Die Kinder flohen in alle Richtungen.
Sie verkrochen sich wieder unter die Bänke, alle außer Nate, der an meiner Seite blieb, als ein Mann aus der dunklen Türöffnung trat, aus der Nia und Jamal zuvor gekommen waren.
Er war mir auf Anhieb unsympathisch. Und dafür gab es gute Gründe. Angefangen bei der Tatsache, dass er ein ausgewachsener Mann in den Dreißigern war, vielleicht noch älter, und viel sauberer aussah als sämtliche Kinder. Nicht das kleinste bisschen Schmutz war auf seinen pinkfarbenen Wangen oder der Basecap auf seinem Kopf zu entdecken, und auch das Flanellhemd, aus dem oben ein Stück Unterhemd hervorschaute, befand sich in makellosem Zustand. Außerdem war er nicht annähernd so mager wie die Kinder, was bei mir alle Alarmglocken schrillen ließ. Zumal ich hätte wetten können, dass dieser Mann nicht durch die Gegend lief, um Essen und Vorräte zu besorgen.
Wie um alles in der Welt konnte ein Erwachsener herumsitzen und die Kinder alles herbeischaffen lassen?
»Was in drei Teufels Namen hast du hier verloren?«, fragte er noch einmal und trat Pritschen und Decken aus dem Weg, während er durch den Raum schritt. Er war eindeutig ein Mensch, dessen war ich mir sicher.
»Sie ist die, von der ich Essen bekommen habe, und wir brauchten dringend was für Nias Hand. Da habe ich gedacht –«
Ein Blick des Mannes ließ ihn verstummen. »Dich habe ich nicht gefragt.«
Nate stellte sich vor mich, aber ich zog ihn, ohne nachzudenken, am Shirt zurück, bis er wieder hinter mir stand. »Wer sind Sie?«, fauchte ich zurück und spürte, wie sich die Quelle in meiner Brust regte.
Der Mann fuchtelte wild mit den Armen und ich merkte, wie mehrere Kinder zurückwichen. Einige hoben sogar selbst die Arme über den Kopf, wie um sich zu schützen. Ich musste an die blauen Flecken und aufgesprungenen Lippen denken und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, während er die Augenbrauen hochzog, die unter dem Schirm seiner Basecap verschwanden. »Du fragst mich in meinem Haus, wer ich bin?«
»Ja, das tue ich«, antwortete ich kühl und überlegte, ob ich nicht wenigstens ein bisschen Angst haben sollte – die alte Evie hätte mit Sicherheit Angst gehabt, ich aber empfand nichts als kalte, hämmernde Wut.
»Mein Name ist Morton. Das sind meine Kids und ich weiß genau, wo du herkommst. Wie hast du ihn dazu gebracht, dich mit herzunehmen? Na? Hast du ihm gesagt, du willst helfen? Dass diese Spinner dort oben in der Kommune ihn willkommen heißen würden? All diese Kinder hier?«
Spinner? Kommune?
»Oberflächlich betrachtet mögen diese Kinder ein bisschen ungehobelt erscheinen, aber sie sind nicht dumm. Nicht alle zumindest«, redete er weiter, und die Quelle pulsierte wieder. »Sie wissen, dass sie dir nicht vertrauen können. Ich wette, du hast gelogen, stimmts? Sonst wärst du nicht hier.« Kaum zwei Meter von mir entfernt blieb er stehen. »Ich wette, du hast ihnen erzählt, du wärst ein Mensch?«
Unwillkürlich riss ich die Augen auf und konnte meine Überraschung nicht verbergen. Gleichzeitig entging mir nicht, dass die meisten Kinder unterdessen noch weiter zurückgewichen waren.
Morton grinste verschlagen. »Du glaubst, ich merke es nicht? Oh doch, und ob ich es merke. Du bist ohne sichtbare Waffe gekommen. So blöd ist kein Mensch. Bei diesen Alien-Freaks ist das schon was anderes.«
»Sollte ich denn besser eine Waffe haben?«, fragte ich.
»Du bist ja noch dümmer, als ich dachte.« Er griff nach etwas, was an der anderen Seite des Tisches lehnte – es handelte sich um einen Baseballschläger.
Mein Instinkt übernahm und ich bremste ihn nicht. Die Quelle rauschte durch meine Adern, und als ich die Hand hob, geschah genau das, was ich von ihr wollte. Der Schläger wurde Morton aus der Hand gerissen und landete mit einem lauten Klatschen in meiner. Es schmerzte, aber es gelang mir, ihn festzuhalten.
»Du irrst, Morton«, rief ich. »Ich bin nicht ohne Waffe gekommen.«
Er wich einen Schritt zurück, und als die Kinder erschrocken nach Luft schnappten, kam ich mir gleich gar nicht mehr cool vor. Es nahm mir sofort den Wind aus meinen fantastischen Segeln.
»Was hast du vor?«, fragte Morton. »Mich verprügeln?«
O Mann, wenn mein Verdacht, dass er sich von den Kindern versorgen ließ, stimmte, hätte ich es nur liebend gern getan, aber ich beherrschte mich. Stattdessen legte ich den Schläger auf einen anderen Tisch. »Warum sollte ich das tun?«
Einen Moment lang starrte er mich an. »Ich habe es euch allen gesagt. Jedem Einzelnen von euch.« Er blickte von einem Kind zum nächsten. »Sie können ganz normal aussehen. Auch wie ein harmloses, blondes Mädchen.« Er trat einen weiteren Schritt zurück. »Wir brauchen keine Hilfe von dieser Spezies und wollen sie auch nicht.«
»Ach, bist du denn ein einziges Mal selbst losgegangen, um Essen und sonstige Vorräte zu besorgen, oder hast du lieber die Kinder geschickt?«, fragte ich.
Seine rechte Hand ballte sich zur Faust. »Wie gesagt, wir brauchen und wollen deine Hilfe nicht. Wir wollen dich hier nicht noch mal sehen, und denk bloß nicht auch nur eine Sekunde lang daran, zusammen mit deinen befreundeten Freaks zurückzukommen. Die Mühe kannst du dir sparen. Wir werden nicht mehr hier sein. Ich hoffe, du weißt noch, wie du hier wieder rauskommst«, fügte er dann noch hinzu. »Denn du musst jetzt gehen.«
Ich rührte mich nicht vom Fleck, bis Nate mich überraschenderweise am Arm zog. »Schon okay. Jetzt geh schon.«
Ohne Morton aus den Augen zu lassen, ließ ich mich von Nate fortziehen und kurz bevor ich mich schließlich doch abwendete, sah ich ihn noch einmal schief grinsen. Ich wagte erst wieder zu sprechen, als wir das Gebäude verlassen hatten.
»Wer ist dieser Kerl für euch?«, wollte ich von Nate wissen, als wir die leere Straße erreichten.
»Du hast mich angelogen«, schimpfte er stattdessen. »Du hast behauptet, du bist kein Alien.«
»Ich bin auch kein Alien.« Ich sah ihn an. »Ich bin bloß nicht durch und durch menschlich.«
Verzweifelt hob er die Hände. »Und das macht einen Unterschied?«
»Nein, tut es nicht. Nicht wirklich, weil nichts daran falsch ist, ein Alien zu sein. Nur weil ich nicht hundertprozentig menschlich bin, muss ich deshalb doch kein Teufel oder unglaubwürdig sein oder ein Freak«, erwiderte ich. »Wer ist dieser Kerl für euch?«
Einen Moment lang funkelte er mich böse an, ehe er den Kopf schüttelte und zu dem Gebäude zurückblickte. Jamal und Nia standen davor. »Er ist einer der Erwachsenen, die, du weißt schon, überlebt haben.«
Während sich die beiden anderen näherten, fragte ich: »Es gab nach der Invasion noch mehr Erwachsene?«
»Meine Eltern«, rief Nia und blieb ein Stück von uns entfernt stehen. »Vor ungefähr zwei Jahren wurden sie krank«, berichtete sie, während sie mit dem Ende des Verbands spielte, den Jamal ihr um die Hand gewickelt hatte, »und dann sind sie kurz nacheinander gestorben.«
»Ich hatte noch meine Oma«, sagte Jamal und ich sah, wie er schlucken musste. »Sie ist auch krank geworden, nachdem sie sich in die Hand geschnitten hatte, und ja, sie ist dann nicht wieder gesund geworden.«
Kein Wunder, dass er Nias Wunde so viel Beachtung schenkte.
»Es gab noch ein paar mehr. Einige von ihnen haben wie Morton vorher auf der Straße gelebt«, sagte Nate. »Aber ja, inzwischen sind sie alle tot. Die meisten haben das erste Jahr nicht überstanden.«
Wie günstig für Morton. »Geht er je selbst los, um Essen zu besorgen? Und was ihr sonst noch so braucht?«
Keiner der drei antwortete, was meinen Verdacht bestätigte. Dieser Mann nutzte sie nach Strich und Faden aus. »Hat er irgendjemandem von euch wehgetan?« Ich sah Jamal an. »Hat er dein Auge so übel zugerichtet?«
»Nein«, antwortete Nate. »So ist er nicht.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm glauben sollte. »Was ich jetzt sagen werde, wird euch wahrscheinlich überraschen und wahrscheinlich auch schmerzen, aber es muss gesagt werden. Die Lux können Menschen heilen, alles, was nicht eine innere Ursache hat. Jeder einzelne Lux dort hinter der Mauer – und sie sind keinesfalls fiese Freaks oder so – hätte die Wunde an der Hand deiner Großmutter geheilt, Jamal, und ihr Leben gerettet. Deine Eltern und die anderen?« Mein Blick ging zu Nia und Nate. »Vielleicht wären sie trotzdem krank geworden, aber ich versichere euch, dass sich jemand um sie gekümmert hätte und sie sich dort wesentlich besser hätten erholen können. Ich sage es nur sehr ungern, weil ihr nichts dafür könnt. Außerdem bin ich mir sicher, dass ihr alle während der Invasion schreckliche Dinge erlebt habt, aber die Lux und alle anderen, die dort leben, sind nicht schlecht. Diesen Quatsch redet dieser Kerl euch ein.«
Jamal warf Nate einen nervösen Blick zu, aber Nias Lippen zuckten, während ich fluchte.
»Ihr kennt mich alle nicht. Nicht wirklich, aber glaubt mir, wenn die Lux in der Gemeinschaft euch etwas antun wollten – wenn ich euch etwas antun wollte –, würde niemand von euch hier noch stehen.«
Erschrocken sah Nate mich an. »Ist das eine Drohung?«
»Nein, ich habe euch lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass ich, wenn ich euch etwas antun wollte, es bereits getan hätte. Und wenn ich diesem Mann etwas antun wollte – und dass ich ihn als ›Mann‹ bezeichne, ist noch großzügig von mir –, hätte ich es auch bereits getan. Wenn ich euch nun aber nichts antue und euch vielmehr helfen will, warum um alles in der Welt solltet ihr meinen, dass die anderen nicht genauso denken? Ich würde auf die Knie fallen und euch anflehen, mir zu glauben, dass nicht alle Lux boshafte Körperfresser sind. Genauso wie nicht alle Menschen schlecht sind.« Ich holte tief Luft. »Wir können euch helfen.«
»Es geht uns gut hier«, antwortete Nate.
»Echt?« Argwöhnisch sah ich ihn an.
Die beiden anderen wandten sich ab, Nate aber nickte und ich schluckte eine ganze LKW-Ladung Flüche hinunter. Am liebsten wäre ich sofort wieder in die ehemalige Kirche gerannt, hätte mir sämtliche Kinder geschnappt und wäre mit ihnen abgehauen. Ihre Leben könnten besser sein, auch wenn sie es noch nicht glaubten, aber ich sah an ihrer Reaktion auf die Nachricht, dass ich nicht wirklich ein Mensch war, was mit ihnen los war. Überraschend war, dass die drei dennoch hier draußen standen und mit mir redeten. Wenn sie zu etwas gezwungen worden waren, würde es ein Leben lang dauern, den Schaden wiedergutzumachen. Ich musste ihnen ermöglichen, das selbst zu erkennen, bevor ich mitentscheiden musste, was besser für sie war.
»Ich weiß, du glaubst, alles hier ist schlecht, aber du kannst nicht wieder herkommen und vielleicht sogar noch jemanden mitbringen. Wir brauchen deine Hilfe nicht. Nicht so«, entschied Nate. »Du brauchst es gar nicht zu versuchen, es wäre nur Zeitverschwendung, denn ich bin mir sicher, dass wir heute Abend weg sind.«
»Und was ist, wenn ich wirklich zurückkäme?«, fragte ich provozierend. »Würde er euch dann etwas antun?«
»Ich habe dir doch gesagt, so ist er nicht.« Seine Stimme klang leicht gereizt. »Du hast erlebt, wie die anderen reagiert haben. Sie werden abhauen. Und du hast gesehen, wie jung die meisten von ihnen sind. Das werden sie nicht schaffen.«
Langsam atmete ich aus. »Ich werde nicht zurückkommen, und ich habe euch versprochen, dass ich niemand anderen mit herbringe. Dazu stehe ich, aber ich möchte, dass ihr nach wie vor zu mir kommt, wenn ihr etwas braucht oder wenn ihr euch doch jemals entscheiden solltet, dass ihr es ausprobieren wollt, in der Gemeinschaft zu leben, oder wenn ich euch dabei behilflich sein kann, es zu organisieren. Okay?«
Nia senkte den Kopf, nickte dann aber.
»Ja, gut«, antwortete Jamal.
Ich sah zu Nate. »Was sagst du dazu?«
»Okay«, murmelte er.
»Versprochen?«, hakte ich nach.
Er hob den Blick. »Versprochen.«
Ich hoffte, dass er es ernst meinte.
»Weißt du, wie du hier wieder rausfindest?« Als ich bejahte, fügte er hinzu: »Du solltest zusehen, dass du wegkommst. Die Wachleute werden bald wieder unterwegs sein. Du darfst dich nicht erwischen lassen.«
»Ich weiß, sie werden mich nicht erwischen.« Ich wollte die Kinder nicht mit einem Mann zurücklassen, der sie offensichtlich wie seinen persönlichen Versorgungstrupp behandelte, und zögerte noch einen Moment. »Passt auf euch auf. Ihr alle. Bitte.«
Nach einer weiteren Runde Versprechungen wollte ich mich gerade abwenden, als Jamal mich zurückhielt. »Wenn du nicht wirklich menschlich bist, aber auch keiner von denen, was bist du dann?«
Wie sollte ich auf diese Frage antworten? Da ich es nicht wusste, sagte ich nur: »Ich bin einfach Evie.«
Danach machte ich mich auf den Weg und sprintete die Straße entlang, die aus der Stadt herausführte, zwischen den beiden dunklen, hohen Wolkenkratzern hindurch. Währenddessen versuchte ich nicht darüber nachzudenken, wie still und leer alles war. Kurz vor dem Ausgang nahm ich einen Lux wahr.
»Shit«, murmelte ich und sprang hinter den nächsten Busch. Das Gefühl verstärkte sich, und unwillkürlich spannten sich meine Muskeln an. Ich konnte schnell sein – wahrscheinlich schneller, als ein Lux gucken konnte. Ich konnte –
Das allzu nahe Knirschen von Kies unter Stiefeln ließ mich ruckartig aufblicken.
Grayson starrte von oben auf mich herab. Sein Gesicht sah im fahlsilbernen Mondlicht auffallend ausdruckslos aus.
»Shit«, wiederholte ich, während ich mich langsam hochrappelte. Ehrlich gesagt war ich nicht allzu überrascht, ihn zu sehen. Immerhin sollte er auf mich aufpassen. »Ich habe dich gerade erst wahrgenommen.«
»Das liegt daran, dass ich mich weit genug von dir entfernt gehalten habe, dass du mich erst wahrgenommen hast, als ich es wollte.«
»Das ist nicht fair«, antwortete ich schmallippig.
»Fair hin oder her, aber willst du wissen, was dumm ist? Dass du mitten in der Nacht mit irgend so einem Typen losrennst –«
»Irgend so ein Typ? Du meinst irgend so ein Kind .«
»In eine Stadt, die du nicht kennst«, fuhr er fort. »Ohne jemandem Bescheid zu sagen, ganz allein.«
»Na, allein war ich ja offensichtlich nicht, wenn ich mit einem Kind unterwegs war und du mir gefolgt bist wie ein Mega-Stalker«, fauchte ich.
Unter seinen halb geschlossenen Lidern blitzte Weiß auf.
»Und ich verstehs ja, du willst mir jetzt eine ordentliche Standpauke erteilen, aber können wir das bitte nicht hier machen? Ich – beziehungsweise jetzt wir – müssen zurück, bevor wir gesehen werden.« Als er anfangen wollte zu diskutieren, hob ich die Hand. »Ich werde alles erklären und werde auch brav sitzen bleiben, wenn du mir nach Herzenslust den Marsch bläst, aber können wir bitte zuerst wieder in die Zone zurückkehren. Jetzt sofort. «
Grayson trat wortlos zur Seite und streckte einen Arm aus.
Ich stakste an ihm vorbei und nachdem ich ihn noch einmal kurz angesehen hatte, spurtete ich wieder los und wurde immer schneller. Grayson blieb dicht hinter mir, während ich auf die schützenden Bäume zusprintete. Selbst als wir das Loch im Zaun – und damit die Gemeinschaft – erreichten, wurde ich nicht langsamer. Erst als die Häuser in Sicht kamen, bremste ich ab.
Selbst überrascht von meinem Tempo, strich ich mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht, als ich in die Straße einbog, in der Eaton lebte.
Grayson hielt mich am Rucksack fest, damit ich stehen blieb. »Es ist höchste Zeit, dass ich dir jetzt endlich so richtig den Marsch blase.«
Ich befreite mich aus seinem Griff und sah ihn an. »Aber bevor du das machst, lass mich dir erklären, warum ich dort war.«
»Ich glaube nicht, dass das der Deal war.«
»Weil wir nämlich gar keinen Deal geschlossen haben.« Bevor er noch etwas sagen konnte, berichtete ich so kurz zusammengefasst wie möglich von Nate und den Kindern. Ich erwähnte sogar, dass Luc über Nate Bescheid wusste. »Du darfst niemandem etwas davon sagen, höchstens Luc«, sagte ich zum Schluss. »Wenn wir uns da einmischen, fliehen die Kids und dieser Typ, den ich gesehen habe –«
»Wenn ich da kurz reingrätschen darf«, Grayson trat einen Schritt vor. »Diese Kids, irgendein Typ, den ich nicht kenne, und ihr Hunger, ihre Kratzer und blauen Flecken sind mir ehrlich scheißegal.«
Entgeistert öffnete ich den Mund.
»Nicht egal dagegen ist mir, ob du am Leben bleibst«, sagte er und mein Mund klappte wieder zu. »Was nach wie vor ein Fulltime-Job ist, weil nur du so unglaublich –«
»Wenn du jetzt ›dumm‹ sagst, haben wir ein Problem«, warnte ich ihn.
»Gedankenlos bist«, brummte er. »Du willst allen verlorenen Kindern auf der Welt helfen. Super. Aber deshalb rennt man doch nicht einfach weg, ohne jemandem Bescheid zu geben.«
Während ich kurz darüber nachdachte, dass er nicht ganz unrecht hatte, gewann der Ärger schnell wieder die Oberhand. »Ich muss niemandem sagen, was ich tue. Du bist nicht mein Wachhund, Grayson. Nicht mal Luc, aber du erst recht nicht.«
»Wie gesagt, gedankenlos.«
»Gedankenlos?« Wütend funkelte ich ihn an und hätte ihm gern mit meinem Rucksack eins übergebraten. »Ich versuche Kindern zu helfen.«
»Hast du eigentlich eine Ahnung, was Luc tun würde, wenn dir etwas zustieße? Noch mal etwas zustieße?«, fragte er. »Was es für ihn bedeuten würde? Und für alle, mit denen er zu tun hat?«
»Ich weiß –«
»Nicht wirklich, befürchte ich«, fiel er mir ins Wort, und einmal mehr blitzten seine Pupillen wie Diamanten. »Sonst hättest du einen Moment innegehalten und darüber nachgedacht, dass dies eine Falle sein könnte. Dass man dich irgendwohin oder zu jemandem führen wollte, der die Kassiopeia-Welle hat. Dass du auch auf hundert andere Arten außer Gefecht gesetzt werden könntest. Du bist hier nicht hundertprozentig sicher. Niemand ist das, doch du bist einfach losgezogen, ohne auch nur einen Moment lang zu überlegen.« Er war noch näher an mich herangetreten und ich spürte die Hitze, die er vor Zorn verströmte. »Hast du vergessen, dass ich dich im Auge behalte? Oder hast du dich gerade deshalb sicher genug gefühlt?«
»Ich habe es nicht vergessen.« Ich blickte zu ihm auf. »Ich hätte nur nicht gedacht, dass du die ganze Zeit rumsitzen und mich stalken würdest.«
»Vielleicht solltest du anfangen, ein bisschen mehr zu denken«, giftete er.
»Und du könntest vielleicht ein bisschen weniger eklig sein?«, fauchte ich zurück und ballte die Hände zu Fäusten. »Und warum hast du eigentlich nicht eingegriffen? Wenn du dir solche Sorgen gemacht hast, dass ich in eine Falle rennen könnte, warum hast du mich dann ziehen lassen?«
»Ich wollte sehen, was du tust.«
»O ja, das ergibt Sinn.« Ich lachte. »Vielleicht hast du gehofft, es wäre eine Falle.«
Derart bestürzt hatte ich ihn noch nie erlebt. Es war ihm nur kurz anzumerken, aber für einen Moment war er wie vor den Kopf gestoßen. Dann wurde sein Kiefer hart und die funkelnden Augen verengten sich. »Du magst mich hassen, Nadia . Und vielleicht glaubst du, dass auch ich dich hasse. Beides würde ich dir nicht ankreiden, aber unterstelle mir niemals , dass ich so etwas zulassen würde.«
Mit pochendem Herzen trat ich unwillkürlich einen Schritt zurück.
Grayson legte den Kopf in den Nacken. »Glaubst du wirklich auch nur eine Sekunde, dass Luc mir nichts von diesem Kind gesagt hat?«
Mein Mund klappte auf.
»Dass ich nicht mitbekommen habe, wie du ihm in der Nacht, als ich draußen vor eurer Tür war, Essen rausgestellt hast?«, fuhr er fort. »Es gibt nicht viel, was Luc nicht mit mir teilt. Er vertraut mir, selbst wenn es um dich geht. Ich würde ihn niemals enttäuschen oder –« Er sprach nicht weiter und holte mühsam Luft. »Geh nach Hause, Evie. Geh einfach nach Hause. Bitte.«
Zu vielen anderen Gelegenheiten hätte ich mich schlicht geweigert, aber mein Instinkt sagte mir, dass ich mich jetzt fügen sollte. Vor allem beunruhigte mich, dass Grayson »bitte« gesagt hatte.