unter dem Banner der Palästinensischen Befreiungsorganisation 23 Menschen getötet hatte. Sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden, würden sie die Geiseln erschießen, lautete die Drohung der Terroristen. Während die israelische Regierung über ihre Reaktion beriet, erhielten die Terroristen in Entebbe auf Befehl von Ugandas Präsidenten Idi Amin Verstärkung durch ugandische Soldaten. Am 4. Juli 1976, während der amerikanischen Zweihundertjahrfeier, stürmten israelische Spezialkräfte den Flughafen von Entebbe und konnten durch ihren Überraschungscoup die Geiseln aus den Händen der Terroristen und Ugander befreien. Das einzige Todesopfer war Jonathan Netanjahu. »Yoni«, ein gut aussehender dreißigjähriger Lockenkopf, wurde durch zahllose Bücher und Fernsehfilme zu einem nationalen Märtyrerhelden und internationalen Symbol israelischen militärischen Wagemuts und damit ausschlaggebend für die Karrieren seiner Brüder und den politischen Mythos um seine Familie.

Benjamin (Binyamin) Netanjahu pendelte jahrzehntelang zwischen Israel und den Vereinigten Staaten, wo er jeweils (bei Sajeret Matkal) seinen Militärdienst ableistete, (an der MIT und in Harvard) studierte, (bei der Boston Consulting Group) in der Privatwirtschaft tätig und für kurze Zeit (von 1984 bis 1988) israelischer Botschafter bei den Vereinten Nationen war, bis er eine dauerhaftere Rückkehr in sein Heimatland verkündete und in die Likud-Partei eintrat, um ein höheres Amt anzustreben. Zu dieser Zeit schien seine politische Haltung lediglich aus Opposition gegen den damaligen Premierminister Jitzchak Rabin zu bestehen, dem er vorwarf, den Palästinensern territoriale Zugeständnisse zu machen, weil dieser im Rahmen der Osloer Abkommen (1993–1995) jüdische Siedler aus der West Bank abzog. Gegen Rabins Regierung, die sich angeblich »von der jüdischen Tradition und jüdischen Werten entfernt« habe, wetterte er als Redner vor Massenversammlungen, bei denen Rabin-Puppen in Naziuniform verbrannt wurden und einmal sogar zum Hohn eine Beerdigungsprozession für Rabin samt Sarg und Kaddisch betenden Sargträgern abgehalten wurde. Obwohl israelische Sicherheitsbeamte ihn darauf aufmerksam machten, dass Rabins Leben ernsthaft bedroht wurde, weigerte sich Netanjahu, seine Anhänger zur Zurückhaltung zu ermahnen. Am 4. November 1995 fiel Rabin einem Attentat durch Jigal Amir zum Opfer, einen orthodoxen Juden, der Netanjahus Versammlungen besucht hatte und sich auf rabbinischen Dispens für den Mord berief: Er habe lediglich ein jüdisches Leben genommen, um viele jüdische Leben zu retten, und aus seiner Sicht hatte die Religion diesen Mord nicht nur gebilligt, sondern sogar gefordert. 1996 gewann die Likud-Partei nach einer Serie palästinensischer Terroranschläge und wachsender Unsicherheit hinsichtlich des Schicksals der Siedler unter Rabins Nachfolger Schimon Peres eine Mehrheit, und Netanjahu wurde Premierminister, der jüngste, der je seinem Land gedient hatte, und der erste, der innerhalb seiner Grenzen geboren war. Nachdem er während der rund zehn Jahre andauernden und durch die blutige Zweite Intifada gekennzeichneten Regierungszeiten Baraks, Scharons und Olmerts Rückschläge erlitten hatte, kehrte Netanjahu 2009 in das Amt zurück, wurde 2013 und 2015 wiedergewählt und – obwohl er für Vergehen wie Bestechung und Betrug verurteilt worden war und nach einer Reihe von ergebnislosen Wahlen keine Parlamentsmehrheiten zustande gebracht hatte – sogar ein weiteres Mal 2019, womit er zum Staatsoberhaupt mit der längsten Amtszeit in der israelischen Geschichte wurde. Seine Anhänger nennen ihn Bibi, Melech Jisroel  – »Bibi, König von Israel«. Seine Herrschaft, gekennzeichnet von Mauerbau, Siedlungsbau und der Normalisierung der Besatzung und staatlicher Gewalt gegen die Palästinenser, verkörpert den letztendlichen Triumph der einst geschmähten revisionistischen Vision, die sein Vater vertreten hatte.

Ben-Zion Netanjahu, der nach einer Reihe von Assistenzstellen an über die ganzen Vereinigten Staaten verstreuten Hochschulen Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Cornell University wurde, ließ sich nach Jonathans Tod beurlauben und kehrte mit Zila nach Jerusalem zurück. Er verbrachte die anschließenden beiden Jahrzehnte mit der Arbeit an seinem 1384 Seiten starken Opus magnum The Origins of the Inquisition in Fifteenth Century Spain (»Der Ursprung der Inquisition im Spanien des 15. Jahrhunderts«), die er auf Englisch schrieb und mit einer Widmung im Gedenken an seinen erstgeborenen Sohn 1995 in den Vereinigten Staaten publizierte. Bis heute handelt es sich dabei um ein anerkanntes, wenn auch umstrittenes Werk. Zila starb 2000 im Alter von 88 Jahren, aber Ben-Zion konnte sich noch an der Amtszeit seines zweitgeborenen Sohns erfreuen, der seinen Vater mit großem Propagandaaufwand zum Begründer der amerikanisch-israelischen Beziehungen erhöhte – »der Mann, der die Bedeutung der jüdischen Wählerstimmen in die politische Landschaft Amerikas eingeführt hat«, wie es ein prominenter Historiker des amerikanischen Judentums ausdrückte, und obwohl diese Charakterisierung vollkommen abwegig war, wurde sie, als Ben-Zion 2012 im Alter von 102 Jahren starb, in einer ganzen Reihe von Nachrufen und sogar von amerikanischen Kongressabgeordneten nahezu wörtlich wiederholt.

Iddo Netanjahu – der drittgeborene Kümmerling, der Jude der Familie – ließ sich nach Abschluss seines Studiums und des Militärdienstes in Hornell, New York, nieder, einem beschaulichen ehemaligen Fabrik- und Eisenbahnstädtchen am westlichen Rand von Steuben County, wo er eine radiologische Praxis eröffnete und nebenbei zahlreiche familiengeschichtliche oder hagiografische Werke schrieb, die mir bei der Arbeit an diesem Buch als unschätzbar wertvolle Quellen dienten, besonders hinsichtlich dessen, wovon sie nicht erzählten. Seit er sich 2008 als Radiologe zur Ruhe gesetzt hat, verbringt Iddo seine Zeit abwechselnd in Hornell und Jerusalem und widmet sich dem Verfassen von Theaterstücken etwa zur Entstehung des Nationalsozialismus, den Theorien Viktor Frankls und der angespannten Beziehung Albert Einsteins zu Immanuel Velikovsky. Bis heute hat Iddo all meine Versuche abgewehrt, ihn – per E-Mail, telefonisch oder brieflich – zu kontaktieren, und immer wenn ich ihn zu Hause in Hornell besuchen wollte, muss er gerade in Jerusalem gewesen sein, und wenn ich dort bei ihm vorbeischauen wollte, in Hornell. Auf oder nach einer Party in Tel Aviv – es kann auch ein Rave gewesen sein – begegnete ich einem seiner Kinder, aber das begriff ich erst, nachdem ich schon wieder gegangen war. Ein angeheirateter Cousin von mir praktiziert als Rechtsanwalt in Rochester und hat Iddo einmal wegen eines Behandlungsfehlers verklagt. Auf einer Bar Mizwa unserer Familie beschrieb er ihn mir als »lieben netten Kerl« und »im Grunde harmlos« – »sei nicht gemein zu ihm, okay?«

Den renommierten amerikanischen Literaturkritiker Harold Bloom lernte ich erst gegen Ende seines Lebens kennen und besuchte ihn dann eine Weile lang öfter in seinem Haus in New Haven, Connecticut. Ich hatte nie bei ihm studiert und würde sicher nie sein Kollege werden, daher fiel ich als Romanautor, den er zuerst durch die Lektüre kennengelernt hatte und der fast fünfzig Jahre jünger war als er, unter seinen vielen Bewunderern ziemlich aus dem Rahmen. Meist schaute ich mir die Stapel von Neuerscheinungen auf seinem Esstisch an, während ich darauf wartete, dass Harold in seinem Rollstuhl hereingeschoben und am Kopf der Tafel platziert wurde, von wo aus er seine Befragung begann: Er wollte wissen, was in der Literatur- und Verlagsszene los war, er wollte wissen, woran ich schrieb und wann er es lesen konnte und was ich über Kafka, Proust oder D.H. Lawrence (»David Herbert Lawrence«) dachte, oder über Nathanael West (»Nathan Weinstein«); er wollte wissen, welche Bücher gerade erschienen waren und welche bald erscheinen würden, welche davon ich gelesen hatte und welche davon »genießbar« waren, welche Gerüchte und welchen Tratsch über die Autorinnen und Autoren dieser Bücher ich ihm liefern konnte. Ich tat mein Bestes, seine Neugier so schnell wie möglich zu befriedigen, um ihn – bevor er müde wurde – auf seine eigenen Meinungen und besonders auf seine Geschichten hinzulenken, in deren Genuss ich, je mehr wir uns anfreundeten und je mehr er mir vertraute, zunehmend kam. Harold war ja berühmt für sein Gedächtnis – trotz seines hohen Alters und seiner Gebrechlichkeit konnte er immer noch fehlerfrei Textstellen aus dem Gedächtnis zitieren –, aber mir waren seine Erinnerungen, seine nur manchmal fehlerfreie Vergegenwärtigung zurückliegender Ereignisse, seine Geschichten von Freunden, Feinden, Städten und Streitigkeiten besonders lieb. Für keinen, der sich mit Harolds Werk ernsthaft beschäftigt hat, ist es eine Frage, warum er unter den vielen Büchern, die er der Welt vermacht hat, niemals Erinnerungen geschrieben hat: Für Harold hingen das Leben und die Bücher, die er las, eng zusammen, und als jemand, der vor allem literarische Einflüsse und die Ängste, die sie auslösen, erforscht hatte, drohte der Versuch, sich mit den eigenen Vorgängern zu beschäftigen, buchstäblich zu einem Akt der Selbstzerstörung zu geraten. Dennoch war er sicherlich nicht ohne Eitelkeit, und so sprudelten, wenn ich ihn dazu bringen konnte, die Geschichten in seiner hohen, näselnden Stimme – wie sich der Junge aus der Bronx einen britischen Professorenakzent vorstellte – aus ihm heraus, zusammen mit Spucke, Wasserschlucken, Pillenkrümeln und Weißfischklümpchen, mit dem er Roggenbrot ebenso großzügig bestrich wie Schokoladenbabka. Er erzählte mir von seiner Kindheit am Grand Concourse und wie er zum ersten Mal die Gedichte von Moyshe-Leyb Halpern und Jacob Glatstein las: Der Fisch vom Markt wurde in Zeitungspapier eingewickelt (dem Forverts oder der Morgen Freiheit ), und beim Auswickeln hatte die Druckerschwärze manchmal abgefärbt, sodass auf der Seite des Fischs Abdrücke von Gedichtzeilen zu sehen waren, die er zu entziffern versuchte: Er versuchte also den Fisch zu lesen und den Autor zu raten, indem er auf nass schillernden Schuppen spiegelverkehrt imprimiertes Jiddisch buchstabierte. Er erzählte mir auch davon, wie er zum ersten Mal das Neue Testament auf Jiddisch las, nämlich in einer kostenlosen Ausgabe, die furchtlose Missionare ihm an der Tür aufgedrängt hatten (»Ich erinnere mich, dass Jesus darin Jeshua hieß, aber die Shluchim (Jünger) nannten ihn alle rebbe (Rabbi)«), und von seinen ersten Begegnungen mit den Romantikern (»Der Name, die Bezeichnung fasziniert mich bis heute.«). Er hatte auch Geschichten über die Schriftsteller aus seinem Bekanntenkreis auf Lager: Über Bernard Malamud, der Harold beim Pokern ausnahm, über Saul Bellow, der Allan Bloom Harold vorzog und fast zwanghaft Fliegen (zum Umbinden) stahl, und über Philip Roth, der auf den Protagonisten von Sabbaths Theater angeblich durch folgende Frage kam: »Was, wenn Harold nicht zur Freude seiner Eltern auf die Eliteuni, sondern im Greenwich Village der 1950er vor die Hunde gegangen wäre?« Das soll Roth selber zugegeben haben. Harold erzählte mir von einer Fledermausplage in einem Sommerhaus, das er sich mit John Hollander geteilt hatte, von einem Autounfall, in den er mit Paul de Man geraten war, vom Nacktbaden mit Jacques Derrida (»der war ziemlich fit«), vom Krocket mit Delmore Schwartz (»ziemlich verrückt, was zur Parodie einlud, aber nie zur Karikatur geriet«) und vom Zechen mit Dwight Macdonald (»ein aufrichtiger Trotzkist – wobei man sich einen unaufrichtigen Trotzkisten auch schlecht vorstellen kann –, der nie nüchtern war«). Es gab Anekdoten über T.S. Eliot (»dass er Milton abgelehnt hat, war unglücklich), Northrop Frye (»einer meiner wenigen Kollegen, die Eliot nicht für Christi Stellvertreter auf Erden hielten«), Susan Sontag, Camille Paglia, Toni Morrison und Cynthia Ozick. Außerdem Erörterungen des Antisemitismus an der Cornell, wo er studiert hatte, und in Yale, wo er der erste Jude war, der je eine ordentliche Professur im Fachbereich Englische Literatur erhielt. Was noch? Streitigkeiten mit Anthony Burgess über Limbus und Fegefeuer (»als abtrünniger Katholik kam Burgess in die Hölle, während ich immer noch hier bin und nirgendwohin komme«), Schach mit Nabokov (»es wunderte niemanden, dass ich nicht als Sieger hervorging«) und Gespräche mit Don DeLillo (»ich sprach, er nicht«), Cormac McCarthy (»er rief mich an, während er wie ein Cowboy in der Wanne dümpelte«), W.G. Sebald (»sanft, vielleicht zu sanft«) und Gershom Scholem, »der von sich, wenn ich ihn in seiner Wohnung an der Abarbanel-Straße in Jerusalem besuchte, immer in der dritten Person sprach, sodass ein typischer Satz von ihm etwa lautete: ›Soundso beurteilt das und das soundso, aber Scholem meint …‹, eine Angewohnheit, die er mit unserem derzeitigen Präsidenten gemeinsam hat, der gerne sagt: ›Niemand hat mehr für Israel getan als Donald Trump.‹ In der Literatur nennt man dieses Sprechen in der dritten Person über sich selbst Illeismus .« Über mein Singledasein: »Ich rate dir sehr, es dir noch einmal zu überlegen, lieber Joshua«; über das Singlesein im Allgemeinen: »Die Literatur zu dem Thema, lieber Joshua, empfiehlt es generell nicht«; über die Homosexualität des Judentums, über das Jüdische der Homosexualität, über die Intelligenz seiner ehemaligen Studierenden, die inzwischen beim New Yorker angestellt waren, und über die mangelnde Übereinstimmung dieser Intelligenz mit dem Mittelmaß des New Yorker , sowie über John Ashbery: »Ich werde diese Wut benutzen, um eine Brücke zu bauen wie die von / Avignon« , und über Hart Crane: »Wanderschaften, unabdingbar, leeren das Gedächtnis, / Erfindungen steinpflastern das Herz «. Was noch? Fehden über Identitätspolitik (die er »Ressentimentpolitik« nannte und über die er sagte: »Ich finde es seltsam, dass so viele unserer besten Schriftsteller ›Ressentiment‹ als etwas per se Negatives betrachten«), Relativismus, Dekonstruktion, Strukturalismus, Poststrukturalismus, Gnostizismus, die Kabbala sowie die Begebenheit, als man ihn bat, den Campusbesuch eines obskuren israelischen Historikers namens Ben-Zion Netanjahu zu koordinieren, der zum Vorstellungsgespräch mit seiner Frau und drei Kindern im Schlepptau aufkreuzte und einen Riesenschlamassel anrichtete. Von allen Geschichten Harolds blieb diese am meisten haften, vielleicht weil sie eine der letzten war, die er mir erzählte, und nach seinem Tod im Jahr 2019 schrieb ich sie auf und stellte dabei fest, dass ich mir eine Reihe von Details, die er weggelassen hatte, ausdenken musste, und aus Gründen, die ich gleich erklären werde, ein paar andere verändern musste. Es versteht sich ja von selbst, dass »Ruben Blum«, der prosaische Professor für amerikanische Wirtschaftsgeschichte, nicht als Porträt von Harold Bloom gedacht ist, dem alles andere als prosaischen Professor für Englische Literatur. Ebenso wenig ist »Edith« ein Porträt von Jeanne, Harolds ungeheuer kultivierter, gewitzter und geistreicher Frau, die die Schilderung ihres Mannes vom Besuch der Netanjahus bestätigte und mir freundlicherweise gestattete, sie zu verwenden, allerdings unter der Bedingung, dass ich mir zuerst die Genehmigung von »Judith« dafür einholte. Obwohl Harold und Jeanne nie eine Tochter hatten, gab es auf jeden Fall eine »Judy«, eine jüngere Verwandte, die in die Obhut der Blooms gegeben wurde, um sie aus der Bronx rauszubringen – und mehr werde ich über sie nicht sagen. Ich bin ihr nie persönlich begegnet – sie kam nicht zu Harolds Trauerfeier – und musste sie übers Internet aufspüren. Als ich ihr erklärte, was ich schreiben wollte, bat sie mich, sie auszulassen. Ich versprach ihr, mein Bestes zu tun, sie unkenntlich zu machen, und beim Umändern stellte ich fest, dass dies Änderungen am Charakter des fiktiven Bloom-Paars nach sich zog und die »Blums« bald ein Eigenleben entwickelten. Die Netanjahus hingegen blieben die Netanjahus. Während dieser Überarbeitungsphase fiel mir auf, dass »Judy« zwar nie auf meine Bestätigungsmail – dass ich ihrer Bitte, sie zu verfremden, entsprechen würde – geantwortet, mich dafür aber in ihren Mailverteiler »Holismus & Homöopathie« aufgenommen hatte. Mindestens zweimal im Monat und manchmal wöchentlich erhielt ich von ihr und erhalte immer noch »Denkzettel« über Meditations-Retreats, magnetische Heilverfahren, Therapien mit Halluzinogenen, Chelationsexperimente, russische Geheimdienstoperationen zur Manipulation der amerikanischen Wahlen und natürlich zur Vergiftung unserer Erde und dem bevorstehenden Untergang des Anthropozäns. Als ich die erste Fassung meines Manuskripts fertig hatte, machte ich den Fehler, auf eine dieser Mails zu antworten und die Datei anzuhängen, mit der Bitte an »Judy«, mir gerne ihre Korrekturen und Änderungsvorschläge mitzuteilen, falls sie welche hätte. Folgendermaßen schrieb sie mir zurück (und ihre Originalformatierungen sind hier beibehalten):

Lieber Joshua Cohen,

nachdem ich Ihr »Buch« gerade gelesen habe, werde ich ein für alle Mal sagen und sonst nichts hinzufügen: Judentum ist nur ein anderes Wort für PATRIARCHAT (und für PATRIARCHALE VORHERRSCHAFT ). Wir, die menschliche Rasse, sind alle ein Menschenvolk, und es gibt zwischen uns keine Unterschiede. Unser Planet ist am Arsch, die Maschinen übernehmen die Macht, und dieser ganze Mist vom Judentum interessiert keinen mehr. WACHEN SIE AUF !!!!!! Keiner liest mehr Bücher, und die Juden sind historisch entweder auf der falschen Seite oder schlicht irrelevant. WENN SIE EINE IDENTITÄTSKRISE HABEN , tut es mir leid, aber Sie haben nur die Wahl, Ihr Bewusstsein zu erweitern und sich dem Menschenvolk in seiner gemeinsamen Anstrengung gegen Umweltverschmutzung und Technikwahn anzuschließen oder den Rest Ihres Lebens einer Vergangenheit nachzutrauern, die ja – ganz ehrlich – nicht so toll gewesen sein kann, wenn das dabei herausgekommen ist. Alles woran Sie glauben, hat nie existiert, auch Ihr eigenes Ego nicht, falls Sie dachten, Sie könnten es verändern. Geben Sie es zu, sogar Lesen und Schreiben stirbt aus – und wenn Ihr letzter alter Jude endlich so tot ist wie (((Gott))), dann wird diese stolze non-binäre Lesbe, JA, LESBE, NACKT WIE DER TEUFEL AUF SEINEM GRAB TANZEN .

J.C.

New York City, 2020