Luc hatte mehr als eine Stunde gebraucht, um sich zu erholen. Er hatte den Rest des Tages gebraucht, aber als es dunkel geworden war, hatte er sich zumindest wieder wie er selbst gefühlt. Fast. Er war ziemlich früh eingeschlafen und ich versuchte, mir deshalb nicht allzu viele Sorgen zu machen. Wenn er sich den Abend über noch ausruhen würde, wäre er wieder ganz normal, hatte er behauptet. Ich musste ihm glauben.
Als ich neben ihm lag und nicht mehr befürchten musste, dass mein Magen versuchen würde, sich selbst zu fressen, kam mir eine Idee. Vorsichtig schlüpfte ich aus dem Bett und bewegte mich leise durchs Haus. Ich sammelte einige Konservendosen zusammen, von denen ich nicht glaubte, dass sie Luc oder mir fehlen würden, und legte alles zusammen mit einigen Flaschen Wasser und einer weiteren Packung Brot in eine Papiertüte. Und ich gab dieses Mal noch etwas anderes mit in die Tüte. Meine Sehkraft hatte sich wirklich verbessert, denn ich fand Block und Stift auf dem Küchentresen ohne Schwierigkeiten, ohne Licht zu machen. Ich schrieb Nate eine kurze Nachricht, in der ich ihn fragte, ob er irgendetwas Bestimmtes brauche. Dann platzierte ich den Zettel samt Bleistift oben auf den Lebensmitteln in der Tüte und begab mich damit auf den Weg zur Hintertür, als ich spürte, dass ein Lux in der Nähe war. Ich glaubte nicht, dass es Daemon war, es sei denn, er ging mit Adam spazieren, um ihn zum Schlafen zu bringen.
Ich stellte die Tüte ab und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Es roch nach Regen und kühle Luft drang herein, während ich den Blick über den kleinen Hof schweifen ließ. Das Gefühl wurde stärker –
»Du hast mich gespürt, stimmts?«
Ich zuckte nicht zusammen, als ich Graysons Stimme hörte, wofür ich mir am liebsten selbst auf die Schulter geklopft hätte. Ich trat nach draußen und schloss die Tür hinter mir, als Grayson vor mir auftauchte, der aus der Richtung von Kats und Daemons Haus gekommen war.
»Stimmt«, gab ich zu.
Er legte den Kopf schief. »Hach, da macht das Anschleichen ja gar keinen Spaß mehr.«
Mit meinem geschärften Blick konnte ich sein Gesicht recht gut erkennen. »Ich würde ja sagen, dass es mir leidtut, aber das wäre gelogen.«
Grayson grinste.
»Läufst du Patrouille?«, fragte ich.
»Mit anderen Worten, du willst wissen, warum ich hier bin«, entgegnete er.
»Ja, so ungefähr«, erwiderte ich.
»Ich habe Hunter getroffen.«
Meine Halsmuskeln spannten sich an. »Er hats dir erzählt, oder?«
»Ja.«
»War ja klar.« Seufzend verschränkte ich die Arme. »Ich wette, er hatte viel Spaß dabei, dir zu erklären, was ich letztlich tun musste.«
»Kann man so sagen.« Er lächelte, aber nur kurz und kaum wahrnehmbar.
Jetzt wusste ich, warum Grayson hier war. »Luc geht es gut. Er schläft nur im Moment. Ich habe nicht zu viel genommen oder ihm wehgetan«, versicherte ich ihm und merkte, wie meine Wangen zu glühen begannen, während ich verlegen auf die Feuerstelle starrte. Ich wusste, dass es mir nicht peinlich sein sollte. Offensichtlich war es etwas, was man als Arum nun mal einfach tun musste, und mir blieb keine andere Wahl. Nicht wirklich. »Und es ist ja nicht so, dass ich es unbedingt wollte. Wir haben den halben Nachmittag lang diskutiert, aber ich …«
»Du musstest es tun«, beendete er den Satz überraschenderweise für mich. »Luc hätte nichts anderes zugelassen. Wahrscheinlich hätte er sich auf dich draufgesetzt, bis du zugestimmt hättest.«
Ich ließ ein trockenes Lachen vernehmen. »Wahrscheinlich. Ich werde ihm nicht wehtun«, versicherte ich ihm einmal mehr. Langsam drehte er sich zu mir. »Ich weiß, im Wald habe ich es getan, aber als ich auf Sarah losgegangen bin, wollte ich ihn schützen. Euch alle. Und die Vorstellung, dass ich ihm auch nur irgendwie wehtun könnte, selbst wenn ich keine Kontrolle über mich hätte, macht mir eine Heidenangst. Ich könnte nicht weiterleben, wenn das geschähe.«
Eine Weile schwieg Grayson. »Ich würde es dich nicht noch einmal tun lassen. Das werde ich wahrscheinlich nicht überleben und wenn doch, muss ich danach dran glauben, aber ich werde es zu verhindern wissen.«
Er sagte es nicht als Drohung. Zumindest fasste ich es nicht als eine solche auf und nickte. Plötzlich fragte ich mich, ob der Grund für Graysons Loyalität vielleicht ein anderer war, als ich ursprünglich gedacht hatte. Mir fiel ein, was Grayson für Luc getan hatte, nachdem dieser mich geheilt hatte, und wie erschüttert er gewesen war, als er erfahren hatte, dass ich Nadia war. Auch andere Geschehnisse betrachtete ich nun in einem neuen Licht und glaubte plötzlich zu wissen, warum er mich nicht mochte.
»Warum starrst du mich so an?«, fragte er.
Eigentlich hatte ich beschlossen, die Frage nicht zu stellen, die mir auf der Zunge lag, doch weder mein Gehirn noch mein Mund hielten sich daran. »Liebst du ihn?«
Nun sah Grayson doch zu mir. »Glaubst du, dass ich dich deshalb nicht leiden kann?«
Seine unverblümte Frage verdiente eine unumwundene Reaktion. »Ja.«
Leise in sich hineinkichernd schüttelte er den Kopf. »Wäre es ein Problem für dich, wenn ich Ja sagen würde?«, kam er auf meine eigentliche Frage zurück.
Ich dachte darüber nach. »Nein, eigentlich nicht.«
»Weil er dich liebt?«
»Ja«, antwortete ich. »Aber er weiß bestimmt, dass du ihn liebst. Er weiß fast alles. Es stört ihn nicht.«
»Natürlich weiß er es.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Bei einer Sache täuschst du dich allerdings. Ich hasse dich nicht.«
Ich öffnete den Mund, um zu antworten, doch ehe ich mir überlegt hatte, was ich sagen sollte, hatte Grayson sich bereits entfernt und war ums Haus verschwunden. Er hasste mich nicht? Mir entwich ein ersticktes Lachen, als ich zurück ins Haus ging. Ich sah keinen Grund, weshalb Grayson mich anlügen sollte. Vorher hatte er ja auf meine Befindlichkeiten auch nie Rücksicht genommen. Ich nahm die Tüte und lief damit hinaus zur Feuerstelle. Dabei dachte ich darüber nach, dass mir noch nie eine kompliziertere Person als Grayson begegnet war.
Und hallo, das hieß etwas.
Am nächsten Nachmittag war die Tüte fort, eine Nachricht aber schien Nate mir nicht hinterlassen zu haben. Ich versuchte, nicht enttäuscht zu sein und nur erleichtert, dass er offensichtlich nach wie vor in der Gegend war und irgendwie schaffte zu überleben.
Von meiner Unterhaltung mit Grayson erzählte ich Luc nichts, und sollte er davon mitbekommen haben, erwähnte er es nicht.
Grayson schwieg sich ebenfalls darüber aus, während ich in den nächsten drei Tagen sehr gut darin wurde, mithilfe der Quelle Gegenstände und sogar Leute zu stoppen. Zu seinem Leidwesen musste Grayson als Versuchskaninchen herhalten. Da er sich benahm, als hätte es unser Gespräch nie gegeben, entschied ich mich, es ihm gleichzutun. Das, was er mir gegenüber mehr oder weniger eingestanden hatte, machte mir nichts aus. Wenn Luc wollte, konnte er nun mal unwiderstehlich sein, und ich war erleichtert, dass Grayson überhaupt zu anderen Gefühlen als Hass und Abneigung fähig war.
Selbst Luc war beeindruckt, wie gut ich im Umgang mit der Quelle wurde. Und das sagte er nicht nur, um mich aufzumuntern und mir Mut zu machen. Tatsächlich gelang es mir, erst Grayson und später auch Zoe buchstäblich erstarren zu lassen. Und keiner von beiden konnte sich eigenständig daraus befreien.
Selbst bei Luc hatte es eine Weile gedauert, bis ich ihn nicht mehr halten konnte, wobei ich ziemlich viel Energie verbrauchte. Anschließend war seine Haltung verkrampft gewesen und sein Gesichtsausdruck erinnerte mich an das vorherige Mal, als wir mit der Quelle gearbeitet hatten. Ich fürchtete, es hätte noch damit zu tun, dass ich ihn ausgesaugt hatte, aber er versicherte mir, dass mit ihm alles in Ordnung wäre.
Ich fühlte mich also ziemlich gut, aber als es in dem Klassenzimmer, das wir für den Nachmittag in Beschlag genommen hatten, trotz der Fenster, die eine ganze Wand des Raumes einnahmen, plötzlich stockdunkel wurde und die Luft gefühlt auf den Gefrierpunkt sank, erschrak ich und schauderte.
Ich konnte nichts mehr sehen und Zoes leisem Fluchen nach zu urteilen, ging es ihr genauso.
»Angeber«, murmelte Luc von irgendwoher. Vorher hatte er am Lehrerpult gesessen. Jetzt konnte er buchstäblich überall sein.
Irgendwie hatte Luc Hunter dazu gebracht, die Nicht-Lux-Seite meiner Fähigkeiten zu trainieren, wozu anscheinend auch gehörte, den Tag zur Nacht werden zu lassen.
Wahrscheinlich war Hunter insgeheim froh, etwas tun zu können. Er wirkte oft so niedergeschlagen und ich war mir sicher, dass er dann an seinen Bruder dachte.
Ich hob die Hand vor die Augen, konnte sie aber nicht sehen. »Wie hast du das gemacht?«
»Ich kannsss eben« , antwortete Hunter, und da er sich in seiner wahren Erscheinungsform befand, klang seine Stimme wie Schall und Rauch – wie Sarahs Stimme und meine eigene, als wir telepathisch miteinander gesprochen hatten. »Ich benutzzze die Quelle, um zzzu verschleiern, dasss ich anwesssend bin.«
»Kann ich das auch?«, erkundigte ich mich.
»Müssstest du eigentlich.«
»Ziemlich praktisch, wenn man schnell die Biege machen muss«, stellte Zoe fest. »Wenn man zum Beispiel auf einer Party ist und du siehst jemanden, auf den du keine Lust hast.«
»Oder wenn ich gebeten werde, beim Training zu helfen«, meldete sich Grayson aus der Dunkelheit zu Wort.
»Oder wenn Grayson den Raum betritt«, konterte ich.
»Das ist jetzt aber nicht nett«, beschwerte er sich.
Ich grinste.
Plötzlich schien die Finsternis vor mir in Aufruhr zu geraten und die Schatten dichter zu werden. Ich kniff die Augen zusammen und hatte das Gefühl, dass Hunter näher kam.
»Du kannst es zurückdrängen«, klärte Luc mich auf. »Der Trick sollte dir nur für den Moment die Sicht nehmen. Lässt du es zu lange zu, verlierst du die Oberhand.«
Es zurückdrängen? Hmm. Ich rief die Quelle auf und sofort spürte ich sie durch meine Adern rauschen. Weißes Licht mit Rauchschwaden vermischt umgab meine Hand und ich stellte mir vor, wie es immer mehr würde, bis der gesamte Raum in Licht getaucht wäre, ohne dass ich jemandem etwas zuleide tun wollte. Ich wollte nur sehen.
Das flackernde Leuchten begann ein halbes Dutzend kleine Kugeln in die Luft zu spucken – wie unzählige Silvesterknaller, und die Funken regneten hell glitzernd auf die dichten Schatten herab, die sie wie Säure auffraßen und sich dann in Luft auflösten, noch ehe sie den Boden erreichten. Innerhalb von Sekunden war die Dunkelheit verschwunden, und ich erkannte, dass Hunter tatsächlich näher gekommen war.
»Wie süß«, sagte er wieder in seiner menschlichen Erscheinungsform. »Das ist ein cooler Trick.«
»Ich wollte niemanden hier drinnen verletzen.« Ich hielt inne. »Auch dich nicht. Am einfachsten wäre ja gewesen, dich auszuschalten, dann wären die Schatten auch weg gewesen.«
Über Hunters Schulter hinweg sah ich, wie Luc verwegen grinste, während sich Grayson gegen das Lehrerpult lehnte. »Deswegen mag ich sie«, sagte Luc.
Stolz und zufrieden wandte ich mich wieder Hunter zu. »Wie hast du die Schatten dazu gebracht?«
»Wahrscheinlich auf dem gleichen Weg, auf dem du alles wieder heller gemacht hast.« Er ging zum Pult und griff nach dem Apfel, den er sich mitgebracht hatte. »Abgesehen von dem Feuerwerk.«
Ich blickte zu Zoe, die die Stirn runzelte. Ich wollte nach Einzelheiten fragen, aber anscheinend hieß, die Quelle zu verwenden, ihr den eignen Willen aufzuzwingen, je nachdem, was man von ihr wollte. Und es gab eigentlich keinen Grund, das infrage zu stellen.
Gar keinen , hörte ich Lucs Stimme.
Nickend hob ich die Hände und rief abermals die Quelle auf. Dieses Mal waren die Energiekugeln, die meine Hände umgaben, eher dunkel als hell. Ich stellte mir vor, wie sie größer würden und sich ausbreiteten. Die Kraft pulsierte, breitete sich von meinen Händen aus und strömte in die Luft. Dichte, dunkle Schatten wucherten in den Raum, während sich auf meinen Armen schwarz schillernde Flecken bildeten. Die Quelle toste um mich herum wie ein Sturm und hatte sich schon bald vor die Fenster geschoben, sodass kein Tageslicht mehr hereindrang. Lächelnd beobachtete ich, wie das Licht aus dem Raum gesogen wurde, dennoch konnte ich noch etwas sehen. Luc saß am Lehrerpult und starrte an die Decke. Grayson, der sich dicht neben ihm hielt, wirkte so zugänglich wie ein wütendes Warzenschwein. Links von mir befand sich Zoe mit weit aufgerissenen Augen, die Hände unterm Kinn zu Fäusten geballt. Hunter stand vor dem Pult und betrachtete mich aufmerksam.
Alle waren in einen grauen Schleier gehüllt.
»Kannst du mich sehen?«, fragte ich Hunter.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, aber du kannst uns sehen.«
»Ja«, bestätigte ich und Luc sah mich entgeistert an. »Alles ist irgendwie gräulich, aber ich kann sehen.«
»Diese Schatten, wie du sie nennst, sind Teil von dir, fast wie eine Erweiterung deiner selbst. Sie würden dich niemals behindern«, erklärte er.
»Hui, das ist ziemlich cool.«
»Finde ich auch.« Er verschränkte die Arme. »Aber denk immer dran, wenn du es kannst, sind andere Trojaner auch dazu in der Lage.«
Das war dann schon nicht mehr ganz so cool.
»Wie sehe ich in Grau aus?«, fragte Luc. »Noch immer wahnsinnig attraktiv, nehme ich an.«
Lachend verdrehte ich die Augen. »Du siehst ganz okay aus.«
»Lüge«, schimpfte er.
Zoe sah sich staunend um. »Ich wette, ich sehe seltsam aus.«
»Nein –«
Sie ließ die Arme sinken und schüttelte sie wie schlabberige Nudeln, während sie von einem Fuß auf den anderen sprang und dabei die Knie hochzog wie eine überdimensionierte Marionette.
»Ja«, verbesserte ich mich. »Ja, du siehst eindeutig gerade seltsam aus. Richtig unheimlich.«
Sie kicherte leicht hysterisch.
»Will ich überhaupt wissen, was sie gerade tut?«, fragte Grayson.
»Nö.« Zoe blies ihre Wangen auf.
»Du musst vorsichtig damit sein«, meldete sich Hunter zu Wort und sofort richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. »Die Schatten bringen nämlich eine gewisse Masse mit sich. Man kann einen ganzen Raum damit vollpumpen, aber dann kommt kein Sauerstoff mehr rein. Du hast schon mal das verbrannte Ozon gerochen, das oft mit der Quelle einhergeht?«
Ich bejahte.
»In dem Moment frisst die Quelle sozusagen die Sauerstoff produzierenden Moleküle auf. Du blockierst also nicht nur das Licht, sondern saugst auch den Sauerstoff schneller ab, als irgendjemand ihn durchs Atmen wieder zuführen könnte. Damit tötest du alles, was nur ein bisschen menschliche DNA in sich hat, dich selbst eingeschlossen.«
»Oh«, flüsterte ich und blickte mich besorgt um, während ich losließ und einzelne Sonnenstrahlen die Dunkelheit durchdringen ließ. »Wie lange dauert es, bis der Sauerstoff in einem Raum aufgebraucht ist?«
»Drei Minuten, wenn man Glück hast«, antwortete Grayson. »Wer Lux-DNA hat, hält vielleicht ein bisschen länger durch, aber nicht viel.« Kaum wahrnehmbar huschte ein Lächeln über sein Gesicht, was bei mir ein Stirnrunzeln hervorrief. »Wäre interessant herauszufinden, wie lange genau.«
Die Furchen auf meiner Stirn wurden tiefer. O Mann, manchmal war er echt ganz schön unheimlich.
Plötzlich wurde die Tür geöffnet. Tageslicht strömte in den Raum und mit ihm kam Daemon, der abrupt stehen blieb, während die Regenbogenaura, die ihn umgab, verblasste und sein mehr als misstrauischer Blick sichtbar wurde. »Was um alles in der Welt ist denn hier los?«
Meine Konzentration war dahin und die Schatten wurden immer durchlässiger, bis sie sich ganz und gar auflösten.
Daemon sah sich in dem Raum um und sein Blick blieb an Zoe hängen, die mitten in ihrer Tanzbewegung oder was auch immer es war, was sie gerade vollführte, erstarrt war. »Wenn ich’s recht bedenke, will ich es gar nicht wissen.«
Langsam stellte Zoe ihren Fuß wieder auf den Boden und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Ich habe gelernt, wie man Licht blockiert, damit mich niemand kommen sieht«, erklärte ich ihm. »Und anscheinend möchte Grayson ausprobieren, wie lange es dauert, bis einer von uns an Sauerstoffmangel stirbt.«
Daemon hob die Augenbrauen. »So was in der Richtung habe ich gerade schon befürchtet.
Grayson zuckte mit den Schultern.
»Was willst du?«, wollte Luc wissen.
»Sorry für die Unterbrechung«, begann Daemon.
Luc lachte. »Das meinst du jetzt nicht ernst.«
»Stimmt.« Daemon lächelte kurz. »Eaton meinte, ihr wärt alle hier. Und ich müsste einige von euch um einen Gefallen bitten.«
»Tut mir leid«, sagte Luc, während ich mich neben ihn stellte. Er legte einen Arm um meine Taille und zog mich auf seinen Schoß. »Ich kann Adam nicht babysitten. Das ist gegen meine religiösen Prinzipien.«
Daemon sah ihn herablassend an. »Du wärst der Letzte, den ich bitten würde, auf Adam aufzupassen.«
»Das wäre nicht ich?«, fragte Grayson. »Ich fass es nicht.«
»Ich korrigiere. Du wärst der Zweitletzte, den ich bitten würde, auf Adam aufzupassen.«
»Das kränkt mich aber schon. Ich bin doch total vertrauenswürdig«, beschwerte sich Luc. »Und ich mache super Geschenke.«
Daemon verschränkte die Arme. »Du hast versucht, Kat und mir ein echtes Lama zu schenken, weil du meintest – und mit dieser Ansicht warst du ziemlich allein auf weiter Flur –, dass ein Lama ein super Haustier für ein Baby wäre.«
Was?
Luc lächelte versonnen. »Sie bewachen eine Herde –«
»Ein einzelnes Kind ist keine Herde, Luc«, seufzte Daemon.
»Ein Kind ist das Äquivalent zu einer Herde Lämmer.« Luc legte auch den zweiten Arm um meine Taille und schob die Hände ineinander.
»Kein Kommentar – Moment mal.« Daemons Blick blieb an dem Pult hängen. »Ist das etwa Adams Stoffbanane? Die habe ich schon überall gesucht.«
Aha?
»Ich glaub, du hast Halluzinationen«, sagte Luc. »Hier ist keine Banane.«
Natürlich lag die Banane dort.
»Eigentlich sind wir auch gar nicht in diesem Raum«, redete Luc weiter.
»Was für einen Gefallen sollen wir dir tun?«, fragte ich, griff nach der Banane und warf sie Daemon zu.
Er fing sie. »Ich spreche damit nicht nur Luc an.«
Tu’s nicht , warnte ich Luc, weil ich wusste, dass er im Begriff war, eine sarkastische Bemerkung fallen zu lassen.
Du bist langweilig. Er stützte sein Kinn auf meine Schulter.
»Uns gehen so langsam einige medizinische Artikel aus, deshalb müssen wir früher los als geplant«, erläuterte Daemon. »Da Archer frühestens morgen zurückkommt und Jeremy und die anderen eine andere Paketlieferung begleiten, haben wir im Moment niemanden, der den Job übernehmen könnte.«
»Ich soll also gehen?«, schloss Luc daraus.
»Wir brauchen mehrere.« Daemon schob die Stoffbanane in seine Gesäßtasche. »Und auf eine Übernachtung müssen wir uns auf jeden Fall einstellen. Heute Abend gehts los, und wenn alles gut läuft, sind wir morgen Abend zurück.«
»Wir?« Luc hob das Kinn. »Und so bald?«
»Ja, nicht dass ich mich darum reiße, aber Archer und ich haben den Ort ausgekundschaftet, und da er noch unterwegs ist, kenne nur ich den Weg dorthin. Deshalb werden wir es auch so kurz wie möglich halten. Dawson geht auch mit und wir brauchen mindestens noch zwei weitere Freiwillige.«
»Ich weiß, du willst nur unbedingt Zeit mit mir verbringen, also mach ich dir die Freude und komme mit«, antwortete Luc.
Er grinste. »Ja, genau das ist der Grund.«
»Ich würde ja auch, wenn ich frei wäre«, sagte Hunter. »Aber Sin ist auf dem Weg hierher und könnte jederzeit eintreffen. Vielleicht schon morgen, vielleicht kommt er aber auch erst nächste Woche. Jedenfalls muss ich hier sein, wenn es so weit ist.«
Daemon nickte. »Du musst auf jeden Fall hier sein, wenn er kommt. Wer weiß, in was für Schwierigkeiten er sich sonst bringt.«
»Ich kann mitkommen.« Voller Tatendrang befreite ich mich aus Lucs Griff. »Ich könnte mich endlich mal nützlich machen, bei all dem, was ich hier alles konsumiert habe.«
Verdammt viel nämlich.
Ganz zu schweigen von dem Essen, das ich für Nate abgezweigt hatte.
Verdammt viel nämlich.
»Ich weiß nicht genau, was man dafür können muss, aber ich bin mit der Quelle schon gut vorangekommen und –«
»Ich muss dich gleich hier unterbrechen«, schnitt mir Daemon das Wort ab und bremste meinen Eifer jäh aus, als wäre ich mit Vollkaracho frontal in eine Mauer gebrettert. »Nimms bitte nicht persönlich und ich will jetzt auch nicht wie ein alter Macho klingen, aber es kann haarig werden dort draußen. Immer wieder kommt es vor, dass wir uns mit AAT-Beamten auseinandersetzen müssen, und du hast es zwar hingekriegt, die Sache mit der Trojanerin kontrolliert zu regeln, aber du bist noch im Lernprozess. Wir können nicht riskieren, dass du ein weiteres Gebäude in die Luft jagst.«
Er hatte total recht, dennoch ließ ich die Schultern hängen, weil die Enttäuschung schwer auf mir lastete.
»Und dann ist da noch das Problem, dass man dich vielleicht erkennt.« Zoe klang mitfühlend. »Dein Bild war überall im Zusammenhang mit Syl-, mit dem Mord an deiner Mutter in den Nachrichten.«
Auch das war richtig. Ich hatte nicht vergessen, dass man mir den Mord bequemerweise in die Schuhe geschoben hatte. Ich hatte lediglich versucht, diese unschöne Tatsache zu verdrängen, doch nun wurde ich mit Macht daran erinnert, und es war wie ein Schlag in die Magengrube.
»Ja, ihr habt recht.« Ich lehnte mich gegen das Pult und Luc legte die Hände auf meine Hüften und drückte sie zärtlich. »Ich weiß, dass es nicht persönlich gemeint ist.«
Nur war die Wahrheit manchmal schwerer zu ertragen als etwas persönlich Gemeintes.
Nur sehr wenige wissen, wann sie zurückstecken müssen , flüsterte Lucs Stimme in meinen Gedanken.
Ich holte tief Luft. Ich will doch nur helfen.
Ich weiß. Er ließ die Hand über meinen unteren Rücken gleiten. Und das wirst du auch.
»Ich kanns machen«, bot Zoe jetzt an. »Ich bin in der Vergangenheit auch schon mal mitgegangen.«
»Sehr gut.« Daemon wandte sich Luc zu. »Wir treffen uns heute Abend am Empfangshaus.«
Ich hoffte, dass es diesmal gemäßigter zugehen würde als beim letzten Mal, als sich alle dort versammelt hatten. Gleichzeitig wunderte ich mich, warum Grayson sich nicht gemeldet hatte, wartete aber bis zum Abend, als Luc sich fertig machte, um danach zu fragen.
Ich saß auf dem Bett und sah ihm dabei zu, wie er einen Stapel T-Shirts durchwühlte. Das feuchte Haar fiel ihm ins Gesicht, als er sich vorbeugte, um ein schlichtes schwarzes Shirt herauszunehmen. Außerdem waren Reißverschluss und Knopf an seiner schwarzen Cargohose noch nicht geschlossen. Ich war davon überzeugt, dass entweder Magie oder die Quelle im Spiel sein mussten, dass sie ihm nicht über den Hintern rutschte, denn es widersprach eindeutig dem Gesetz der Schwerkraft.
»Warum hat Grayson sich nicht bereit erklärt, mitzugehen?«, erkundigte ich mich.
Er schüttelte das Shirt aus. »Er wusste, dass er hier gebraucht würde.«
Ich wollte gerade fragen warum, als es mir klar wurde. »Er bleibt hier, um mich zu babysitten.«
»Ich würde es nicht babysitten nennen.« Er richtete sich auf und sah mich an. Kurz schien er zu erstarren, ohne jedoch den Blick abzuwenden. Dann eilte er mit dem Shirt in der Hand auf mich zu, blieb vor mir stehen, legte seine Hände an meine Wangen und suchte – und fand – meine Lippen.
Der Kuss war zärtlich und langsam, die Sorte, die mich in tausend Einzelteile zerlegte. Wenn er mich so liebevoll küsste, vermittelte er mir, was mit Worten nie auszudrücken wäre.
Er presste seine Stirn gegen meine und ich erschauderte, während er die Hände an meinen Seiten hinaufgleiten ließ. »Worüber hatten wir noch gleich geredet?«
Ich musste lachen, denn auch ich musste überlegen. »Dass Grayson mich babysitten soll.«
»Ach ja.« Er küsste mich auf die Schläfe. »Er hat nur ein Auge auf alles.«
»Klingt, als wäre das seine Hauptaufgabe.«
»Seine wichtigste zumindest.«
Ich biss mir auf die Lippe, als er sich mit dem mittlerweile zerknüllten Shirt in der Hand von mir entfernte. Ich spürte einen Stich in der Brust. Luc musste doch wissen, was Grayson empfand. Mich dennoch zu Graysons Hauptaufgabe zu machen kam mir falsch vor.
»Ich weiß.«
Ich blinzelte. »Was?«
Er sah mir tief in die Augen. »Ich weiß .«
Grayson.
Er wollte mir sagen, er wüsste, was Grayson empfand. »Und trotzdem glaubst du, dass es eine gute Idee ist, wenn ausgerechnet er mit mir hierbleibt?«
»Ich weiß, dass es eine gute Idee ist, weil es das ist, was er will.«
»Das ergibt für mich keinen Sinn«, sagte ich, nachdem ich kurz darüber nachgedacht hatte. »Es sei denn, das, was er empfindet, ist reine, selbstlose Liebe, bei der er –«
»Dich beschützen will, weil er weiß, was es bei mir anrichten würde, wenn dir etwas zustieße?«, schnitt er mir das Wort ab.
Ich nickte. »Ich muss zugeben, dass ich … ja, ich könnte nicht so nobel sein.«
»Grayson auch nicht. Wie kommst du nur darauf? So lange ist es noch nicht her, seit er laut darüber nachgedacht hat, wie lange es wohl dauert, bis Leute ersticken. Er ist nicht selbstlos.« Luc grinste. »Du solltest jetzt gerade mal dein Gesicht sehen.«
»Ich weiß, auch ohne mein Gesicht zu sehen, dass es ein einziges dickes fettes Fragezeichen ist«, erwiderte ich. »Aber warum will er dann hierbleiben, wenn er doch nicht so ein Guter ist?«
»Weil Liebe kompliziert sein kann, Evie.«
Argwöhnisch sah ich ihn an. »Das war jetzt unnötig vage.«
»Hör zu. Mach dir wegen Grayson keine Sorgen. Für ihn ist das okay. Wenn ich daran zweifeln würde, bliebe er nicht hier.« Luc zog sich das Shirt über den Kopf. »Es sei denn, du fühlst dich unwohl, wenn er hierbleibt.«
»Nein, das nicht.« Ich rümpfte die Nase. »Meistens kriege ich ja gar nicht mit, dass er da ist.«
»Darin ist er gut.«
»Das ist unheimlich«, murmelte ich.
Grinsend fuhr sich Luc mit der Hand durchs Haar. »Ich muss dir was gestehen.« Luc schloss den Reißverschluss an seiner Hose. »Ich war nahe daran, mich dafür einzusetzen, dass du mitkommst.«
»Echt?«
Er nickte. »Aus ganz egoistischen Gründen. Weil mir die Vorstellung, dich hier zurückzulassen, gar nicht behagt. Nicht weil du nicht auf dich selbst aufpassen könntest oder ich glaube, dass etwas passiert.« Nachdem er auch noch den Hosenknopf geschlossen hatte, sah er mich durch seine dichten Wimpern hindurch an. »Ich würde dich einfach lieber an meiner Seite haben. Ich brauche das.«
»Ich würde auch lieber an deiner Seite sein.«
»Ich weiß.« Er griff nach einem Paar schwarzer Stiefel und ließ sich neben mir nieder. »Aber es wird sich nicht vermeiden lassen, dass die Leute dort draußen uns sehen. Wenn du erkannt wirst und jemand es meldet, ist die Kacke ganz schnell am Dampfen.«
Darüber hatte ich bereits nachgedacht. »Meinst du, hier lässt sich irgendwo Haarfärbemittel auftreiben?«
Er blickte von seinen Stiefeln auf, die er gerade schnürte. »Du willst dir die Haare färben?«
Ich hielt eine Strähne hoch. »Und ich könnte sie mir auch schneiden. Irgendwann muss ich sowieso von hier fort, und wahrscheinlich ist es eine gute Idee, wenn ich mein Aussehen verändere. Haare färben und schneiden macht mich nicht unkenntlich, aber ganz so offensichtlich ist es dann nicht mehr.«
Er musterte mich und dann nickte er. »Ja, das ist schlau. Ich habe keine Ahnung, ob es hier so was gibt. Du könntest Zouhour fragen. Sie hat einen Überblick über den Bestand, aber ich kann unterwegs auch die Augen danach offen halten. Hast du eine bestimmte Farbe im Sinn?«
»Ich weiß nicht.« Ich ließ die Strähne sinken. »Braun wahrscheinlich? Irgendwas Unkompliziertes, das natürlich aussieht. Eigentlich wollte ich schon immer mal rote Haare haben, aber ich habe das ungute Gefühl, dass das beim Selberfärben nur schlecht enden kann.«
»Brünett?« Er schnürte den zweiten Stiefel. »Ich glaube, das gefällt mir.«
Ich grinste.
Er erhob sich. »Du kommst heute Abend zurecht, so ganz allein?«
»Das schaff ich schon.«
»Schaffen vielleicht, aber wahrscheinlich wirst du die ganze Nacht wach liegen und schluchzend ein Shirt von mir an deinen Busen drücken.«
»Wahrscheinlich werde ich so gut schlafen wie schon lange nicht mehr«, entgegnete ich, wenngleich mir die Vorstellung, in dem Haus nachts allein zu sein, ehrlich gesagt nicht ganz geheuer war. Es war seltsam, wie schnell man sich daran gewöhnen konnte.
Er legte eine Hand auf seine Brust und setzte eine betroffene Miene auf. »Ich werde jedenfalls ein Shirt von dir an meine Brust drücken und die ganze Nacht schluchzen.«
Leise lachend schüttelte ich den Kopf. »Die Wahrheit ist wahrscheinlich, dass ich fast die ganze Nacht wach liegen werde, weil ich mir Sorgen um euch mache«, gestand ich. »Ihr seid alle superstark, aber trotzdem kann was passieren. Versprich mir, vorsichtig zu sein.«
»Das bin ich immer, aber ich verspreche es dir trotzdem.« Er strich mir über die Wange und klang jetzt vollkommen ernst. »Nichts wird mich dir je entreißen können, Evie. Nie mehr.«