In Amerika erhält die kleine Cathérine den Kosenamen Niki. Sie genießt New York, bekommt aber schon bald Schulstress mit Klosterschwestern.
Die Saint-Phalle-Brüder versuchen nach dem verheerenden Börsenkrach von 1929 in New York, von ihrem Unternehmen zu retten, was zu retten ist. André findet einen neuen Job als Börsenhändler und Jeanne arbeitet als Rundfunksprecherin. Dennoch können sich die beiden ihre schöne Wohnung in Manhattan nicht mehr leisten und ziehen nach Greenwich vor die Tore New Yorks. Da holen sie endlich auch die nun dreijährige Cathérine zu sich. Sie bekommt ein knallrotes Auto geschenkt, mit dem sie über die Plattenwege brettert.
»Lass mich auch mal!«, fordert ihr großer Bruder John. Der kann sich noch gar nicht daran gewöhnen, nun plötzlich nicht mehr der Einzige zu sein, und verteidigt erbittert seine Rechte.
»Nein! Meins!«, schreit Cathérine sofort und klammert sich fest an das Auto, ihren einzigen Schatz.
»You bitch (räudige Hündin)!«, höhnt John und trollt sich davon, während Cathérine mit den Tränen kämpft. »Non, je ne pleurais pas (Nein, ich werde nicht weinen)«, denkt sie inständig und presst ihre Lippen zusammen, deren Mundwinkel unweigerlich nach unten ziehen.
John weiß genau, dass Cathérine es hasst, wenn er Englisch redet, weil sie das noch nicht versteht. »Warum musste die blöde Kuh auch zu uns kommen?«, murmelt er bitter und stapft hinters
Haus zum Gartenteich. Er schaut gern dem Goldfisch zu, der dort bedächtig seine Runden zieht. Das beruhigt ihn. Denn ganz so wohl ist ihm nicht in seiner Haut. Soll sie ihm einfach nicht mehr zu nahe kommen!
Es dauert eine Weile, bis Cathérine sich bei ihrer Familie einlebt. Irgendwann, als ihre kleine Tochter etwa vier Jahre alt ist, erfindet Jeanne für sie den Kosenamen »Niki«.
Uralt-Niki: Ich liebte diesen Namen, Mutter. Später erfuhr ich, dass es der Name der Siegesgöttin ist.
Mir gefällt’s jetzt hier in Greenwich. Trotzdem ziehen wir nach New York, in die große Stadt. Mama kann sich dort um Daddys Kunden besser kümmern und sie mit ihren Dinner-Partys verwöhnen. Ich bin aber erst sechs Jahre alt, und deshalb darf ich hier nun nicht mehr alleine unterwegs sein.
Aber der große Central Park ist ganz in der Nähe. Dort gibt es viele Eichhörnchen. Sie sind so flink und haben viel Spaß, wenn sie sich gegenseitig jagen. Ist es nicht erstaunlich, dass sie kopfüber den Baumstamm hinunterflitzen können, ohne abzurutschen?
Die Schule, auf die ich jetzt gehe, ist die Klosterschule des Convent of the Sacred Heart. Sie liegt direkt am Park. Das ist aber auch schon das Beste an ihr. Ich hab einfach keine Lust, lesen zu lernen! Daddy fragt mich, was ich mir dafür wünsche, dass ich es lerne. Keine Frage, einen Kanarienvogel natürlich!
Ach, und noch was: Meine kleine Schwester Claire ist geboren. Ich hatte extra für sie ein Kleid genäht, aber dann war sie zu groß. Das war Absicht von ihr! Deshalb habe ich beschlossen, sie nicht zu mögen.
HURRA, ich kann es kaum erwarten, bis der Sommer wieder kommt! Dann fahren wir nach Frankreich – und zwar dieses Jahr zum ersten Mal mit der »Normandie«!
»Mit der ›Normandie‹, der ›Normandi-ie‹ fahren wir!«, singt John die ganze Zeit und hüpft dabei durch die Wohnung. Ich hinterher: »Mit dem schnellsten, schne-hellsten Überseedampfer der Welt! Dem ulti-, ultimati-hiven Luxuskahn!«
Dann – die Koffer sind in der Kabine – stehen wir endlich auf dem großen Schiff. Es fängt an zu zittern, es geht los! Langsam schwebt die Kaimauer weg. Daddy sagt, Schlepper müssen unseren Riesendampfer durch den Hafen zum offenen Ozean ziehen. Ich passe auf, dass wir ja nirgends anstoßen! Adieu New York! Frankreich, wir kommen! Vier herrliche Tage auf diesem schwimmenden Märchenschloss erwarten uns.
Ich freu mich auch schon auf Schloss Fillerval und Großmutter und Großvater Harper. Mama und Papa parken uns Kinder dort und reisen herum. Wir haben nichts dagegen, denn in Fillerval ist es herrlich.
Großvater nimmt uns mit in seine Gewächshäuser. Dort baut er Mais an. Den serviert er nachher seinen Gästen. Großmutter ist das immer furchtbar peinlich, denn Mais fressen eigentlich nur die Schweine. Aber er schmeckt ja! John und ich grunzen und quieken bei Tisch wie die Ferkel. Doch Großvater lacht nur darüber.
Übrigens – nicht nur Daddys Eltern, auch Mamas Eltern sind reich. Großvater ist kein Bauer – die Pflanzen sind nur sein Hobby –, sondern Anwalt für wohlhabende Amerikaner in Paris. Großvater selbst ist auch Amerikaner und Großmutter und Mama auch. Wenn Großmutter abends ihre Geschichten von dem magischen Ball für uns erfindet, darf ich auf ihrem Schoß sitzen. Ich finde, man spürt, dass Großvater und Großmutter aus Liebe geheiratet haben.
Im September 1939 bricht der Zweite Weltkrieg aus. Die Großeltern Harper ahnen voraus, was kommt, und ziehen rechtzeitig um nach Princeton in die USA. Das liegt nicht weit weg von New York.
Hitler, Hitler, Hitler. Kein Tag vergeht inzwischen, an dem wir nicht über ihn reden. Er ist bei uns zur »Ausgeburt des Bösen« geworden. Mama und Daddy nehmen uns Kinder mit in Kriegsfilme, die sich über Hitler und Nazideutschland lustig machen. Wir lachen, bis der Bauch weh tut und wir unseren Schrecken übertönen.
In all den Wahnsinn wird meine kleine Schwester Elizabeth hineingeboren. Sie ist lebendig und wild, und ich liebe sie. Ich muss sie beschützen.
Das Haus in der Park Avenue, in dem wir gerade wohnen, liegt gleich um die Ecke vom Central Park. Es wird Tag und Nacht von einem Türsteher bewacht. So können wir sicher sein, dass niemand hereinkommt, der nicht hierher gehört. Ich bin eine »Hierhergehörerin«. »Hierher gehören«, das tun natürlich all unsere Familienmitglieder. Meine Lieblingstante ist Großtante Joy, Großvater Harpers Schwester. Weil sie keine eigene Familie hat, ist sie gern bei uns. Sie hat Mama beim Einrichten unserer Wohnung geholfen.
Und wie elegant sie geworden ist, die Wohnung! Spiegel, Spiegel und nochmals Spiegel hat Mama hier verteilt, die alles groß und verwirrend machen. Manchmal sitze ich da und schaue stundenlang, bis ich fühle, wie die Welt sich auflöst, und ich zu schweben beginne. Ich verwandele mich in einen Vogel, der wegfliegt, weit weg, und dem goldenen Käfig entkommt.
Ab und zu stelle ich mir vor, dass im Central Park Zoo alle Tiere aus ihren Käfigen gelassen werden. Vor den Schlangen hätte ich die größte Angst. Doch solange sie im Terrarium liegen, ist der Grusel herrlich. Immer wieder zieht’s mich zu ihnen hin. Großtante Joy auch. Vielleicht erzählt sie mir deshalb so gerne Märchen, denn auch die eignen sich super zum Fürchten. Uah!
Ich liebe das Geheimnis der Straße. Die Menschen in den Straßen von New York fühlen sich an wie das richtige Leben. Wie wäre die Welt, wenn auch alle Menschen aus ihren Käfigen gelassen würden und frei herumlaufen könnten? Daddy hat heute Nachmittag mit uns im Central Park Blindekuh gespielt. Aber ich war schnell: Er Er konnte mich kein einziges Mal erwischen! Ich klaue ihm Geld und kaufe mir Süßigkeiten. »Mmmh!« Ich gebe auch den Bettlern viel von dem Geld. Das findet Daddy aber, glaube ich, richtig. Er vergisst nur, es selbst zu tun. Darum muss ich es machen.
Und wieder ist der Montagmorgen da. Ich hasse die Schule. Die Schwestern mögen mich nicht, aber ich mag sie auch nicht. Sie sehen alle gleich aus, eingezwängt in ihrem schwarzen Umhang. Manchmal, wenn sich die Schwester über mein Pult beugt, baumelt bedrohlich dicht vor meiner Nase das Kreuz und ich rieche ihren Geruch. Wie die Schwester wohl unter ihrer Kluft aussieht? Unwillkürlich muss ich in mich hineinlachen bei der Vorstellung.
»Cathérine Marie-Agnès, lass dein unverschämtes Grinsen! Wir sind auf Seite 12, lies weiter. Zeile 11!«, krieg ich da zu hören. Ich seufze und lese.
Ich mustere die Rücken meiner Mitschülerinnen. Auch wir sehen alle gleich aus in unseren Schuluniformen. Nur ganz vorn, da da leuchtet etwas: Mary-Ann hat wieder ein rotes Band für besondere Leistungen bekommen. Ein Dorn in meinem Auge! Autsch!
Zu Hause reiße ich mir die Schuluniform, so schnell es geht, runter. Endlich allein! Ich hab jetzt auch ein eigenes Zimmer und bin SUPER HAPPY darüber. So kann ich in aller Ruhe meine Buchstaben malen. Schönschreiben ist mein Lieblingsfach. Aber auf meine Weise. Kringel, Kurven, Kästchen und Punkte wachsen aus den Strichen heraus. Sind sie fertig, lege ich sie in meine geheime, imaginäre magische Box, die außer mir niemand sehen kann. Ich hole sie nur heraus, wenn ich allein bin. Schwupps – schon purzeln bunte Fische, Geister und süß duftende Blumen heraus und erfüllen den Raum. Heute spricht in meiner Box eine Stimme. Ich halte sie an mein Ohr und lausche: »Such dir ein eigenes rotes Band«, sagt sie beschwörend.
Am nächsten Tag gehe ich stolz damit in die Schule. Ich bin auch etwas Besonderes.
»Cathérine Marie-Agnès, geh sofort zur Direktorin!«
»Aha. Tut sie das?«, denke ich. »Tut sie wohl«, seufze ich und stehe auf, um mir meine Strafpredigt abholen zu gehen, während mich meine Mitschülerinnen unverhohlen mustern.