Ich, Niki de Saint Phalle

Auf meiner rosa Wolke habe ich jede Menge Zeit und kann sein, wie ich bin.

Es war 2002, als ich starb.

Ich, Niki de Saint Phalle.

Künstlerin war ich! Eine berühmte sogar.

Seitdem liege ich auf meiner rosa Wolke und schau euch zu. Ja, auch dir!

Glaubst du nicht? Doch, du liest gerade, ich seh’s genau!

Okay, der Trick war billig.

Aber im Ernst: Jetzt hab ich ja Zeit dafür, euch zuzuschauen, jede Menge Zeit sogar. Und muss mich um mich selbst gar nicht mehr kümmern. Welch ein Genuss! Ich kann einfach sein, nur sein, ganz selbstverständlich. So, wie ich bin, und niemand kritisiert an mir herum. Niemand stellt mir Fragen oder stellt Forderungen an mich.

Wie bitte? Was sagst du?

Ich versteh’ so schlecht – hier ist es so laut geworden in letzter Zeit. Der Flugverkehr nimmt zu, weißt du.

Ob ich dem Typen begegnet bin hier oben, willst du wissen? Dem mit dem langen Bart?

Nö.

Ich sag ja, niemand stellt mir hier blöde Fragen. Höchstens ich mir selbst. Das ist schließlich erlaubt. Das hab ich ja selbst in der Hand. Oder doch nicht?

Na ja, manchmal schießen mir auch Fragen und Gedanken in den Kopf, die ich da nicht haben will. Kennst du auch, oder?

Und manchmal, da ist mein Kopf ganz leer. Dann fühl ich auch nichts und bin wie tot.

Kunststück, sagst du, ich bin ja schließlich auch tot?

Stimmt.

Ja.

Aber vorher, also früher, da war ich nicht tot – zumindest wenn man damit meint, was man so landläufig darunter versteht. Trotzdem hab ich mich manchmal so gefühlt. Leer. Öde. Weiß. Nicht bunt. Ein Teil von mir war nicht greifbar für mich, den hab ich nicht gespürt, und ich wusste nicht warum. Auf eine merkwürdige Weise war ich zerteilt. Teil-tot sozusagen. Obwohl ich da noch lebte – zumindest wenn man damit meint, was man so landläufig darunter versteht …

Einmal, als ich 22 Jahre alt war, da war’s so schlimm, dass ich in die Klapsmühle musste. Kannst du dir das vorstellen? Das passiert ja nicht so vielen. Um genau zu sein, ungefähr 11 Millionen Menschen von 62 Millionen in Frankreich.

Ich nehm jetzt das Beispiel Frankreich, weil ich damals dort gelebt habe. Meine Familie kommt daher, weißt du, jedenfalls ein Teil davon. Ich könnte auch Amerika nehmen, dort bin ich nämlich aufgewachsen als Kind, in New York. Aus Amerika kommt der andere Teil meiner Familie.

Ja, und in den USA, da sind etwa 77 von 311 Millionen Leute in der Klapse.

Jetzt kann man da direkt vergleichen, also wo leben mehr Verrückte? Prozentual gerechnet, natürlich. Na ja, sind ja doch gar nicht so wenig, wer hätte das gedacht. That’s crazy! C’est fou! Die Welt ist doch ganz schön verrückt, oder? So gesehen, bin ich dann ja schon wieder normal! Übrigens gibt’s noch andere berühmte Künstler, die verrückt geworden sind. Vincent van Gogh, zum Beispiel. Das ist der mit den Sonnenblumenbildern. Der hat sich selbst ein Ohr abgeschnitten! Oder Camille Claudel. Sie war Bildhauerin und eine gute noch dazu. Genauso gut wie Auguste Rodin, mit dem sie zusammen war, aber berühmt geworden ist nur er. Sie war bettelarm. Ihr Bruder hat sie dann in der Irrenanstalt versauern lassen. Also, das ist doch erst krank, oder?

 

 

 

 

So schlimm war’s bei mir zum Glück nicht. Ich hatte meinen Mann, den Harry, der zu mir gehalten hat. Und meine Tochter Laura. Gott, wie hab ich sie vermisst, als ich dort in der Klinik war!

»Fünf Jahre wird sie sicher hier drin sein«, sagte der Arzt. Das war die Prognose. »Sie ist schwer krank.«

Ich hab dann Elektroschocks bekommen. Gott sei Dank unter Narkose.

Dann hab ich angefangen zu malen, und – schwupp – schnurrten die fünf prognostizierten Jahre auf sechs tatsächliche Wochen zusammen.

So war’s bei mir umgekehrt als bei van Gogh und Claudel: Sie haben erst gemalt und gebildhauert und sind dann ausgetickt. Ich bin erst ausgetickt und hab dann gemalt. Das hat mich gerettet. Und dann hab ich gebildhauert.

So kennst du mich doch, oder? Beziehungsweise meine Kunst. Bunt, bunter, am buntesten!

So, wie das Leben eben ist, wenn man es beim Schopfe packt. Right?

 

Bild 1

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Die Schlange, eine von Nikis kunterbunten Skulpturen am Strawinsky-Brunnen in Paris. Dahinter siehst du die schwarzen technischen Maschinenplastiken von Nikis Lebensgefährten Jean Tinguely.