Marrakesch – Herausforderungen annehmen

Gerade habe ich mich einer neuen Herausforderung angenommen: Ein wunderschönes schwarzes Pferd namens Marrakesch, acht Jahre alt, ist in meine Stallgasse in Aubenhausen eingezogen.

Was genau in seiner frühen »Kindheit« passiert ist, weiß ich nicht. Es muss aber ein Ereignis gegeben haben, das ihm jegliches Vertrauen geraubt hat. Marrakesch lässt sich nicht scheren, nicht vom Tierarzt behandeln, man kann ihm kein Blut abnehmen und ihn nicht auf normale Weise impfen. Er reagiert in all diesen Situationen panisch und völlig kopflos. Wenn er in einen solchen Angstzustand fällt, versucht er, alles um sich herum anzugreifen oder wegzustürmen. Kurzum, eine Begegnung mit dem Tierarzt kann extrem gefährlich werden.

Inzwischen haben wir festgestellt, dass er immer dann panisch wird, wenn ihn ein Tierarzt anfassen möchte, vor allem, wenn er das Gefühl hat, jemand könnte ihn spritzen wollen. Damit muss er wohl eine sehr schmerzhafte Erfahrung gemacht haben. Der Umgang mit vertrauten Menschen fällt ihm mittlerweile sehr viel leichter, er ist richtig verschmust geworden. Aber auch wir könnten ihn nicht so ohne Weiteres impfen oder den Zahnarzt kommen lassen.

Bevor er zu mir kam, hat Marrakesch ein halbes Jahr bei Warwick McLean in Norddeutschland gelebt. Warwick hat sich unter anderem darauf spezialisiert, mit Pferden Gelassenheit zu trainieren, und er hat schon viel erreicht, sodass wir (mein Team und ich) jetzt mit Marrakesch weiterarbeiten können.

 

Nicht nur im Stall, auch beim Reiten ist Marrakesch eine echte Herausforderung für mich. Obwohl er sich unglaublich schwungvoll und geschmeidig bewegen kann und drei herausragende Grundgangarten hat, ist er ein bisschen verrückt (aber niemals gefährlich) und hat oft noch wenig Gefühl für sich und seinen Körper. Unsere Fütterungsexpertin Frau Dr. Dorothe Meyer meinte einmal zu mir, dass Ähnliches oft nach der Kastration passiert und Wallache dann erst einmal ein schlechteres Körpergefühl haben – vor allem die Verbindung zur Hinterhand leidet häufig darunter. Sie rät: Viel rückwärtsgehen lassen, am besten auch über Schrittstangen. Gesagt, getan, ich habe es auf jeden Fall mal in mein Training mit eingebaut, und ich habe auch das Gefühl, dass es schon ein bisschen hilft.

Im Grunde seines Herzens ist Marrakesch – genau wie alle anderen Pferde – ausgesprochen liebevoll, freundlich und verschmust. Tatsächlich ist er in den wenigen Monaten, die ich mit ihm arbeite, aufgeschlossener geworden. Selbst zu Fremden ist er freundlich und auch zu Späßen aufgelegt.

Aber die psychische Verletzung sitzt bei ihm sehr tief. Ich möchte ihm so gerne helfen … Am liebsten würde ich ihm einfach erklären, dass er die Vergangenheit loslassen und sich ganz neu auf mich und mein Team einlassen darf. Aber so einfach ist es leider nicht, auch wenn ich in so einem Fall gerne zur Telepathie greife. Zunächst einmal habe ich mir vorgenommen, seiner Seele so viel Gutes zu tun, wie mir möglich ist. Auch meine Mutter versucht, ihm mit Energiearbeit zu helfen.

Ein Anreiz für meine Beharrlichkeit ist sein Potenzial: Marrakesch hat drei herausragende Grundgangarten, er ist wunderschön, und ich kann mir vorstellen, wenn ich ihn voll auf meiner Seite habe und das Psychothema Tierarzt einigermaßen händelbar wird, dass er ein echter »Edelstein« ist!

Jeder, ob Mensch oder Tier, hat es verdient, dass wir ihm helfen, sein Potenzial zu entfalten.

Ich könnte auch sagen: Mir bleibt im Grunde genommen gar nichts anderes übrig, als es zu versuchen. In der Verfassung, in der ich die Zusammenarbeit mit ihm gestartet habe, wäre er unverkäuflich oder zumindest äußerst schwer verkäuflich gewesen. Aber das spielt jetzt keine Rolle für mich. Viel wichtiger ist mir: Ich finde, er hat eine Chance verdient. Jeder, ob Mensch oder Tier, hat es verdient, dass wir ihm helfen, sein Potenzial zu entfalten.

 

Und so arbeite ich mit Marrakesch weiter, gelassen, geduldig und freundlich. Ich ignoriere seine kleinen Ausbrüche und lasse mich von ihm immer wieder daran erinnern, dass ich meinem Pferd nur dann Ruhe vermitteln kann, wenn ich selbst ruhig bin. Gut, dass meine Geduld im Umgang mit Pferden so groß ist.

Jeden Gedanken an Zeit versuche ich auszublenden. Zeitdruck wäre jetzt vollkommen falsch, selbst wenn ich ihn nur unterschwellig in Gedanken empfinden würde. An manchen Tagen denke ich, jetzt werden wir es schaffen. Und an anderen Tagen denke ich, wir schaffen es nie, wir scheitern zusammen.

Dabei weiß ich doch: Es wird so lange dauern, wie es eben dauert. Ich weiß nicht, ob Wochen, Monate oder Jahre nötig sein werden, bis er wieder Vertrauen fasst. Ich weiß auch nicht, ob er jemals wieder an diesen Punkt kommen wird, ich kenne ja die Ursache seiner Angst nicht. Trotzdem glaube ich fest daran, dass es irgendwann so weit sein wird. Irgendwann.

Ich habe alle Ziele in Bezug auf Marrakesch losgelassen. Ich mache ihm keinen Stress, ich mache mir keinen Stress. Letztlich wird genau das geschehen, was geschehen soll, daran glaube ich fest. Und es wird seinen Sinn haben, für mich und für dieses so schöne und innerlich so verletzte schwarze Pferd.

Wie lange es dauern wird, bis er sich ganz auf uns einlässt, und ob ich es wirklich schaffe, dass er stolz wird und sich und seinen Körper wieder richtig spürt, weiß ich nicht. Ob ich jemals mit ihm im großen Viereck tanzen werde, kann ich heute nicht sagen. Jetzt, in diesem Moment, ist es mir wichtig, dass ich ihm helfe, sich wahrzunehmen und auch beim Reiten stolz und selbstbewusst zu werden. Und dafür gebe ich mein Bestes.

Marrakesch erinnert mich aber auch täglich daran, wie wichtig es für uns alle ist, die Vergangenheit hinter uns zu lassen. Das gelingt uns Menschen mit der Kraft unseres Bewusstseins besser als den Pferden. Den Tieren müssen wir dabei helfen.

 

Die entscheidende Frage für mich ist: Wie gehe ich heute mit Verletzungen um, die mir in der Vergangenheit widerfahren sind? Bleibe ich in der Opferrolle stecken und bemitleide mich selbst, dass mir dies oder das passiert ist oder jemand mich schlecht behandelt hat? Nutze ich die Möglichkeit, in jedem Moment neu zu wählen, wer ich sein möchte und wie ich mit meiner Vergangenheit umgehe? Gerade die größten Schwierigkeiten sind es doch, die uns weiterbringen. Wir lernen am meisten, wenn es einmal nicht so gut läuft. Natürlich begreifen wir das erst im Nachhinein, denn in der Situation eines »unschönen Erlebnisses« sind wir zu sehr im Schmerz gefangen und haben den Kopf nicht frei für große Reflexionen.

Deshalb stelle ich mir – mit einigem zeitlichen Abstand –, wenn etwas nicht geklappt hat oder es auch mal eine Serie von Missgeschicken gab, die Frage: Warum? Hat es eine tiefere Bedeutung? Was kann ich daraus lernen? Auch wenn ich im ersten Moment den Sinn hinter einem negativen Erlebnis nicht erkennen kann, stelle ich rückblickend oft fest, dass es gerade die schwierigen oder bitteren Ereignisse waren, die mich weiter zu mir selbst gebracht haben und die mir geholfen haben, der Mensch zu sein, der ich heute bin.

Auch wenn ich im ersten Moment den Sinn hinter einem negativen Erlebnis nicht erkennen kann, stelle ich rückblickend oft fest, dass es gerade die schwierigen oder bitteren Ereignisse waren, die mich weiter zu mir selbst gebracht haben.

Ich kann mich jeden Tag dafür entscheiden, glücklich zu sein, und den ersten Schritt tun, um die Zügel selbst in die Hand zu nehmen. Ich bin nicht das Opfer der äußeren Umstände, sondern ich bin der Schöpfer meines Lebens. Natürlich gibt es Menschen, die einen leichteren Start ins Leben haben als andere. Und trotzdem haben so viele Menschen, die in widrigsten Umständen geboren wurden, gezeigt, wie großartig sie sind und dass ALLES möglich ist. Sie sind der Beweis dafür, dass jeder von uns sein Leben selbst gestaltet. Und ich bin fest davon überzeugt, dass mir dabei vor allem die Erkenntnis hilft: Aus schwierigen Situationen lerne ich am meisten.