Kapitel 25

Alles geschah unglaublich schnell.

Violettauge und der grünäugige Lux wirbelten herum. Ein Mann stand dort, und er hatte eine Waffe gezogen.

»Was hast du getan?«, rief der grünäugige Lux keuchend.

»Sie ist ein Eindringling, stimmts?« Der Mann hielt die Waffe weiter auf mich gerichtet. »Es kann gar nicht anders sein. Sie hat gerade das Haus dem Erdboden gleichgemacht! Ich musste –«

Verdutzt blickte ich an mir herab. Mitten auf der Brust meines hellgrauen Shirts prangte ein kleiner dunkler Fleck, ein an den Rändern ausgefranster Kreis, dessen Durchmesser sich innerhalb von Sekunden verdoppelte.

Das Brüllen, das die Stille durchschnitt, kam aus dem tiefsten Inneren, zeugte von einem unfassbaren Zorn, und kam von ihm . Von Violettauge, dessen Adern von der Quelle zu leuchten begannen, erst nur im Gesicht, dann auch am Hals und weiter.

Grünauge wirbelte abermals herum. »Luc –«

Er holte mit dem Arm aus und ein weißer Lichtblitz schoss aus seiner Hand. Knisternd fand der Energiestrahl sein Ziel. Der Schrei des Mannes verstummte schnell, weil die Quelle zügig ihre Arbeit verrichtete, sich durch Kleider und Haut brannte, Muskeln und Knochen auflöste.

Nur wenige Sekunden waren seit dem Knall vergangen, aber von dem Mann war nur noch eine kleine Rauchsäule übrig, die von einer versengten Stelle im Boden aufstieg.

Ich versuchte einzuatmen, wurde jedoch von einem stechenden Schmerz ausgebremst. Nur ein winziges bisschen Luft gelangte in die Lungen, während ich die Hand auf die Brust drückte. Sofort sickerte Blut durch meine Finger. Feucht und warm lief es mir auch über den Rücken, während ich rückwärtstaumelte und dann auch schon meine Knie versagten –

Jemand fing mich auf. Ein Lux. Der blauäugige, der immer einen Lolli im Mund hatte. »Sie liegt am Boden!«, rief er und ich versuchte mich von ihm zu befreien, schien aber keine Kontrolle über meinen Körper zu haben. Blauauge hielt mich fest und ging mit mir auf die Knie. »Luc!«

Verwirrt blickte ich auf meine Hand, auf das Blut, das mir über den Arm lief, über die schillernden schwarzen Flecken.

Ich hatte den Schützen nicht gesehen, die Gefahr nicht bemerkt.

Ein Arm schob sich in meinen Nacken und ich nahm den Geruch von Kiefernnadeln und verbrannten Blättern wahr. Mein von der Quelle befeuerter Instinkt sagte mir, dass ich wieder in Ordnung käme, dass ich nur einen sicheren Ort finden musste – wo ich mich im Moment befand, war ich nicht sicher. Ich musste fort, aber welche Botschaften mein Gehirn auch immer an meinen Körper sendete, sie kamen nicht an. Ich versuchte, die Quelle aufzurufen, doch das Zucken in meiner Brust war noch schwächer geworden. Die Flecken auf meiner Haut schillerten auch nicht mehr wie Onyxsplitter. Ich konnte mich nicht rühren und war nicht sicher –

»Du bist sicher, Evie. Ich bin bei dir«, drang eine tiefe Stimme in meinen Kopf, eine Stimme, die zu den Händen gehörte, die mir behutsam das Haar aus dem Gesicht strichen. »Ich werde nicht zulassen, dass dir noch einmal jemand etwas antut. Du bist sicher.«

Ich wurde flach auf den Boden gelegt und die sich schnell verziehenden dunklen Wolken wurden durch ein mir bekanntes Gesicht ersetzt, durch Augen, die die Farbe von wilden Veilchen hatten, und Pupillen, die weiß leuchteten. Er. Ich kannte seinen Namen. Er lag mir auf der Zunge.

Seine Hand glitt von meiner Wange auf meine Brust. Meine eigene lag unterdessen schlaff und nutzlos neben mir. Fast aus Gewohnheit versuchte ich weiter, die Quelle aufzurufen, merkte aber, wie schwach die Energie war und dass sie stetig weiter nachließ.

»Ich glaube, der Schuss ging durch ihren Rücken«, sagte Blauauge. »Und ist aus der Brust wieder ausgetreten.«

Violettauge zog behutsam mein Shirt hoch. Fluchend begann er, mich zu sich auf die Seite zu drehen.

Erneut spürte ich einen Stich zwischen den Schultern – so plötzlich und schmerzhaft, dass ich schrie. Sofort begann die Quelle wieder zu pulsieren, aus mir herauszuströmen.

Violettauge zuckte leise brummend zurück, hielt mich aber weiterhin fest – sogar fester als zuvor. »Tut mir leid, Peaches. Es tut mir so leid.« Er drehte mich vollständig auf die Seite, die Qualen waren unerträglich und ich konnte nicht anders, als abermals zu schreien. »Ich weiß, dass ich dir wehtue. Es tut mir leid.«

Dieses Mal reagierte die Quelle nicht, auch nicht, als er die Hand auf die vor Schmerzen pochende Stelle legte. Die Wärme, die sie verströmte, bekämpfte das stechende Brennen. Sie floss meinen Rücken hinab.

»Öffne die Augen. Das musst du für mich tun. Bitte. Öffne deine wunderschönen Augen.«

Bitte.

Waren sie denn nicht geöffnet? Das fast verzweifelte Flehen schien erhört zu werden und schließlich gelang es mir, die schweren Lider zu heben.

Er war ein einziger Leuchtkörper, nicht nur seine Augen strahlten. »Da bist du ja.« Die pulsierende Wärme war inzwischen überall hingeflossen. Er lächelte, doch irgendwie sah es nicht echt aus. »Alles wird gut. Hörst du mich, Evie?«

»Ich habe … versagt.«

Eine Gefühlsregung ließ ihn gequält das Gesicht verziehen. »Du hast nicht versagt, Evie. Du nicht, ich habe versagt.«

Ich öffnete den Mund, doch statt Worten kam nur ein nasser Husten heraus – ein Husten, der nach Eisen schmeckte.

»Alles ist gut.« Das Gesicht des schönen Mannes über mir verschwamm an den Rändern. »Alles ist gut. Das verspreche ich dir. Aber bitte bleib bei mir.«

Er beugte sich über mich, und als er seine Lippen auf meine Stirn presste, fühlte es sich wie ein mittelschwerer Stromstoß an. Erinnerungen wallten in mir hoch, wie er genau das wieder und wieder tat. Seine Lippen an meiner Schläfe, meiner Haut und meinen eigenen Lippen. Er hatte mich schon viele Male geküsst, denn er war …

»Ich bin dein Ein und Alles«, flüsterte er und schmiegte sich an mich. »Und du bist mein Ein und Alles.«

Als ich aufwachte, wusste ich das alles noch ganz genau.

Ich lag mit der Wange auf Lucs Brust, unser beider Oberkörper waren nackt. Von der Taille abwärts waren wir mit einer dünnen Decke zugedeckt. Vage konnte ich mich auch noch entsinnen, wie Viv und Zoe mir das blutdurchtränkte Shirt und den BH ausgezogen hatten, um die heilende Wunde zu untersuchen.

Ein wenig peinlich berührt und bruchstückhaft, aber dennoch leider klar erinnerte ich auch noch, dass ich mich an Luc festgeklammert hatte wie ein Totenkopfäffchen, als Viv und Zoe uns hatten trennen wollen. Ich war so hartnäckig gewesen, dass Luc mich bis hierher tragen musste.

Wie unangenehm.

Wahrscheinlich würde er mir das von nun an immer wieder genüsslich unter die Nase reiben.

Mein Verhalten mochte damit zu tun gehabt haben, dass ich Zoe und Viv in dem Moment nicht erkannt hatte, und in meinem verdrehten, von der Quelle verseuchten Kopf hatte ich mich bei Luc in Sicherheit gewähnt, weil er mich geheilt hatte.

Ich wusste aber noch, dass sich Viv über mein Verhalten gleichzeitig sehr gefreut hatte, weil es ihre Neustart-Theorie unterstützte. Zu der Zeit hatte ich keine Ahnung, was sie damit meinte, jetzt hingegen war es mir wieder klar. Als ich zugelassen hatte, dass die Quelle die Kontrolle übernahm, war es anders gewesen als im Wald – anders, aber ich war nicht zur Killermaschine geworden.

Das war schon mal eine Verbesserung.

Angeschossen zu werden dafür jedoch nicht unbedingt.

Ich konnte weder glauben, dass wirklich auf mich geschossen worden war, noch, dass ich überlebt hatte und es mir gut ging, abgesehen von der kleinen Stelle zwischen meinen Schulterblättern, die noch ein wenig zog.

Und das hatte ich Luc zu verdanken.

Mein Instinkt sagte mir zwar, dass die Wunde auch ohne sein Zutun geheilt wäre, gleichzeitig aber sagte mir derselbe Instinkt, dass es deutlich länger und schmerzhafter gewesen wäre. Hatte ich womöglich regenerative Fähigkeiten? Oder war es wie bei Luc, nachdem er die Projektile aus seinem eigenen Körper entfernt hatte? Er war davon überzeugt gewesen, sich danach selbst heilen zu können, dabei waren jene Projektile gar nicht tödlich gewesen. Sie waren elektromagnetisch behandelt worden und sollten lediglich verwunden. Letztlich hatte ich keine Ahnung, ob ich mich selbst hätte heilen können.

Lucs Oberkörper hob und senkte sich unter mir im gleichmäßigen Rhythmus des Schlafes. Der Flaum auf seiner Brust kitzelte meine empfindsame Haut. Ich konnte mich nicht erinnern, so eingeschlafen zu sein, aber angesichts dessen, woran ich mich erinnerte, war ich wahrscheinlich direkt auf ihn geklettert. Während es mir ein bisschen peinlich war, dass andere mich als Mega-Klette erlebt hatten, schämte ich mich kein bisschen dafür, dass er eine solche Reaktion in mir hervorgerufen hatte, als ich nicht ganz ich selbst gewesen war. Ich nahm es als Zeichen, dass ich vielleicht weniger gefährlich war als zuvor. Zumindest für ihn.

Nicht aber für dieses Mädchen.

Doch im Moment wollte ich nicht länger darüber nachdenken und öffnete die Augen. Eine Gaslampe flackerte auf dem Nachttisch und warf einen sanften Lichtschein auf das Bett, eine zweite stand auf der Kommode und vertrieb die ärgsten Schatten.

Mein Blick blieb an dem Stuhl in der Ecke hängen, wohin der schwache Schein der Lampe gerade nicht reichte. Er war nicht leer und der dunkle Umriss einer Person kein Schatten.

Grayson.

Die Luft blieb mir im Halse stecken, als er sich erhob und lautlos wie ein Geist den Raum durchquerte. Kurz vor dem Bett blieb er stehen und schaute erst Luc und dann mich an.

Er sagte nichts.

Ich auch nicht.

Und dann redete er doch – so leise, dass ich nicht glaubte, Luc würde davon aufwachen. »Er ist nicht unantastbar, weißt du. Auch er kann schwächeln.«

Bei dem Gedanken wurde mir flau im Magen. Luc war mir immer größer als das Leben selbst vorgekommen, niemals schwach und niemals müde, auch wenn ich es besser wusste. »Ich weiß«, flüsterte ich.

Grayson schloss die Augen und goldenes Licht begann aus seiner Brust zu fließen. Nach und nach umspülte es seinen gesamten Körper und er glitt lautlos in seine wahre Erscheinungsform. Er war zu einem Lichtwesen mit menschlichen Konturen geworden, so hell, dass man glaubte, direkt in die Sonne zu blicken. Er hob eine Hand, und mitten in dem Leuchten konnte ich seine Finger erkennen, die er auf Lucs Arm legte. Flackerndes Licht züngelte an Luc hinauf und verteilte sich in einer goldschimmernden Welle auf ihm. An den Stellen, an denen Lucs und mein Körper sich berührten, spürte ich die Wärme und das leichte Vibrieren.

Luc schlief noch immer, atmete jetzt sogar tiefer als zuvor, und Grayson – er gab Luc etwas von seiner eigenen Energie, ersetzte etwas, wenn nicht alles von dem, was dieser bei dem Versuch, Spencer zu retten, und anschließend bei meiner Heilung verbraucht hatte.

Nach einer Weile zog Grayson seine Hand zurück und entfernte sich von dem Bett. Seine wahre Form schwand, bis er wieder ganz wie ein Mensch aussah. Schweigend verließ er den Raum.

Nicht allzu lange nachdem Grayson gegangen war, merkte ich, wie sich Lucs Arm auf meinem Rücken bewegte, wie er ihn anspannte und wieder locker ließ. Ich hob den Kopf, um zu sehen, wie er die Augen aufschlug. Sein Blick wurde klarer, nahm mich wahr und blieb an mir hängen.

»Hi«, flüsterte ich.

»Hey.« Seine Stimme war noch rau vom Schlaf, als er den Arm hob, den Grayson berührt hatte. Er legte die Hand an meine Wange. »Wie fühlst du dich?«

»Ganz gut. Die Stelle an meiner Schulter schmerzt noch ein bisschen, aber ich fühle mich nicht, als wäre ich … du weißt schon, angeschossen worden oder so.«

»Das ist gut.« Er schaute mir weiterhin tief in die Augen und erst jetzt fiel mir auf, wie intensiv sein Blick war, nicht nur heute, sondern jedes Mal, wenn er mich ansah. Als mir das bewusst wurde, lief mir ein Schauer über den Rücken.

»Und du?«, fragte ich leise.

»Wie neugeboren.«

Gern hätte ich gewusst, wie viel davon mit Grayson zu tun hatte, aber ich schwieg. Ich hatte das Gefühl, Grayson hätte nicht gewollt, dass Luc erfuhr, was er für ihn getan hatte.

»Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?«, vergewisserte sich Luc wenig später. »Das war eine megagroße Wunde. Das Projektil hat auch einen deiner Lungenflügel erwischt. Ein paar lebenswichtige Arterien waren beschädigt.«

Bei dem Gedanken an das, was er nicht aussprach, wir aber beide wussten, bekam ich eine Gänsehaut. Wäre ich ein Mensch gewesen, wäre es mir höchstwahrscheinlich wie Spencer ergangen und ich wäre verblutet, bevor jemand auch nur irgendetwas hätte tun können.

»Mir geht es wirklich gut«, beruhigte ich ihn. »Und das habe ich dir zu verdanken.«

Noch immer hatte er den Blick nicht abgewendet. »Ich habe den Mann getötet.«

»Ich weiß.«

»Er wusste nicht, wer du warst. Eaton hatte Alarm geschlagen, dass es einen Eindringling gibt. Er hat dich gesehen und dachte, du wärst es. Er hat nur getan, was ihm die Gemeinschaft aufgetragen hatte, und ich habe ihn getötet.«

Ich erwiderte seinen eindringlichen Blick und stützte mich auf die Ellbogen. Einmal mehr spürte ich ein leichtes Ziehen im Nacken, aber mehr nicht. »Luc –«

Aber er hat dich verletzt. Seinetwegen hast du geblutet , drang seine Stimme in meine Gedanken. Ich bereue nicht, was ich getan habe.

»Ich hätte das Gleiche getan«, gestand ich, und das war die Wahrheit. Ob es nun richtig oder falsch war, es war die Wahrheit.

»Ich weiß.« Er fuhr mit dem Daumen an meinem Gesicht entlang und dann weiter an meinen Hals, wo er meinen Puls ertastete. »Ich hatte keine Ahnung, wie gefährlich die Verletzung für dich war oder ob der Typ von den Sons of Liberty recht damit hatte, was tödlich für dich ist.«

Ein Kopfschuss. Steven hatte behauptet, nur der könnte einen Trojaner zur Strecke bringen und sie anscheinend auch in tausend Stücke zerfetzen, obwohl wir uns bei Letzterem nicht sicher waren. Insbesondere wenn ich anders war als die anderen, und danach sah es inzwischen immer mehr aus.

»Du hast überall geblutet. Das Blut klebt noch immer an dir. Und an mir. Und es war das zweite Mal in sehr kurzer Zeit, dass ich Angst hatte, dich zu verlieren.«

»Es tut –«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Evie. Lass es.« Er half mir, mich aufzusetzen. Die Bewegung war geschmeidig, nur ein kleines bisschen zog es zwischen den Schultern. »Es gibt viele Dinge, über die wir reden müssen. Sarah. Hunter. Was mit ihr passiert ist – mit dir, aber im Moment brauche ich dich erst mal bei mir. Ich muss dich spüren, ganz nahe.« Er presste seine Stirn gegen meine. »Ich muss vergessen, dass wir beide mit deinem Blut befleckt sind.«

Ich schloss die Augen und holte stockend Luft. »Ich bin ja da«, sagte ich und legt die Hände um seine Wangen.

Luc küsste mich. Alles andere als langsam und zögerlich fand er einen Weg, dass sich meine Lippen öffneten und der Kuss inniger wurde, begleitet von einem Hauch Verzweiflung und einer unterschwelligen Angst.

Nachdem die dünne Decke irgendwo am Fußende des Betts auf dem Fußboden gelandet war, löste er seine Lippen von mir und wand sich aus meiner Umarmung. Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, was er wohl vorhatte, küsste er mich auf die schmerzende Stelle zwischen meinen Schulterblättern, während sich seine Finger langsam, aber sicher an den Bund meiner Hose schoben.

Kühle Luft wehte über meine nun entblößte untere Körperhälfte, aber Luc war so heiß, dass sie schnell vergessen war. Ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken, als ich seine Haut auf meiner spürte und ein Funke übersprang, den man niemals hätte erzwingen oder künstlich herstellen können.

Der Anblick seiner Hand, die er auf der Matratze neben meinem Kopf aufstützte, und das Gefühl, seine zweite Hand an meiner Hüfte zu spüren, erregte mich so stark, dass ich mich im Laken festkrallen musste. Doch Lust war nicht das Einzige, was die Luft um uns herum elektrisch auflud.

Es war so viel mehr im Gange, als er sich an mich und in mich hineindrängte. Liebe. Angst. Erleichterung. Akzeptanz. Ich streckte einen Arm aus und legte meine Hand auf seine, unsere Finger verwoben sich.

Einen langen Moment geschah gar nichts. Sein Körper war zum Zerreißen gespannt. Doch dann bewegte er sich und der Laut, der aus seiner Kehle stieg, versengte mir die Haut, jegliche Kontrolle oder Beherrschung waren dahin. Gemeinsam stürzten wir, kopfüber und ohne Vorbehalte, tief in den Strudel der Empfindungen, die weit über das Physische hinausgingen. Ich verlor jegliches Gefühl für Zeit und Raum, für alles, außer für Luc, wie es ihm ging und wie er sich bewegte, und dass es nichts gab, was er nicht für mich tun würde. So wie es nichts gab, was ich nicht für ihn tun würde.

Und dann war der Kipppunkt erreicht, ab dem wir uns irgendwo im Nirgendwo befanden, und ich hatte keine Ahnung, wie lange wir dort blieben, die Körper fest aneinandergepresst, zitternd und mit klopfenden Herzen.

Luc legte die Stirn auf meine Schulter, während er sich weiter mit dem Arm abstützte, an den ich mich nun schmiegte. »Ich hab dir doch nicht wehgetan, oder?«

»Nein.« Ich küsste seine Hand und merkte, wie daraufhin sein ganzer Arm zu vibrieren begann. »Und wie siehts bei dir aus?«

Luc lachte leise in sich hinein. »Vielleicht habe ich mir einen Muskel gezerrt.«

Ich lachte über den dummen Witz. »Dann ist ja alles gut.«

»Ich hätte die Kontrolle behalten sollen«, sagte er und ich spürte seinen warmen Atem am Hals, während er sprach. »Das war total unangemessen.«

»Ja, in der Tat.«

Er bewegte sich ein wenig über mir und dann spürte ich einmal mehr seine Lippen auf der schmerzenden Stelle zwischen meinen Schulterblättern. »Aber ich glaube, du magst es, wenn ich mich unangemessen verhalte.«

»Ja, das stimmt«, erwiderte ich lächelnd.

Dafür bekam ich noch einen Kuss dorthin, wo nur Stunden zuvor ein Projektil eingedrungen war. »Wer von uns ist nun der schlechte Einfluss? Ich würde sagen, du.«

»Was?« Abermals musste ich lachen. »Wie kommst du denn darauf?«

»Ich war jahrelang ein lieber, braver Junge, Evie. Viele Jahre lang.«

Ich schnaubte verächtlich.

»Glaubst du mir etwa nicht?«

»Du warst nicht nur deshalb ein braver Junge, weil du keinen …«

»Weil ich was nicht hatte? Sprichs ruhig aus. Es sind nur drei wie Perlen auf einer Kette aufgereihte Buchstaben.«

Ich verdrehte die Augen. »Sex.«

»Wirst du rot?«

»Du vielleicht?«, spielte ich den Ball zurück.

»Ja, im Grunde bin ich ja immer noch ein –«

»Arsch?«

»War das eine Einladung?«

»Oha.« Ich musste noch lauter lachen. »Du klingst wirklich ungeheuer brav.«

»Hab ich doch gesagt.« Wieder bewegte er sich, und dieses Mal streckte er sich dabei, sodass seine Lippen meine Wange streiften, als er sagte: »Aber jetzt? Mit dir?« Sein Mund befand sich inzwischen direkt an meinem Ohr, und die Worte, die er dort hineinflüsterte, versengten mir die Haut und verursachten ein wildes Prickeln auf meinem Rücken. »Bin ich eben so.«

Ich biss mir auf die Lippen, schloss die Augen und vergrub die Zehen in dem zusammengeknüllten Laken.

»Was denkst du?«, fragte er und nagte an meinem Ohrläppchen.

Ich öffnete die Augen. Ich liebe dich so, wie du bist.

Ein zustimmendes Grummeln kitzelte auf meiner Haut. Evie?

Irgendwie wusste ich, was er wollte. Vielleicht lag es an der Art, wie er meinen Namen sagte. Es konnte aber auch die alte Verbindung zwischen uns sein, die sich in den Jahren entwickelt hatte, an die ich mich nicht erinnern konnte, und die sich seit dem Moment, als wir wieder in das Leben des jeweils anderen getreten waren, immer weiter verstärkte. Ich hob den Kopf und sah ihn an. Es dauerte keine Sekunde, bis sich unsere Münder gefunden hatten, und der Kuss, der daraus entstand, ließ mich an Selbstentzündung glauben. Er war wie ein Streichholz, das, kaum dass es angerissen war, auch schon brannte. Wir beide brannten.