Am Anfang war ich ein Ei, wie alle anderen auch, zusammen mit ihnen hing ich da im Klumpen.
Wieder ist ein Monat vorbei, und es vollzieht sich »the same procedure as every time«…
»Du bist dran!« »Was ich?« »Nee du!« »Du!«
»Okay, bevor ihr hier noch länger alle rumzickt, geh ich«, sage ich, nehme meinen ganzen Mut zusammen und – springe! »Geile Rutsche!«, denke ich noch. »Warm, weich und ein bisschen schlüpfrig, aber cooool … !«
Doch schon muss ich den Kopf einziehen, ein ganzer Schwarm Mini-Kaulquappen kommt direkt auf mich zu. Einer saust volle Kanne so in mich hinein, dass ich – Boing! – erst mal ausgeknockt bin. »Was für ein Zufall«, denke ich noch, bevor ich das Bewusstsein verliere. »War das nun der Schnellste? Schönste?« In all der Eile habe ich gar keine Zeit gehabt, mich umzusehen. »Na ja, auf jeden Fall war’s der Treffsicherste.«
Als ich wieder zu mir komme, bin ich schon nicht mehr ich, sondern ich und er, dann verdoppelt und dann ganz viele und immer mehr! Hilfe, was passiert mit mir?!
Wir/ich sitzen irgendwo, wo’s jedenfalls warm, weich und ein bisschen schlüpfrig ist. Das kenne ich ja schon, und so fange ich langsam an, mich zu entspannen. Gar nicht so übel hier. »Nein, sogar wunderschön!«, denke ich zufrieden und beginne, mich nun voll und ganz auf mich zu konzentrieren. Denn ich merke, dass etwas Wunderbares mit mir passiert: Ich wachse! Ich habe begonnen zu leben!
Bumm-bumm, spüre ich schon mein Herz. Stundenlang bin ich nur da und lausche seinem Ton. Mamas Herz schlägt noch dazu, und so hab ich hier manchmal einen richtig coolen Stereo-Beat! Dann tobe ich, tanze und schlag Purzelbäume! Nur diese blöde Schnur stört immer. Mist, schon wieder Kabelsalat! Aber jetzt muss ich erstmal ’ne Runde pennen.
Am liebsten schlafe ich, wenn’s draußen hell ist. Dann schaukelt Mama immer so herrlich. Aber jetzt grad nicht, was ist hier los? Oh nein, sie hat sich hingelegt! Hej, das ist ungerecht, doch nicht mitten am Tag. Unwillig blinzele ich unter meinen Augenlidern hervor, um sie im nächsten Moment überrascht aufzureißen: Was für eine Farbe! Alles um mich herum sehe ich in hellem, warmem Orange strahlen – das Wasser hier, ja, auch mich selbst, meine Finger, meine Zehen! Am allerschönsten leuchtet meine runde, weiche Höhlenwand, mein Zuhause.
»John, chéri, sei so gut und gib mir doch bitte mal die Decke rüber, mir ist kalt«, bittet Jeanne Jacqueline, Nikis Mutter, ihren kleinen, knapp zweieinhalbjährigen Sohn. Sie hat sich draußen in die Sonne gelegt und lässt sie sich auf ihren Bauch scheinen, doch jetzt im Spätsommer ist es schon ein bisschen frisch. Stolz, der Mama helfen zu können, stapft der Kleine zu ihr hin, zieht die schwere Decke hinter sich her und schiebt sie konzentriert auf Mamas großen Bauch.
»Oh, schade, nun ist das Leuchten wieder weg!« Mit ihren Händen streicht Niki an der Höhlenwand entlang, als wolle sie das letzte Schimmern grad noch einfangen.
»Schau mal, John, schnell, das Baby bewegt sich«, sagt die Mutter da zu ihrem Sohn und legt seine kleine Hand auf ihre Bauchdecke, dorthin, wo sie sich gerade nach außen beult. Der Junge klatscht aufgeregt darauf herum: »Hallo, Baby, bist du da?«
»Klar bin ich hier, Blödmann, wo soll ich sonst sein? Mach nicht so’n Krach«, denkt Niki frech und stößt zur Bekräftigung ihren Fuß gegen die Wand.
»Mama, es hat mich gepufft!«
So langsam ist Niki neugierig auf ihren Bruder, den sie die ganze Zeit schon hören kann. Zu gern wüsste sie auch, wie er aussieht. Sie kennt schon die Stimme ihres Vaters, die von Mama ja sowieso. Sie hat eine so musikalische Stimme, findet Niki. Dass Jeanne auch sehr anmutig anzuschauen ist, weiß Niki jetzt noch nicht – geschweige denn, dass sie selbst die Schönheit ihrer Mutter einmal erben wird.
Noch interessiert sie das auch nicht weiter, sondern sie genießt erst mal die Harmonie der Stunde und schlummert. Nicht immer nämlich ist alles so friedlich wie jetzt. Furchtbar streiten die beiden manchmal, Mama und Daddy. Dann wird Mamas Bauch hart, und für Niki wird’s in ihrer Höhle eng.
»Hört auf«, schreit sie dann lautlos, »ich werde zerdrückt!« Zur Beruhigung schiebt sie schnell den Daumen zwischen die Lippen, bemerkt dabei, dass das Wasser ringsum ganz salzig wird.
»Ich schmecke deine Tränen, Mama.«
Denn während Niki im Bauch wächst und wächst, geht André, der Vater, fremd. Vielleicht braucht er die Selbstbestätigung? Oder muss er Dampf ablassen, weil er Sorgen hat?
Kein Jahr ist es nämlich her, dass er eine Menge Geld verloren hat. Beim großen Börsencrash von 1929 in New York, der die Weltwirtschaftskrise einleitete, ging alles verloren. Und nun? André ist selbst erst 24 Jahre alt und trägt schon die Verantwortung für seine kleine, jetzt auch noch wachsende Familie.
Die Heirat war aber absolut geplant. Um nicht zu sagen: durchkalkuliert. Da war André 21 und Jeanne Jacqueline 19.
Uralt-Niki gerät auf ihrer watteweichen rosa Wolke regelrecht in Rage, während sie davon erzählt: Also, das hatte mein Onkel Alexander in die Hand genommen. Für Vater waren seine Brüder sehr wichtig, er hatte sechs davon (und noch eine Schwester), die allesamt älter waren als er. Einige Brüder waren schon von Frankreich, wo sie alle aufgewachsen sind, nach New York gegangen und hatten dort eine Bank gegründet. Daddy war der Letzte, der einstieg. Zusammen waren sie ein Super-Team und durch geschickten Aktienhandel REICH geworden. Warum also sollte Daddy Onkel Alexander nicht vertrauen, als der ihn überredete, Mutter zu heiraten?
Die Brautschau hatte Onkel Alexander so betrieben: Er stellte erst mal eine Liste mit Kriterien auf, die er für eine Ehefrau für wichtig hielt: Geld, Aussehen, Charme, gesellschaftlichen Umgang und so. Dazu schrieb er die infrage kommenden Kandidatinnen und verteilte die Punkte. Mama heimste die meisten ein.
Hurra!
Sollte sie daraufnun stolz sein?, frage ich dich. Irgendwie schon, ja. Aber Liebe war das nicht.
Mama fuhr natürlich auf den Adelstitel ab: »de Saint Phalle« – »vom heiligen Phallus«! Dieser Name war – einfach einzigartig, vielversprechend in jeder Hinsicht, geheimnisvoll, verführerisch und so alt wie die Kreuzritter alt waren.
Cool, kann ich da nur sagen.
Aber die Menschen? Also Mama und Daddy?
Die passten leider nicht wirklich zusammen.
Welche Enttäuschung!
Ich klemm hier schon kopfüber und kann mich kaum mehr rühren, so eng ist es geworden. Langsam wird’s Zeit, dass ich hier mal rauskomme. Wo ist nur der Ausgang? Hoffentlich geht das gut!
Ja, es geht gut, obwohl Niki, die kleine Wilde, bei der Geburt die Nabelschnur zweimal um den Hals gewickelt hat. Es ist der 29. Oktober 1930 in Neuilly-sur-Seine, bei Paris. Sie wird getauft auf den Namen Cathérine Marie-Agnès.
Doch dann, Cathérine ist erst drei Monate alt, lässt die Mutter ihre Tochter bei ihren Schwiegereltern auf Schloss Huez zurück. Sie nimmt John an der Hand und fährt mit ihm über den Ozean zu ihrem Mann nach New York.
Cathérine hat doch gerade erst gelernt zu lächeln! Kurz noch schwebt Mutters Duft im Raum und gaukelt dem Kind Gegenwärtigkeit vor. Dann hat auch er sich verflüchtigt. »Mama!« kann Cathérine noch nicht einmal schreien. Sich noch nicht auf den Bauch drehen, sich nicht hinsetzen. Ja, sie kann ja noch nicht einmal alleine rülpsen! Gibt es dort nun jemanden, der ihr bei all dem behilflich ist?
Der exzentrische Großvater vielleicht, der Rennpferde züchtet und seine Kinder bei Tisch mit der Peitsche zu bändigen pflegte? Oder die Großmutter?
Eine Kinderfrau?
Es ist ein großes Schloss, in dem die kleine Cathérine dort nun bald herumstapft. Es gibt Pferde, Esel, viel Platz, viele Bedienstete, … Und doch fehlt ihr das wichtigste: »Mama!«
Heimlich wischt Uralt-Niki sich auf ihrer rosa Wolke eine Träne aus dem Augenwinkel und lächelt.
Ja, so war das. Kein so schönes Debüt auf dieser Welt, oder?