Kapitel 33

Am nächsten Morgen beobachtete ich die Engelsfiguren, die ich in einem der Schlafzimmer gefunden hatte, wie sie über den Wohnzimmertisch hüpften, als würden sie Hürden laufen.

Das war keineswegs ein Zeitvertreib, weil mir langweilig war. Ich übte mit der Quelle, damit ich mich nicht wegen Luc und Zoe, Daemon und Dawson, der Kinder und dieses Kerls verrückt machen musste.

Oder darüber nachdenken musste, was Grayson zu mir gesagt hatte. Das hatte ich lange genug getan, als ich die halbe Nacht wach gelegen hatte. Mich nervte, dass er recht hatte. Ich wusste sehr wohl, dass es ein Risiko war. Allerdings war ich bereit, es einzugehen, und vielleicht … vielleicht hatte mich das gedankenlos werden lassen oder zumindest leichtsinnig.

Ich fluchte, weil eine der Figuren umzufallen drohte. Ich hatte keine Ahnung warum, aber leichte Gegenstände mithilfe der Quelle zu bewegen, war deutlich schwieriger als schwere. Gerade war die Wasserschildkröte mit den Flügeln über den geflügelten Hasen hinweggesegelt, als mich das Klopfen an der Tür aufschreckte. Die Figuren verloren an Höhe, aber es gelang mir, sie abzubremsen, bevor sie auf der Tischplatte aufschlugen.

Schnell sprang ich vom Sofa und hastete zur Tür. Da ich nichts gespürt hatte, musste wohl ein Mensch davor stehen. Ich fragte mich, ob es Nate sein konnte. Würde er am helllichten Tag einfach so an meine Tür klopfen?

Vor mir stand Viv Hemenway, die ich seit dem Drama im Empfangshaus nicht mehr gesehen hatte. Sofort wurde mir flau im Magen. »Ist alles in Ordnung?«

»Wieso?« Fragend sah sie mich an, schien dann aber zu verstehen. »Ja, natürlich. Glaube ich zumindest. Ich habe nichts Gegenteiliges gehört.«

Ich entspannte. Ein wenig.

»Ich bin eigentlich vorbeigekommen, um zu fragen, ob du mir heute assistieren würdest?«, sagte Viv dann zu meiner Überraschung. »Auch wenn es gut möglich ist, dass es nicht viel zu tun gibt und wir den Großteil des Tages nur rumsitzen und vielleicht nur den einen oder anderen kleinen Kratzer behandeln, aber bei Spencer neulich, das hast du wirklich gut gemacht. Du bist ruhig geblieben und warst eine große Hilfe. Deshalb dachte ich, du hättest vielleicht Lust, mir ein bisschen zur Hand zu gehen.«

»Ja, klar«, sagte ich, »total gern, das wäre supercool.« Ich fühlte mich ziemlich geschmeichelt.

Viv grinste. »Wunderbar, dann lass uns gleich starten. Ich habe den Buggy dabei, damit sind wir schnell da.«

»Prima, ich hole nur eben meine Schuhe.«

»Lass dir Zeit.«

Das tat ich nicht. Ich eilte ins Schlafzimmer, schlüpfte in meine Sneakers und schon war ich bereit. Erst auf dem Weg zum Buggy fiel es mir auf einmal wie Schuppen von den Augen.

»Luc«, sagte ich.

»Was ist mit ihm?« Sie schwang sich hinters Lenkrad.

»Es war seine Idee.«

»Das stimmt«, gab sie zu. »Aber als er es aufbrachte, war ich sofort begeistert. Er musste mich kein bisschen überreden. Hätte ich es nicht gewollt, hätte ich keine Skrupel gehabt, ihm das zu sagen.«

Ich glaubte ihr.

»Ich hoffe, du bist jetzt nicht sauer«, sagte sie, als ich auf den Beifahrersitz kletterte.

»Nein, bin ich nicht.« Lächelnd setzte ich mich zurück und auch ohne in den Spiegel zu sehen, war mir klar, dass es ein breites und leicht dümmliches Lächeln war. Er wusste, dass ich mich nützlich machen wollte, und prompt hatte er es organisiert. »Ich bin froh, dass ihm das eingefallen ist.«

»Ich auch.« Viv legte den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Einfahrt. »Ich habe schon einige hier angelernt für den Fall, dass ich Unterstützung brauche. Je mehr Leute sich über die Erste-Hilfe-Grundlagen hinaus auskennen, desto besser.«

»Das Lustige ist, dass ich tatsächlich überlegt hatte Krankenschwester zu werden … vorher schon.« Ich schaute auf die vorbeisausenden Häuser. »Aber ich habe immer gedacht, ich wäre zu labil dafür.«

»Sicher nicht«, widersprach sie entschlossen. »Sonst hättest du es niemals mit einem wie Spencer im selben Raum ausgehalten.« Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und atmete hörbar aus. »So was habe ich noch nie erlebt.«

»Was wahrscheinlich gut ist«, sagte ich, als wir uns dem zugewucherten Park näherten. »Du hast alles getan, um sein Leben zu retten. Du hast nicht versagt.«

»So fühlt es sich aber an.« Sie umfasste das Lenkrad fester. »Aber ich weiß, dass ich alles getan habe, was in meiner Macht stand. Wir alle. Trotzdem ist es einfach ätzend.«

»Ja«, pflichtete ich ihr bei. »Das stimmt.«

Sie lächelte verhalten. »Aber ich sag dir was, ich werde mich nie wieder darüber beschweren, dass mir langweilig ist, das steht fest.«

Grinsend nickte ich, als vor uns der Markt sichtbar wurde. »Oh, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir kurz an der Bücherei anhalten?«, fragte ich. »Ich muss unbedingt herausfinden, ob hier irgendwo Haarfärbemittel zu bekommen ist, und ich habe keine Ahnung, wo ich Zouhour finden kann.«

»Sicher?« Ihr Blick war voller Fragezeichen.

»Ich muss mein Aussehen verändern«, erklärte ich. »Irgendwann muss ich hier schließlich wieder raus und dann dürfen mich die Leute nicht so leicht erkennen.«

»Ah!« Viv lachte. »Im ersten Moment fand ich den Zeitpunkt für ein Umstyling seltsam, aber nun ergibt es Sinn.«

»Kann ich verstehen«, gab ich ihr recht.

Wir hielten vor der ehemaligen Bücherei und nachdem wir dort kurz gewartet hatten, erschien Zouhour mit einem dicken Ordner, in dem alle sich im Lager befindlichen Waren aufgelistet waren. Es stellte sich heraus, dass es einmal Haarfärbemittel gegeben hatte, die unbenutzten Packungen aber weggeworfen worden waren, da sich niemand ein mehrere Jahre altes Produkt auf den Kopf kippen wollte. Auch ich hätte es nicht gewollt.

In der Hoffnung, dass Luc etwas auftreiben würde, dankte ich Zouhour, dann fuhren Viv und ich weiter zu der Ambulanz, die sich hinter dem belebten Markt befand. Sie parkte den Buggy direkt vor dem Eingang und ich folgte ihr hinein.

Durch die Fenster schien so viel Sonnenlicht, dass der Wartebereich hell erleuchtet war. Statt Stühlen standen dort fünf Untersuchungsliegen.

Viv sah meinen irritierten Blick. »Komischer Ort, um Patienten zu behandeln, ich weiß, aber das natürliche Licht hier draußen ist einfach zu gut, um es nicht zu nutzen.« Sie warf die Schlüssel auf einen Tresen. »Die Räume im hinteren Bereich verwende ich nur, wenn die Privatsphäre gewahrt bleiben muss. Bis auf eins haben alle Fenster, durch die etwas Licht in den Raum fällt, und bei Bedarf behelfen wir uns mit Gaslampen.«

Sie bedeutete mir, ihr zu folgen. »Zum Glück haben wir sie noch nicht allzu oft gebraucht. Die meisten Verletzungen kann Daemon behandeln und jetzt auch Luc. Damit sind es schon deutlich weniger Fälle, bei denen ich befürchten muss, dass sie mir über den Kopf wachsen.«

»Sind denn nicht noch mehr Lux hier, die heilen können?«, erkundigte ich mich.

»Einige können kleine Verletzungen behandeln, aber so etwas Gravierendes wie Spencer niemals. Wenn Luc nicht in der Lage war, ihn stabil zu halten, hätte Daemon es auch nicht geschafft.«

»Mir wurde gesagt, alle Lux könnten heilen, allerdings unterschiedlich gut.« Ich folgte ihr durch einen schmalen Gang nach hinten. Die meisten Türen, an denen wir vorbeikamen, waren geschlossen.

»Jep. Sieht so aus, als hätten die begnadetsten Heiler es nicht bis hierher geschafft.«

Das konnte alle möglichen Gründe haben, trotzdem hatte ich das ungute Gefühl, dass Daedalus dabei mehr als nur ein bisschen seine Finger im Spiel hatte. Wer in der Lage war, Fremde zu heilen, war prädestiniert für Mutationen.

»Hier lagert das medizinische Verbrauchsmaterial.« Viv öffnete die Tür zu einem Raum, der früher einmal ein Labor gewesen sein musste. Tageslicht fiel durch die Fenster und verlieh den Metallregalen an den Wänden einen warmen Glanz.

Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen und alles, woran ich denken konnte, war die Oma, die wegen eines beschissenen Schnitts in der Hand gestorben war. Und vor mir stapelten sich Dinge, die ihr das Leben gerettet hätten. Es gab Kartons mit Verbandsmaterial und Latex-Handschuhen, Schachteln mit Zugängen und Infusionsbeuteln, reihenweise Tabletten und diverse medizinische Geräte, außerdem mehrere Erste-Hilfe-Kästen randvoll mit allem, was man zur Wunddesinfektion braucht.

»Einige Dinge sind knapp geworden. Vor allem Inhalatoren. Wir haben hier einige Leute mit ziemlich starkem Asthma und bald haben wir keine –«

Die Glocke über der Tür bimmelte. Offenbar war jemand gekommen.

»Wir sind gleich da!«, rief Viv und sah mich auffordernd an. »Mal sehen, was uns erwartet.«

Was uns erwartete, war ein – menschlicher – Mann und das kleine Mädchen, das unsere Mini-Wonder-Woman Ashley auf dem Spielplatz hatte fliegen lassen. Die Kleine hatte einen nässenden, leuchtend roten Ausschlag am ganzen Körper, der vom Giftefeu stammte, wie sich zur großen Erleichterung des Vaters herausstellte. Sie bekam eine Galmei-Lotion, Antihistamintabletten sowie eine entschiedene Warnung, nicht zu kratzen, mit auf den Weg, was die Kleine hoch und heilig versprach, ehe sie sich im nächsten Augenblick am Arm kratzte, als wollte sie ihn abreißen. Auf dem Weg nach draußen winkte sie und der Vater nickte in meine Richtung, nachdem er mich vorher gar nicht bemerkt zu haben schien.

Anschließend kam ein rührendes älteres Ehepaar. Der Mann machte sich Sorgen um seine Frau. Sie litt unter Schmerzen im Brustbereich und nach einer kurzen Untersuchung, bei der Viv den Puls sowie den Blutdruck maß und ihr einige Fragen stellte, war sie sich ziemlich sicher, dass es nichts Ernstes war. Die Frau musste ihr aber versprechen wiederzukommen, falls sie Atemprobleme bekäme oder ihr übel würde. Auch diese beiden schenkten mir kaum Beachtung, noch nicht mal, als Viv mir zeigte, wie man die Manschette zum Blutdruckmessen richtig anlegte.

Als sie gegangen waren, setzte sich Viv auf den Drehstuhl mit den Rollen und sah den beiden nach, wie sie in Richtung Markt davonschlurften.

»Sie wird vielleicht an Herzversagen sterben«, sagte Viv nach einer Weile.

Der Satz versetzte mir einen Stich. Ich brauchte gar nicht zu fragen. So etwas konnten die Lux nicht heilen. Und Luc auch nicht. »Man kann nichts dagegen tun?«

Niedergeschlagen schüttelte Viv den Kopf. »Nein. Hier nicht. Zum einen haben wir hier nicht die diagnostischen Möglichkeiten, diese Art von Erkrankung überhaupt gesichert festzustellen, und zum anderen kann man nicht blind Medikamente geben, die womöglich mehr schaden als nützen.«

»Das muss schwer sein, zu wissen, dass jemand womöglich ernsthaft krank ist und man doch nichts tun kann.«

»Ein paar Dinge können wir ja zum Glück tun.« Sie drehte den Stuhl herum. »Letztes Jahr vermuteten wir bei jemandem, dass er Krebs hat. Er hatte es vorher schon mal gehabt und alle Symptome deuteten auf Bauchspeicheldrüsen- oder Leberkrebs hin, was wir hier nicht behandeln können. Wir haben ihm dann angeboten, ihn zu einem unserer Außenposten zu bringen. Wir wollten ihm Papiere besorgen und Geld mitgeben. Ohne Versicherung ist es reine Glückssache, aber einen Versuch ist es immerhin wert.«

»Hat er sich darauf eingelassen?«

Viv lächelte verbittert. »Nein. Ich werde es nie vergessen, aber er sagte, eine Behandlung würde nichts ändern und er wolle lieber hierbleiben. Wir können niemanden zwingen, und bei der Bauchspeicheldrüse zeigen sich die Symptome erst deutlich, wenn es meistens schon zu spät ist. Er sollte recht behalten. Weniger als einen Monat später war er tot. Eine Therapie hätte sein Leben vielleicht verlängert, doch diese zusätzlichen Monate wären wahrscheinlich nicht seine besten gewesen.«

Mir wurde schwer ums Herz, aber mir blieb nicht viel Zeit, um zu grübeln. Ein weiterer Patient betrat die Ambulanz. Er drückte ein blutiges Taschentuch auf seine Hand.

Ich erschrak und dachte im ersten Moment, der Typ wäre kurz davor zu verbluten, lernte dann aber, dass Wunden an den Fingern oft stark bluteten und das Ganze mit fünf Stichen genäht werden konnte. Viel mehr als »Hallo« sagte der Kerl nicht zu mir. Das Gleiche galt für den nächsten Mann, dessen Hand wir nähen mussten. Er hatte sich beim Reparieren eines Daches geschnitten. Eine örtliche Betäubung und eine saubere Naht und schon war er wieder draußen. Auf ihn folgten Zahnschmerzen, ein Fall von Verdauungsbeschwerden, Verdacht auf Nierensteine und etwas, was Viv als Magenverstimmung diagnostizierte.

»Woher wusstest du bei diesen Leuten, welche Diagnose du stellen musst?«, platzte ich neugierig heraus. »Nicht dass ich an deiner Kompetenz zweifele, aber Nierensteine? Verdauungsbeschwerden?«

»Ich bin eine Gedankenleserin«, scherzte sie. »Nein, hast du all die Bücher dahinten gesehen? Ich habe jedes diagnostische Handbuch gelesen, das ich in die Finger kriegen konnte, und meistens habe ich richtiggelegen.« Sie rümpfte die Nase. »Nur einmal nicht.«

»Erzähl.«

Sie lachte. »Die Frau klagte über Magenbeschwerden, Erbrechen und Müdigkeit. Ich stellte all die üblichen Fragen. Was haben Sie gegessen? Wann hatten Sie das letzte Mal Ihre Regel? Ist es vor oder nach dem Essen schlimmer? Bla, bla, bla. Nichts wies auf etwas anderes hin als auf Magenprobleme. Einige Wochen später kam sie mit den gleichen Beschwerden wieder, hatte aber ein wenig zugenommen. Ich fragte sie noch einmal nach ihrer Regel, und dieses Mal konnte sie sich angeblich nicht erinnern.«

Ich begann zu grinsen.

»Einmal auf den Teststreifen gepinkelt und es stand fest, dass sie schwanger war.«

Ich lachte. »Ich kann schon nachvollziehen, dass es nicht immer leicht ist, über Monate hinweg den Überblick zu behalten.«

»Die Frau war im fünften Monat schwanger. Wie kann man vergessen, dass man fünf Monate lang seine Regel nicht hatte?«

Ich sah sie mit großen Augen an. »Das stimmt allerdings.«

»Darf ich dich was fragen?«

»Klar.«

»Ist es normal, dass die Leute hier nicht besonders freundlich zu Neuankömmlingen sind?«, fragte ich. »Oder liegt es daran, dass ich ein Haus in die Luft geblasen habe?«

»Oh, hier sind alle grundsätzlich ziemlich misstrauisch.« Sie hob die Augenbrauen. »Das mit dem Haus spielt aber sicher auch eine Rolle. Kannst du es ihnen verdenken?«

»Nein«, antwortete ich lachend.

»Sie werden dich schon noch lieb gewinnen.« Sie tätschelte meinen Arm. »Besonders, wenn du nicht noch mehr Häuser in die Luft bläst.«

»Ich versuche es zu vermeiden.«

»Aber nicht so verbissen daran hängen, dass du am Ende nicht tust, was getan werden muss, wenn es getan werden muss.« Sie erhob sich. »Ich könnte einen Proteinschub brauchen. Und ich habe das perfekte Getränk für dich zum Probieren.«

Eine Viertelstunde später blickte ich auf etwas, was Viv als kleine Mahlzeit für Champions bezeichnete – ein Mix aus rohem Gemüse, irgendeinem Pulver, das noch nicht abgelaufen war, wie sie mir versicherte, und frischer Milch. Es sah aus wie grüner Schleim.

Grüner Schleim, der grünen Schleim erbrochen hatte.

Ich war so kurz davor, ihr von den Kindern in der Stadt zu erzählen, als sie einen riesigen Schluck nahm und dann mir das Glas hinhielt. »Probier mal. Ist gar nicht übel.«

»Ähm, ich glaube, ich verzichte lieber.«

Sie sah mich verschmitzt an. »Du bist also der Typ Alien-Hybrid, der ein Haus in die Luft blasen kann, aber Angst vor einer Vitaminbombe in Form eines Proteinshakes hat.«

Ich nickte.

Sie kniff die Lippen zusammen. »Er ist wirklich ganz lecker. Kat ist ganz begeistert davon.«

»Kat hat auch gerade erst ein Kind gekriegt.«

»Evie.«

Seufzend griff ich nach dem Glas. »Na gut.«

»Sehr gut.« Sie nagte an ihrer Lippe und sah mich dabei an. »Los, mach schon. Du schaffst es.«

Ich hob das Glas und nahm – ohne vorher daran zu riechen – einen kleinen Schluck.

»Trink und glaub dabei, du würdest es mögen.«

»Tu ich doch!«

»Das ist nicht ordentlich trinken. Du musst einen Schluck nehmen, als wäre es der erste Tag der Spring Break.«

Ich schnaubte verächtlich, trank dann aber tatsächlich einen ordentlichen Schluck. Als meine Zunge mit dem dickflüssigen, stückigen Saft in Berührung kam, musste ich würgen.

»Ist gut, oder?«, fragte sie.

Ich wollte sie nicht enttäuschen und zwang mich, das Zeug herunterzuschlucken, musste anschließend aber mehrere Sekunden lang gegen den Brechreiz ankämpfen. Erst als ich sicher war, dass ich ihr nicht auf die Füße kotzen würde, sagte ich: »Es ist, ähm, anders.«

Sie kräuselte die Lippen und nahm mir das Glas aus der Hand. »Du weißt nicht, was gut für dich ist. Aber wahrscheinlich brauchst du auch nicht wirklich Vitamin- und Proteinshakes.«

Ich beobachtete sie, wie sie das halbe Glas, ohne abzusetzen, in einem Zug in sich hineinkippte. »Zum Glück.«

Während sie noch trank, sah sie mich aus den Augenwinkeln an.

»Ich wette, du hattest tolle Spring Breaks«, sagte ich

Sie stellte das Glas ab. »An die meisten kann ich mich nicht erinnern, also sage ich einfach mal Ja.«

Ich blickte aus den Fenstern und nahm auf einmal das bekannte Kribbeln im Nacken wahr. Als ich Grayson sah, spannte sich in mir alles an. Ich hatte den ganzen Tag nichts von ihm bemerkt, aber jetzt war mir klar, dass er in meiner Nähe gewesen war und nur so viel Abstand gewahrt hatte, dass ich ihn nicht spürte.

Ein nicht gerade angenehmes Gefühl.

Ich wusste immer noch nicht so recht, was ich von dem halten sollte, was Luc mir vor seinem Aufbruch gesagt hatte, oder von dem Gespräch mit Grayson gestern Abend. Außerdem fragte ich mich ernsthaft, ob Grayson überhaupt jemals schlief.

»Oh, hallo, hier kommt mein absoluter Liebling«, brummte Viv, als er hereinmarschiert kam, und ich konnte mir das Lachen kaum verkneifen. »Wem oder was verdanken wir die Ehre, dass du uns einen Besuch abstattest, Sir Grayson?«

Grayson musterte sie abschätzig. »Ich bezweifle, dass du dich über meine Besuche freust.«

»Doch, doch«, erwiderte sie und war dabei so überzeugend wie ein Kind, das mit der Hand in der Keksdose erwischt wurde.

Mit seinen stechend blauen Augen blickte er von ihr zu mir. »Es gibt Neuigkeiten.«

Ich setzte mich aufrecht hin. »Und welche?«

»Angeblich ist gerade eine Gruppe eingetroffen. Darunter ist ein weiblicher Mensch mit leuchtend rotem Haar.«

Ich sprang auf und war mir sicher, dass mein Herz einen Schlag aussetzte. »Das ist Heidi! Und Emery?«

»Wenn du nicht zufällig noch ein anderes rothaariges Mädchen kennst, das mich dazu veranlassen würde herzukommen, um dir von ihr zu erzählen, dann wird sie es wohl sein.«

»Wahnsinn.« Ich drehte mich zu Viv um. »Es tut mir leid, aber kann ich –«

»Überhaupt kein Problem. Lauf!« Sie machte eine Handbewegung, als wollte sie mich verscheuchen. »Sieh zu, dass du wegkommst.«

Glücklich und erleichtert wandte ich mich Grayson zu. »Wo sind sie?«

»Im Empfangshaus.«

»Danke.«

Ohne eine Antwort oder irgendeine andere Reaktion abzuwarten, rannte ich aus der Tür und beschleunigte, während ich den Parkplatz überquerte. Ich wusste genau, wohin ich wollte. Ich rannte – mindestens so schnell wie mit Luc. Der Wind blies meinen Zopf nach hinten und zerrte an meiner Kleidung. Ich wusste, dass ich zügig unterwegs war, dennoch nahm ich einen Lux in der Nähe wahr. Grayson folgte mir.

Ich raste durch den Wald, ohne an das letzte Mal zu denken, als ich dort gewesen war. Nach nicht einmal einer Minute kam ich an zwei Stellen vorbei, an denen die Erde noch ein wenig aufgewühlt war, weil ich dort Grayson und Luc in den Boden gesogen hatte.

Ich wurde langsamer, damit ich nicht aus Versehen durch die Wand des Hauses preschte, ehe ich die Stufen hinauf und durch die offene Tür stürmte. Wahrscheinlich hätte ich rufen sollen, denn einfach so in ein Haus hineinzuplatzen war unhöflich, aber ich war abgelenkt, weil mein Herz wie verrückt gegen meinen Brustkorb hämmerte und ich Stimmen hörte – mehrere männliche und auch eine sanftere weibliche.

Ich stürzte ins Esszimmer und kurz fiel mein Blick auf den Tisch, bevor ich ihn schnell wieder abwendete. Er sah vollkommen normal aus. Ein weißes Tischtuch lag darauf und eine morbide Sekunde lang fragte ich mich, ob sie mit Spencers Blut befleckt war.

Ich verdrängte den Gedanken und folgte der Richtung, aus der die Stimmen kamen, in die Küche. Meine extrasensiblen Sinne schlugen an. An der Tür stand ein dunkelhaariger männlicher Lux. Er war von einer Regenbogenaura umgeben, die seine Konturen verschwimmen ließ. Schwach nahm ich wahr, dass auch ein Hybrid im Raum war, aber meine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt dem leuchtend roten Haar.

»Heidi!«, kreischte ich.

Sie wirbelte herum und ein strahlendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Evie! Ich fass es nicht! Evie!«

Ein Nanosekunde später war ich bei ihr. Wirklich, länger dauerte es nicht, aber es war gerade lange genug, um ihren überraschten Blick wahrzunehmen, ehe ich in sie hineinkrachte und die Arme um sie schlang.

»Ich hab mir ja solche Sorgen um dich und Emery gemacht! Das kannst du dir nicht vorstellen! Ich hatte solche Angst, dass euch was passiert ist, und ich hätte nicht gewusst, was ich getan hätte. Moment mal. Wo ist Emery eigentlich?«

»Hier«, hörte ich eine vertraute Stimme und als ich den Kopf hob, sah ich Emery den Raum betreten. Das rabenschwarze Haar hatte sie zurückgebunden. Der Sidecut war schon ein wenig rausgewachsen. Sie winkte.

»Hi!«, schrie ich.

Sie grinste. »Hi, Evie.«

»Ich habe dich auch vermisst«, flüsterte Heidi. »Dich und Zoe und Luc und alle –«

Sie umfasste meine Wangen mit ihren kühlen Händen und betrachtete mich. »Wow, du bist gerade echt schnell gewesen. Superschnell. Ich glaube, ich habe viel verpasst.«

»Ja, stimmt, es ist viel passiert.«

»Moment, was waren das denn eben für Namen?«, fragte einer der Typen hinter uns.

Heidi ließ mich los und schaute zu Emery. »O Mist. Nach so langer Zeit habe ich jetzt doch gepatzt und sie sind mir einfach rausgerutscht.«

»Ich habe deinen Namen gerade laut in die Welt hinausgerufen«, sagte ich zu ihr und blinzelte, weil ich Freudentränen in den Augen hatte. Vor lauter Begeisterung hatte ich vergessen, dass man unterwegs nicht einmal die einfachsten Dinge wie Namen erwähnen sollte.

»Jetzt, wo wir hier sind, ist es okay.« Jeremy erschien hinter Emery und zog sich die Mütze vom Kopf. »Alle dürfen sich vorstellen.«

»Also, was waren das noch mal für Namen?«, hakte der Typ nach und ich drehte mich zu ihm, ohne Heidi loszulassen, als hätte ich Angst, sie könnte verschwinden.

Es war nicht der männliche Lux, der gesprochen hatte. Dafür starrte er viel zu verschreckt den Mann neben sich an – einen Hybrid mit hellbraunem Haar im Surferlook, das ein markantes Gesicht einrahmte. Auf seinen Wangen zeichneten sich feine weiße Narben ab, und auf der Nase war ein wahres Spinnennetz aus hellen Linien zu sehen. Grünbraune Augen suchten meinen Blick, als er plötzlich aschfahl wurde und erschrocken zurückwich.

»Um Himmels willen«, wisperte er.

Ich ließ Heidi los. Im Unterbewusstsein bekam ich noch mit, wie Grayson den Raum betrat. »Du erkennst mich, stimmts?«

»Ach du meine Güte«, stammelte der Hybrid.

Grayson schoss wie ein Blitz an mir vorbei. Im nächsten Augenblick hatte er den Mann bereits am Shirt gepackt. Das Geschirr schepperte, als Grayson den Hybrid gegen den Küchenschrank drückte. Und im nächsten Moment ging der neu angekommene Lux, vom Schein der Quelle umgeben, brüllend auf sie los.

Ohne nachzudenken, rief ich ebenfalls die Quelle auf und stoppte ihn. Sein Körper zuckte, aber seine Füße waren augenblicklich wie am Boden festgeklebt. Es würde ihn nicht davon abhalten, mit der Quelle zuzuschlagen, dennoch hoffte ich, dass er die Warnung verstanden hatte. »Bitte, lass Grayson in Ruhe«, sagte ich und der Lux drehte den Kopf zu mir. Er öffnete den Mund und holte gierig Luft. »Ich will dir nicht wehtun müssen.«

»Ach du grüne Neune«, flüsterte Heidi. »Du bist … Evie, du schillerst am ganzen Körper.«

»Ich weiß.« Ich hielt den Blick auf den Lux gerichtet. »Das ist eins der Dinge, die du verpasst hast.«

»Ich will auch niemandem wehtun«, versicherte der Lux. »Und er auch nicht.«

»Bist du dir sicher?«, fragte ich. »Du leuchtest nämlich wie ein gigantischer Glühwurm.«

»Sorry, das war ein Reflex«, erwiderte er und das Leuchten wurde schwächer, bis es schließlich ganz verschwunden war.

Ich nickte, hielt ihn aber nach wie vor an der Stelle fest.

»Wer bist du?«, wollte Grayson wissen.

Der Hybrid hinter ihm hielt den Blick starr auf mich gerichtet. Mich durchfuhr ein kalter Schauer. Er schluckte. »Ein toter Mann. Ich bin ein toter Mann.«