Kapitel 9

Mit einem Löffel und einem Glas Erdnussbutter in der Hand, das ich in der Speisekammer gefunden hatte, ging ich im Wohnzimmer auf und ab.

Einmal mehr hatte mich eine rastlose Energie heimgesucht, die mich keinen Augenblick stillsitzen ließ. Ich hatte es bereits versucht, nachdem ich im Bücherregal eine alte Ausgabe von Ein Tanz mit Drachen gefunden hatte, aber ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Vielleicht weil es hier so still war? Das war sicher ein Grund für meine Konzentrationsprobleme, ein anderer aber war die Warnung, die Cekiah mir mit auf den Weg gegeben hatte, ehe sie gegangen war, auch wenn ich sie nachvollziehen konnte. Außerdem war Luc noch immer nicht zurückgekehrt. Vielleicht machte Daemon Probleme und war nicht bereit zu schweigen wie Cekiah, sodass Luc noch dabei war, ihn zu überzeugen.

Ich hoffte, sie versuchten nicht, sich gegenseitig umzubringen.

All das erklärte wahrscheinlich, warum ich mich wie ein Duracell-Häschen auf Speed fühlte, gleichzeitig war ich so hungrig, als hätte ich tagelang nichts gegessen, dabei hatte ich mich doch erst vor wenigen Stunden ordentlich vollgefuttert.

Zum x-ten Mal blickte ich in Richtung Tür, als könnte ich Luc herbeibeschwören, was traurig war, aber ich langweilte mich und konnte nicht stillsitzen und hatte bereits das halbe Glas Erdnussbutter aufgegessen und war …

Einsam.

Die einzige Person, die ich hier kannte, war Zoe – Grayson zählte nicht –, und die war zu Cekiah gegangen, wie besprochen. Ich vermisste Heidi und James. Wie James wohl zu Hause ohne uns alle zurechtkam? Was würde mit ihm geschehen, wenn Daedalus das Grippevirus tatsächlich massiv verbreitete? Ich hatte keine Ahnung, ob er geimpft war, und es gab keine Möglichkeit, ihn zu warnen.

Grübelnd schob ich mir einen weiteren Löffel herrlich cremiger Erdnussbutter in den Mund.

Moment mal. Wie alt war das Zeug eigentlich?

Sie schmeckte normal, aber wenn die früheren Besitzer sie eingekauft hatten … Ich konnte mir nicht vorstellen, dass so etwas vier Jahre lang hielt. Vielleicht hatte sie jemand für uns besorgt.

Stirnrunzelnd hob ich das Glas und stellte fest, dass das gestempelte Datum hinter dem »Mindestens haltbar bis« mehr als ein Jahr zurücklag.

Ich blickte von dem Glas zu dem halb vollen Löffel und schob ihn mir schulterzuckend wieder in den Mund.

Nach dem nächsten Löffel überlegte ich, dass ich vielleicht etwas für Luc übrig lassen sollte. Ich zwang mich, das Glas wegzustellen, und wollte gerade die verschlossenen weiteren Zimmer begutachten, als ich wieder das seltsame Prickeln im Nacken zwischen den Schulterblättern spürte. Argwöhnisch drehte ich mich zur Eingangstür. Im nächsten Augenblick klopfte jemand an die Tür.

Zoe wäre einfach hereinmarschiert und auch Luc hätte nicht geklopft, deshalb stürmte ich neugierig zur Tür und riss sie auf.

Davor stand Dee Black, das lange schwarze Haar zu einem Knoten zusammengebunden, der fast Zoes wildem Look Konkurrenz machte.

Ihre Jeans war an mehreren Stellen fleckig.

Mit ihren smaragdgrünen Augen folgte sie meinem Blick und lachte. »Ich sehe schlimm aus, ich weiß. Ich habe versucht, Schokolade mit den Händen zu schmelzen.« Sie wackelte mit den Fingern. »Mikrowellenhände dank extraterrestrischer Großartigkeit.«

Ich blinzelte verständnislos. »Du kannst damit kochen … mit der Quelle Essen zubereiten?«

»Na ja, fast jeder außer mir kann das. Jedes Mal, wenn ich etwas anderes als gekochte Eier versuche, geht es krachend schief, wie man daran sieht, dass ich voller Schokolode bin. Ich habe sie zu schnell erhitzt und dann hats gespritzt«, erklärte sie. »Aber lass dir bloß nicht von Luc oder sonst wem einreden, dass mit der Quelle gegartes Fleisch schmeckt.«

»Tut es das denn nicht?«, hörte ich mich sagen, während ich versuchte, sie nicht anzuglotzen, was mir leider nicht gelang.

»Igitt, nein, absolut nicht. Die elektrisch aufgeladene Luft schmeckt man total durch, was vielleicht nicht so dramatisch klingt, aber glaub mir, das ist es. So viel würzen kann man gar nicht, dass es den Geschmack von verbranntem Ozon überdecken würde.«

»Aha.« Ich merkte, dass ich nickte.

»Ist ja auch egal.« Sie lächelte mich strahlend an. »Ich soll dich abholen. Kat will mit dir sprechen.«

»Oh, echt?«

Dee nickte. »Ja. Und sie ist superschwanger, wie du ja weißt, und einer so schwangeren Frau schlägt man nichts ab.«

Vollkommen hingerissen von Dee marschierte ich einige Minuten später hinter ihr in Daemons und Kats Haus, ohne mich an den kurzen Weg dorthin zu erinnern oder daran, dass ich überhaupt zugestimmt hatte. Dass mich Dee so sehr in ihren Bann zog, lag an dem, was sich hinter ihrem freundlichen Lächeln und ihrer flapsigen Art verbarg. Sie war unglaublich intelligent und schlagfertig, weshalb sie regelmäßig am Abend von einem sicheren Ort außerhalb von Zone 3 aus mit engstirnigen Idioten wie Senator Freeman im Fernsehen diskutierte, ohne die Fassung zu verlieren. Es war sehr mutig von ihr, sich zum öffentlichen Gesicht der Lux zu machen. In den Vereinigten Staaten von Amerika gab es wahrscheinlich niemanden, der sie nicht erkannte. Ich war mir sicher, dass sie viele Fans hatte.

Ich war mir aber genauso sicher, dass sie viele Feinde hatte.

Zoe hatte recht. Ich stand auf Dee.

Sie führte mich durch ein Wohnzimmer, in dem es keine gruseligen Engelsbilder gab, dafür sah es aus wie in einer Buchhandlung. Überall stapelten sich Bücher – auf einem niedrigen Tisch, auf dem wahrscheinlich der Fernseher gestanden hatte, türmten sie sich genauso wie links und rechts der Couch und um den grauen Sessel herum. An den Wänden stand ein Bücherregal neben dem anderen, hohe und weiße, niedrige und braune, und sie alle bogen sich vor Büchern.

Noch nie hatte ich so viele Bücher in einem Raum gesehen.

»Kat ist eine leidenschaftliche Leserin«, sagte Dee, als sie merkte, wie ich mich staunend umsah. »Niemand darf ihre Bücher ohne ihre Genehmigung berühren. Wenn sie dir eins ausleiht, ist das ein Zeichen, dass sie dich mag, aber man gibt es ihr besser in tadellosem Zustand zurück.«

Da ich immer sofort Eselsohren in die Seiten machte, bemühte ich mich, meine Finger bei mir zu behalten, als wir auf ein Zimmer am Ende eines schmalen Flurs zugingen.

Die Vorhänge waren zurückgezogen und die Sonne schien durch die offenen Fenster. Der Wind sorgte für eine angenehme Kühle und verlieh dem Raum eine luftige Atmosphäre.

Als Erstes fiel mir das ganze Zeug auf. Hier sah es aus wie in der Babyabteilung eines Kaufhauses. In einer Ecke stand ein bereits zusammengebauter Hochstuhl und daneben eine dieser Wippen, in denen die Kleinen aussahen wie große Spinnen. Außerdem gab es ein Reisebett und einen Wickeltisch, auf dem drei unterschiedliche Windelpackungen lagen. Ich wusste nicht einmal, dass es so viele verschiedene Windelmarken gab. Auf einem kleinen Tischchen erblickte ich einen Korb voller Fläschchen und Schnuller. Schließlich gab es noch zwei Buggys, der eine noch im Karton.

Aus Richtung des großen Betts drang ein leises Lachen herüber. Ich entdeckte Kat mitten in einem Berg von Kissen. Das dunkelbraune Haar hatte sie auf dem Kopf zu einem lockeren Knoten zusammengebunden. Ihr hübsches Gesicht war gerötet, als wenn sie in der Sonne gewesen wäre, doch angesichts der Größe ihres Bauchs, der seit dem letzten Mal, als ich sie gesehen hatte, noch gewachsen zu sein schien, bezweifelte ich, dass sie draußen gewesen war. Neben ihr lag ein Buch ohne Umschlag, aus dessen Mitte ein Lesezeichen hervorragte. Auf dem Fußboden stand verloren ein Korb mit hellblauer Wolle und etwas, das aussah wie ein Stück Schal? Oder der Anfang eines Pullis? Jedenfalls hoffte ich, dass es nie jemand tragen würde.

»Daemon war ein bisschen übereifrig, was die Vorbereitungen für das Baby angeht«, sagte sie. »Bei den Vorbereitungen für den Weltuntergang ist er zum Glück nicht so.«

»Obwohl das eigentlich ziemlich hilfreich wäre.« Dee ließ sich neben Kat aufs Bett fallen und kreuzte die langen Beine. »Das hieße allerdings, dass Daemon wirklich mal etwas Nützliches machen würde.«

Kat schnaubte verächtlich. »Zumindest brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, dass uns die Windeln ausgehen.« Sie senkte den Blick und tätschelte die riesige Kugel. »Falls sich der kleine Wurm endlich mal entschließt, rauszukommen.«

»Er kommt eindeutig nach Daemon«, kommentierte Dee und sagte dann mit Blick auf Kats Bauch: »Stimmts, kleiner Mann?«

»Woher wisst ihr, dass es ein Junge ist?« Ich war an der Tür stehen geblieben und spielte – unschlüssig, was ich jetzt tun sollte – mit meinen Fingern.

»Hundertprozentig wissen wir es nicht, aber Ashley sagt immer ›er‹ zu dem Baby, und du hast Ashley ja kennengelernt. Manchmal weiß sie mehr als wir«, antwortete Kat.

»Ja, das ist wohl so.« Ich schaute mich abermals in dem Raum um, und mein Blick blieb an mehreren Paar Gartenhandschuhen hängen, die auf einer Anrichte aus Eichenfurnier lagen. Sie waren fabrikneu, die Preisschilder hingen noch daran, aber … ich blickte zu Kat. »Ist der Garten nebenan etwa dein Werk?«

Ihre Augen begannen zu leuchten. »Angelegt haben ihn die vorherigen Besitzer, damit habe ich nichts zu tun, ich habe ihn nur gepflegt. So lange, wie ich dazu noch in der Lage war, zumindest. Hoffentlich habe ich demnächst noch Zeit, wieder rüberzukommen und mich darum zu kümmern, wenn ihr nichts dagegen habt.«

»Ach du meine Güte, natürlich jederzeit gern, wenn du kannst. Ich selbst habe nämlich das Gegenteil von einem grünen Daumen, eher einen schwarzen Todesdaumen. Der Garten wird deine Hilfe brauchen.«

»Vielleicht kann ich dir ein paar Tricks zeigen, um deinen schwarzen Daumen in einen saftig grünen zu verwandeln.« Kat lächelte mich erschöpft an. »Komm.« Sie deutete auf die Stelle neben Dee. »Setz dich. Wir dachten, da Luc mit den Jungs zusammen ist, könnten wir auch ein bisschen Zeit miteinander verbringen.«

Nervös, weil ich unbedingt einen guten Eindruck machen wollte, begab ich mich zu ihrem Bett und setzte mich vor Dee ans Fußende. »Ich wusste gar nicht, dass Archer auch bei ihnen mit dabei ist.«

»Ich weiß auch nicht so genau, ob die beiden anderen es wussten, bis Archer sich selbst eingeladen hat«, erwiderte Dee trocken.

Kat lachte. »Aber um ehrlich zu sein, gibt es noch einen anderen Grund, warum ich dich rübergebeten habe. Ich habe nämlich eine Million Fragen an dich.«

Da ich mir denken konnte, was sie wissen wollte, beschloss ich, es geradewegs anzusprechen. »Daemon hat euch erzählt, was ich mit ihm im Wald gemacht habe.«

»Das hat er.« Eindringlich sah sie mich aus ihren grauen Augen an – aus Augen, die Dinge gesehen hatten, die andere nicht überlebt hätten. »Und ich bin froh, dass mit ihm alles in Ordnung ist. Wenn nicht, müsste ich nämlich alles daransetzen, dich umgehend auszuschalten, Schwangerschaft hin oder her.«

Die Warnung war nicht misszuverstehen, dennoch versuchte ich sie wegzustecken, so schwer es mir auch fiel, und nickte. »Das ist nur allzu verständlich.« Meine Wangen begannen zu glühen. »Was ich getan habe, tut mir aufrichtig leid. Ich erwarte nicht, dass Daemon oder du es akzeptiert. Ich hoffe nur, ihr nehmt mir ab, dass es mir unendlich leidtut.«

»Aber deine Entschuldigung ist doch längst angenommen«, sagte Kat zu meiner Überraschung. »Wenn ich es richtig verstehe, hattest du keine Kontrolle über das, was passiert ist, und das weiß auch Daemon.«

Vielleicht wusste er es, aber ich bezweifelte, dass er so nachsichtig sein würde wie Kat. »In gewisser Hinsicht würde ich mir wünschen, du würdest meine Entschuldigung nicht annehmen. Ich weiß, das klingt seltsam, aber …« Ich beendete den Satz nicht, weil ich nicht wusste, wie ich es erklären sollte.

»Aber du hast das Gefühl, du solltest bestraft werden, stimmts? Glaub mir. Wir alle haben Dinge getan, die schlecht für andere endeten, ob nun unabsichtlich oder nicht.« Kat sah zu Dee, die zustimmend nickte. »Ich zum Beispiel habe mich einer Sache schuldig gemacht, die zum Tod einer guten Freundin von Dee geführt hat. Aber es war keine Absicht. Vielmehr habe ich geglaubt, das Richtige zu tun. Dee hat mir verziehen, aber es gibt nach wie vor Tage, an denen ich denke, sie hätte es nicht tun sollen.«

»Aber ich wollte es so.« Dee lehnte sich an Kats Schulter. »Irgendwann«, schob sie hinterher. »Und Daemon tut es ganz gut, ab und zu mal einen Dämpfer zu kriegen.«

Ich blinzelte ungläubig.

Kat lachte leise. »Das stimmt. Normalerweise ist das Lucs Aufgabe.«

»Sie scheinen sich oft gegenseitig zu … bedrohen«, stellte ich fest.

»Das ist ihr Verständnis von Männerfreundschaft.« Dee verdrehte die Augen. »Wenn dann noch Archer dabei ist, wird es ein richtiger Wettbewerb, wer dem anderen am besten drohen kann.«

»Was ist mit Dawson?«

»Dawson ist der einzig Normale unter ihnen«, antwortete Dee und Kat nickte. »Wenn er jemanden angeht, ist es wirklich ernst.«

»Gut zu wissen«, murmelte ich und dachte darüber nach, dass Dawson und Daemon, obwohl sie sich äußerlich so ähnlich waren, innerlich unterschiedlicher nicht hätten sein können.

»Ich glaube, das Baby tritt gerade mit dem Fuß gegen ein lebenswichtiges Organ von mir.« Kat stützte sich mit den Händen auf der Matratze ab und verlagerte ihr Gewicht. Nachdem sie eine bequemere Position gefunden hatte, holte sie tief Luft. »Ich weiß nicht, ob Luc es dir gegenüber mal erwähnt hat, aber als ich mutiert wurde, hatte auch ich keine Ahnung, was mit mir geschah. Ich war komplett von der Rolle. Einmal hatte ich Lust auf ein Glas Eistee und schon öffnete sich die Kanne im Kühlschrank, goss fröhlich los und verteilte das Zeug überall, nur weil ich darüber nachgedacht hatte.«

»Echt jetzt?«

Sie legte die Hände auf ihren Bauch und nickte. »Türen gingen auf, ehe ich sie berührt hatte. Kleidung flog vom Bügel. Es gab Momente, in denen ich geglaubt habe, in meinem Haus würde es spuken.«

Dee lachte.

»Da die Lux Menschen nicht mal eben so mutieren und es auch nicht häufig vorkommt, bin ich zuerst gar nicht auf die Idee gekommen, aber als ich Daemon schließlich davon erzählt habe, wusste er sofort, was los war.« Sie hielt inne. »Ich glaube, er war am Anfang genauso schockiert wie ich.«

»Wie ist es dazu gekommen?«, fragte ich und hoffte, dass ich nicht allzu neugierig wirkte.

»Um es kurz zu machen, Daemon hat mich einmal zu oft geheilt.«

»Das ist allerdings nicht ganz die korrekte Kurzversion. Ja, Daemon hat sie mehrfach geheilt, aber bewirkt hat es, dass Kat superstark drauf war und uns das Leben gerettet hat«, schaltete sich Dee ein. »Vor der Invasion und all dem Mist waren nämlich die Arum die größte Bedrohung.«

»Wahnsinn, wie sich die Dinge verändert haben«, murmelte Kat.

»Daemon hat diesen einen Arum ausgeschaltet und seitdem hat dessen Bruder es auf Daemon und mich abgesehen. Du musst wissen, Kat und Daemon waren zu dem Zeitpunkt Erzfeinde, und er sagte irgendeinen typischen Daemon-Mist zu ihr, worauf sie sich freiwillig als menschliche Ablenkung anbot, was Daemon gar nicht gefiel –«

»Daemon und ich haben uns anfangs wirklich nicht gut verstanden«, warf Kat grinsend ein. »Ich habe ihn zu der Zeit sogar regelrecht gehasst. Na ja, heiß fand ich ihn schon immer, aber nicht so heiß, dass ich vergessen konnte, was für ein Mistkerl er war.«

»Jedenfalls hat sie sich am Ende sozusagen für Daemon und mich geopfert. Dabei ist sie fast gestorben«, ergänzte Dee.

»Ich wäre gestorben, wenn Daemon mich nicht geheilt hätte, und die Heilung war so massiv, dass es mich auf zellulärer Ebene verändert hat.« Der Knoten auf Kats Kopf rutschte zur Seite. »Der Rest der Geschichte ist lang und kompliziert und um ehrlich zu sein, würde es mich nur aufregen und frustrieren.«

»Du musst mir nicht mehr erzählen«, beeilte ich mich, ihr zu versichern.

Kat sah mich aus ihren grauen Augen an und wir schwiegen beide. »Wir sind uns schon ein oder zwei Mal begegnet.«

Stockend holte ich Luft. »Daemon hat es erwähnt. Er meinte, du hättest mich im Club gesehen, als du Luc zum ersten Mal getroffen hast.«

Sie nickte. »Und später, während der Invasion, habe ich dich auch noch mal gesehen. Luc hatte dich nach Malmstrom gebracht, diesem Militärflughafen in Montana. Dort waren wir damals alle, inklusive Eaton. Aber Luc hat versucht, dich vor uns versteckt zu halten.«

»Warum?«, fragte ich stirnrunzelnd.

Dee lachte trocken auf. »Kennst du Luc?«

»Dir ist sicher schon aufgefallen, dass er dir gegenüber manchmal einen besonderen Beschützerinstinkt empfindet«, sagte Kat, und nun musste auch ich lachen.

»Nicht nur manchmal«, sagte ich und rieb mir mit den Händen über die Knie. »Haben wir dort miteinander geredet?«

Sie schüttelte den Kopf. »Du hast dich damals die meiste Zeit … ausgeruht.«

Ich verstand, was das bedeutete: Ich war offensichtlich schon sehr krank gewesen.

»Als sich nach der Invasion alles etwas beruhigt hatte, kam Luc uns in Colorado besuchen, wo wir zu der Zeit lebten, und da du nicht dabei warst, glaubten wir …«

»Ich wäre tot«, beendete ich den Satz für sie. Als Kat verlegen nickte, grinste ich. »Ich glaube, in gewisser Hinsicht war ich das auch. Abgesehen von einigen nicht besonders aussagekräftigen Erinnerungsfetzen weiß ich nichts mehr über meine Zeit als Nadia.«

Kat sah mich an. »Das ist wahrscheinlich auch gut so.«

»Ja, das Gefühl habe ich auch langsam.« Ich blickte auf meine Hände, die noch immer auf meinen Oberschenkeln lagen. »Ich will zwar wissen, wer ich war, aber ich glaube, es ist ein Fluch und ein –« Ich verstummte, weil sich auf meinem Handrücken schillernde schwarze Flecken bildeten.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Dee.

Mein Herz setzte einen Schlag aus, doch dann blinzelte ich und meine Hand sah wieder normal aus. Was um Himmels willen war das? Ich blickte zu den beiden anderen und anschließend noch einmal auf meine Hand. Alles normal. Hatte ich wirklich gesehen, was ich glaubte gesehen zu haben? Oder war es eine optische Täuschung gewesen?

Ich konnte es nicht sagen.

Mit trockener Kehle nickte ich. »Ja, ich habe nur gerade über die Sache mit dem Gedächtnisverlust nachgedacht.«

Mitfühlend sah mich Kat an. »Unvorstellbar, wie es sich anfühlen muss, nicht zu wissen, wer man ist, aber immerhin weiß ich, wie es ist, von Daedalus trainiert zu werden und wie weit sie gehen, um ihre Sache voranzubringen.«

Damit war mein Interesse geweckt und die Sache mit der Hand erst einmal vergessen. »Ab und zu … fühle ich etwas«, gestand ich zögernd, da ich nicht wusste, wie ich es erklären sollte. »Es kommt mir vor, als wären es Emotionen, die von unterdrückten Erinnerungen herrühren. Sie fühlen sich nicht gut an, weshalb ich eigentlich dankbar bin. Sehr sogar, denn ich glaube, wenn ich mehr wüsste, wäre ich nicht … dann wäre mit mir etwas ernsthaft nicht in Ordnung.«

Kat ließ die Hände auf dem Bauch ruhen. »Daemon hat mir von Jason Dasher erzählt«, verriet sie. »Er hat versucht, es vor mir geheim zu halten, aber ich habe gemerkt, dass er etwas verbarg. Ich kann einfach nicht glauben, dass er lebt, aber wirklich überrascht bin ich nicht. Mich kann sowieso fast gar nichts mehr überraschen.« Seufzend atmete sie aus. »Ich kannte Jason Dasher. Er hatte so eine Art, einen glauben zu machen, dass sie für das übergeordnete Wohl arbeiteten. Nancy genauso.«

Der Name ließ mich hellhörig werden. »Eaton hat sie erwähnt, als wir mit ihm sprachen, und Luc wirkte nicht gerade begeistert, als er den Namen hörte.«

»Kein Wunder.« Kat hob die Augenbrauen. »Nancy Husher hatte die Oberaufsicht über die Origins. Es war ihr Projekt. Sie hat Luc mehr oder weniger großgezogen, bis er abgehauen ist. Und sie war besessen von der Idee, den stärksten Lux von allen zu finden, weil sie glaubte, das wäre die Lösung für bessere Origin-Nachkommen. Diese Frau war ein …« Sie schloss den Mund und presste die Lippen aufeinander, während ich perplex vor ihr saß. »Sagen wir mal so, ich wäre zu gern dabei gewesen, als Luc ihrem Leben ein Ende gesetzt hat.«

»Luc hat dir nie von ihr erzählt, oder?« Dee las mich wie ein offenes Buch. Ich schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich denkt er nicht besonders gern an sie.«

»Was auch besser ist«, kommentierte Kat. »Und wenn Luc nichts gesagt hat, halte ich auch lieber den Mund.«

Ich wollte gerade widersprechen.

»Von Nancy muss er dir schon selbst erzählen«, kam sie mir zuvor. »Vielleicht bin ich ohnehin schon zu weit gegangen.«

»Das ist nicht deine Schuld. Du bist wahrscheinlich davon ausgegangen, dass ich von ihr weiß.« Ich war mir nicht sicher, ob ich sauer sein sollte, dass es nicht so war, aber … »Es ist viel passiert, seit Luc und ich wieder vereint sind, und meistens ging es um mich und was ich durchgemacht habe. Da war noch nicht viel Zeit für andere Dinge.«

Am liebsten hätte ich mir selbst auf die Schulter geklopft.

Seht mich an, wie vernünftig ich denke, anstatt über die Maßen gekränkt zu sein.

Ich hatte mehr Erdnussbutter verdient.

»In dem Zusammenhang hätte ich, superneugierig, wie ich bin, eine Bitte«, Kat schaute zu Dee. »Wir würden nämlich gern ein bisschen mehr über deine Fähigkeiten erfahren.«

Ich erzählte ihnen, was ich konnte, und gestand offen, dass ich die Quelle die wenigen Male, in denen sie in mir entfacht war, nicht hatte kontrollieren können. Was in der vorherigen Nacht geschehen war, ließ ich aus, weil ich Kat nicht beunruhigen wollte, wie nahe dran ich gewesen war, ihr Haus dem Erdboden gleichzumachen. Zu keiner Zeit gaben mir Dee und Kat das Gefühl, ich wäre ein außer Kontrolle geratener Freak, was mir den Mut gab, ihnen zu erzählen, was ich vorhatte.

»Luc wird mit mir daran arbeiten, sie kontrollieren zu können. Ich möchte niemanden hier einem Risiko aussetzen und ich … ich möchte mich wehren können. Ich möchte Daedalus auslöschen. Endgültig. Und wenn ich tatsächlich so toll bin, wie die Trojaner angeblich sein sollen, dann kann ich dabei helfen. Ich möchte auf eurer Seite kämpfen«, verkündete ich, worauf Dee und Kat verstohlene Blicke tauschten, die mir jedoch nicht entgingen. Schnell redete ich weiter, ehe sie mir in die Parade fahren konnten. »Ich weiß, dass in dem, was ihr ›den Hof‹ nennt, Leute trainieren, auch wenn ich es noch nicht mit eigenen Augen gesehen habe. Und es gibt wahrscheinlich keinen guten Grund für euch, mir zu vertrauen, aber wenn ich sie kontrollieren kann, werdet ihr mich alle noch brauchen.«

Kat schwieg.

Dafür sprach Dee. »Du hast recht. Wenn du deine Fähigkeiten kontrollieren kannst, dann brauchen wir dich. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der zu dem in der Lage ist, was du getan hast.«

Ich nickte und versuchte mich nicht allzu sehr zu freuen, da ich ein riesiges ›aber‹ kommen hörte.

Und da war es auch schon. »Aber ich bin mir nicht sicher, was es für uns bedeutet, dieses Risiko einzugehen.« Dee sah mich mit ihren leuchtend grünen Augen eindringlich an. »Es hat nichts mit dir persönlich zu tun. Ich mag dich. Außerdem stehst du auf mich, sagt Zoe. Meine Unterstützung hast du.«

Zoe konnte sich auf eine ordentliche Backpfeife gefasst machen.

Echt!

»Aber ich bin nicht allein, und um ehrlich zu sein, bist du in dem, was du bist, eine viel zu große Gefahr«, fuhr Dee fort und die Worte wogen schwer wie Steine. »Wenn es auch nur die geringste Chance gibt, dass du mit Daedalus gemeinsame Sache machst, ist es eine Chance zu viel.«

Ihre Worte waren nur allzu wahr – auch wenn sie wehtaten –, doch ehe sie sich wirklich schmerzhaft in mich hineingefressen hatten, blendete ich sie aus wie ein Profi und nickte. »Das verstehe ich, aber bin ich dann nicht schon jetzt ein Risiko?«

»Das bist du«, pflichtete Kat mir bei. »Wenn du weitergibst, was du bereits weißt, sind wir geliefert. All die unschuldigen Leute hier wären geliefert.«

»Ich weiß –«

»Du solltest auch wissen, was wir tun müssten«, schnitt Kat mir das Wort ab und sah mich mit festem Blick an. »Denn wir werden es nicht zulassen, dass Daedalus irgendwelche Informationen von dir bekommt.«

So schwer es mir fiel, ich hielt ihrem Blick stand und war überrascht, wie ruhig ich die Worte hervorbrachte. »Ihr würdet mich töten.«

»Es gab eine Zeit, in der ich mir gar nicht hätte vorstellen können, je eine Entscheidung zu treffen oder in etwas involviert zu sein, um jemandes Leben zu beenden«, sagte sie und fuhr sich langsam über den kugelrunden Bauch, »dass mir diese Entscheidung zwar nicht leichtfallen würde, ich es aber dennoch täte. Doch das ist lange her – in einem anderen Leben. Du wirst definitiv keine Informationen an Daedalus liefern.«

Ich weiß, dass sie nur eine weitere unbequeme Wahrheit aussprach. Ich wusste auch, dass es nichts Persönliches war und dass sie mir nichts von alledem gern sagte. Und wie bei Cekiah würde ich an ihrer Stelle genau das Gleiche sagen und genauso handeln. Die Warnung schmerzte dennoch, als wäre ich mit dem Gesicht über den Asphalt geschrammt. Sie hatte mich verletzt, mich, die ich nichts mehr wollte, als dazuzugehören, mit Kat und Dee befreundet und Teil ihrer Pläne zu sein, der Organisation den Garaus zu machen, die uns allen zweifellos schreckliche Dinge angetan hat. Es schmerzte auch deshalb so sehr, weil ich wusste, es bedeutete, dass mir so etwas letztlich immer verwehrt und jegliche Freundschaft oberflächlich bliebe.

Doch ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und sagte: »Wenn ihr dann … erfolgreich wart, müsstet ihr euch aber mit Luc auseinandersetzen.«

»Das ist uns wohl bewusst«, sagte Kat und lächelte matt. »Wir sind uns darüber im Klaren, dass unser eigenes Leben in dem Moment, in dem Luc merkt, was wir getan haben, ebenfalls beendet sein wird, aber wenn wir damit die Leute und das, was wir hier tun, beschützen können, ist es uns das wert. Er weiß, dass wir es tun würden, glaubt aber, dass es nicht so weit kommen wird. Ich hoffe, er hat recht, also lass uns gemeinsam hoffen, dass niemand von uns diesen Tag erleben muss.«

Kurz nachdem Kat mir mitgeteilt hatte, dass ich so gut wie tot war, wenn ich je mit den anderen Trojanern in Verbindung treten würde, verließ ich ihr Haus – seltsamerweise jedoch nicht wegen dem, was sie gesagt hatte. Dee hatte das Gespräch danach geschickt auf ihr nächstes Fernsehinterview mit Senator Freeman gelenkt, und Kat war sichtlich erschöpft gewesen. Ich hätte wetten können, dass sie eingeschlafen war, noch ehe ich draußen vor der Tür stand.

Besorgt, was die Zukunft bereithielt, und ein bisschen hungrig schleppte ich mich in das leblose Haus zurück. Um die Erdnussbutter zu holen, ging ich in die Küche, die nur von dem Fenster über der Spüle erhellt war. Ich hörte ein scharfes Atemholen. Das war nicht von mir gekommen.

Sofort drehte ich mich zur Speisekammer, in die Richtung des Geräuschs. Dort stand ein Kind, das mehrere Dosen Gemüse mit beiden Armen an sich drückte, mit den Zähnen hielt es einen Beutel mit Brot. Als sich unsere Blicke trafen und ich ihm in die großen braunen Augen sah, wusste ich, dass der Junge keiner der Schüler gewesen war, die ich gesehen hatte. An das leuchtend rote Haar, das in alle Richtungen abstand, hätte ich mich erinnert, aber das war noch nicht alles. Er sah ausgemergelt aus. Seine Wangen waren hohl und die Schulterknochen stachen unter seinem schmutzigen grünen Oberteil hervor. Auch die Finger, mit denen er die Dosen festhielt, waren dreckverkrustet, die zerrissene Jeans fleckig. Die Kinder in der Schule hatten im Gegensatz zu diesem Jungen sauber und gut genährt ausgesehen.

Einen Moment lang stand er wie erstarrt da, genau wie ich, doch dann wich die Spannung aus seinem Körper und die Dosen in seinen Armen gerieten ins Rutschen. Klappernd knallten sie auf den Boden und rollten in alle Richtungen. Auch der Beutel fiel ihm aus dem Mund.

Dann rannte er los.