Ich male jeden Tag und SORTIERE mein INNERES CHAOS.
Hier entstehen gerade zwei Frauen. Grün muss diese Frau werden. Wegen Übelkeit? Ekel? Angst? Egal. Grün jedenfalls. Und sie bekommt rote Haare. Wie Feuer wachsen sie aus ihrem Kopf. Genauso rot ist der Boden, auf dem sie steht. Oder schwebt sie? Sie fällt gleich um! Ihre Hände hält sie zu Fäusten geballt vor ihren Bauch.
Die zweite Frau streckt beide Hände nach der anderen aus. In ihren hellen Farbtönen sieht sie sehr gelassen aus. Ruhig sitzt sie da. Und doch schweben die beiden wie in einer Traumwelt.
Tisch und Stuhl müssen noch dazu: etwas Handfestes aus der realen Welt. Upps, etwas schief sind sie geraten.
»Harry, wie malt man perspektivisch richtig?«
Harry bewundert Nikis Lebenswillen, ihren Optimismus und ihren Mut. Angestachelt durch ihr Vorbild, beschließt er jetzt, die Musik aufzugeben und sich ebenfalls dem zuzuwenden, was er im Grunde schon immer machen wollte: Schreiben.
Er zeigt Niki, wie man perspektivisch malt. Aber sie kann es sich nicht merken, sagt sie. Ihr ureigener Blick auf die Dinge drängt sich zu sehr in den Vordergrund. Und mal ehrlich: Würde »Fruits et vin«, wie Niki dieses Bild nennt, nicht auch sehr komisch aussehen mit Möbeln, die perfekt gemalt wären?
»Unperfektes« solcher Art wird in der Kunstwelt mittlerweile akzeptiert. Ein Glück für Niki, dass sie in diese Zeit hineingeboren ist. Vor Jahrzehnten schon haben Künstler begonnen, sich diesen Freiraum zu erkämpfen. Unbeirrbar revolutionierten sie die Maßstäbe, nach denen Kunst beurteilt wird. Sie selbst wurden dafür häufig noch verhöhnt und angefeindet. Doch sie setzten ihre Ziele dagegen:
»Wer sagt denn, dass Kunst schön sein muss?«, so ein Credo.
»Ich male das Unsichtbare!«, ein anderes. (Hoppla, wie das denn?)
»Mich interessiert nur der Rhythmus der Formen und Farben – ohne Bezug zur Wirklichkeit.«
»Ich nehme Versatzstücke aus der Wirklichkeit – Fotos, Gegenstände – und kombiniere sie zu Collagen.«
»Ich finde die tiefe, klare Ausdruckskraft afrikanischer Skulpturen spannend.«
»Ich die von Kindern. Sie trennen noch nicht zwischen dem, was sie sehen, und dem, was sie fühlen.«
»Hast du die Ausstellung gesehen, die Jean Dubuffet letztens organisiert hat? Da hat er nur Bilder von Kindern und Geisteskranken gezeigt. Beeindruckend war das.«
Niki wird daher nicht mehr wie jene angefeindet, bloß weil die Perspektive nicht stimmt, Gesichter unförmig und Menschen plump wirken. Schnell wird für sie aber klar: Ihr persönlicher Weg zur Kunst führt nicht über die Akademie. Sie muss ihren eigenen Impulsen folgen. Der amerikanische Künstler Hugh Weiss will sie dabei unterstützen. Er lebt in Paris. Also geht’s für Harry, Niki und Laura 1954 wieder ab in die Hauptstadt.
Wenn Niki gerade nicht malt, schaut sie sich alles an, was Paris an Kunst zu bieten hat: Jean Dubuffet natürlich. Und die Künstler namens WOLS und Jean Fautrier, die in Aquarell und Öl ihr Unbewusstes auszudrücken versuchen – ungegenständlich, nur durch Farben. Dieser Stil nennt sich Abstrakter Expressionismus. Er ist zurzeit in den meisten Galerien zu finden. Den Louvre, das große, berühmte Museum von Paris, erobert Niki sich gemeinsam mit Harry systematisch.
Niki selbst überlässt sich beim Malen ganz ihrer inneren Stimme. Organisch fügen sich ihre Kompositionen zusammen und ergeben auf wunderbare Weise am Ende einen Sinn. Alle paar Wochen klemmt sie ihre neuesten Werke unter den Arm und trabt damit zu Hugh.
Am Ende dieses Sommers wollen Niki und Harry wieder aufs Land zurück. Sie mieten sich daher in Deià auf Mallorca ein Haus. Herrlich ist das für Laura, denn sie ist hier frei: Stundenlang durchstreift sie das Dorf, kommt manchmal selbst am Abend nicht heim. Sorgen braucht man sich nicht zu machen, denn jeder kennt hier jeden, und alle achten auf die Kinder. Kein Wunder, dass Niki gerade hier noch einmal schwanger wird. Vor der Geburt unternehmen Niki und Harry zusammen mit Laura noch eine Reise quer durch Spanien.
Nie hätte ich gedacht, dass mich der Stierkampf so sehr fasziniert. Fesselndes Grauen! Ich fühle wie damals, als ich als Kind vor den Schlangen stand, während ich Teil des unerbittlichen Rituals auf Leben und Tod werde. In meinem Bauch strampelt mein Baby.
»Was für eine erbärmliche Welt!«, schreien mir Goyas Bilder entgegen. Wir sind in Madrid angekommen, und ich stehe in dem großen Museum hier, dem Prado. Goya malte eindringliche Szenen aus dem Krieg – unerträglich fast durch seinen schwarzen Humor.
Lange betrachte ich den dreiflügeligen Altar »Garten der Lüste« von Hieronymus Bosch mit den Monstern und Dämonen, die sich in der Hölle tummeln.
In Barcelona kommen wir wieder an die Küste – und vor allem in den herrlichen, bunten Parc Güell, den der Architekt Antoni Gaudí am Hang über der Stadt mit Grotten, Höhlen und Terrassen geschaffen hat. So etwas Bezauberndes und Geheimnisvolles habe ich noch nie zuvor gesehen. Nur dasitzen und genießen will ich hier. Weit übers Meer schauen und mich nicht sattsehen können an den Kacheln und den leuchtenden Mosaiken des Parks. Runde, weiche Linien überall, genauso, wie ich sie mag!
Laura hat sich hinter einer der Säulen bei der Grotte versteckt.
»Mama, fang mich doch!«
»Na warte, du, ich krieg dich schon!«
Von wegen! Schon ist sie wieder weg. Niki kann gar nicht mehr so schnell laufen, ihr Bauch ist schon so dick. Da nimmt Harry sie in seine Arme, und sie beginnt zu träumen, während sie ihren Blick schweifen lässt: »So einen Park will ich auch einmal bauen. Das ist wie das ERSCHAFFEN einer anderen, FRÖHLICHEREN Welt, es ist die GEBURT einer neuen Wirklichkeit!«
Dann spurtet Harry Laura hinterher.
Zurück in Deià, träume ich meinen Traum von dem wunderbaren Park, den ich einmal bauen werde, und male inzwischen weiter Bilder. Doch die Mosaike lassen mich nicht mehr los. Ihr Charakter muss sich doch irgendwie auch auf die Leinwand übertragen lassen! Und plötzlich wandern Steine, Knöpfe, Kaffeebohnen, Keramikscherben, Farbdosendeckel und andere Objekte in meine Bilder.
Dann kommt Klein-Philip – mehr als zwei Monate zu früh! – am 1. Mai 1955 auf die Welt. Gott sei Dank hält er durch.
Schon im nächsten Jahr aber packt Harry und mich doch wieder die Sehnsucht nach Paris. Ich will Hugh meine neuen Bilder zeigen. Wir nehmen Abschied von diesem zauberhaften Ort.
In Paris fügt es sich geradezu perfekt: Ein Freund überlässt mir für drei Monate sein Atelier in der Impasse Ronsin, einer Sackgasse mit vielen Ateliers in verschachtelten Hinterhöfen. Gerade hier, wo so großartige Künstler wie Max Ernst und Constantin Brancusi ihre Kunst geschaffen haben, kann ICH jetzt arbeiten!
Die Ateliers sind nur ärmliche Holzschuppen, die Fenster klein, geheizt wird mit Kohle, aber egal: Die Atmosphäre ist inspirierend. Überall stehen Materialreste und Versatzstücke von Kunstwerken zwischen üppig wucherndem Grün. Ich freue mich schon auf morgen, denn dann treffe ich Hugh endlich wieder.
»Ich hab was Neues entdeckt, Hugh«, verkündet Niki dann auch gleich, als sie bei ihm ankommt. »Voilà!« Voll gespannter Erwartung präsentiert sie ihre neuen Bilder mit den Objekten.
Der tritt überrascht ein paar Schritte zurück und kneift die Augen zusammen, um einen besseren Eindruck von der Gesamtkomposition zu bekommen. Dann geht er nah heran und betrachtet die Details.
»Hm. – Sind das Kaffeebohnen?«
»Ja.«
»Steine?«
»Ja.«
»Und das da?«
»Das ist der Deckel einer Farbdose.«
»Hm – also …«
»Es ist herrlich, Hugh! Ich kann jetzt so viel SCHNELLER und DIREKTER arbeiten.«
»Ja, aber es geht doch nicht um Geschwindigkeit.«
»Doch, Hugh, für mich schon. Weil ich dann unmittelbar meinen Impulsen folgen kann.«
»Was ist mit der Klarheit des Ausdrucks, Niki?« Hugh wendet sich ihr jetzt zu und schaut ihr direkt in die Augen. »Das kann doch dein Weg nicht sein. Ich sehe hier deine Qualitäten nicht mehr: die Leuchtkraft deiner Farben, die prägnanten Formen … Verschwende nicht dein Talent, bloß weil’s schneller geht.«
Niki schaut ihn nur noch an, zutiefst enttäuscht. Das hatte sie nicht erwartet. Warum versteht er sie so überhaupt nicht? Sie ist sich so SICHER beim Arbeiten. Lange betrachtet sie erneut ihre Bilder, schüttelt dann den Kopf. Nein, für sie führt kein Weg mehr zurück.
Eines Tages schaut Jean Tinguely bei Niki hinein. Sein Atelier liegt nur ein paar Schuppen weiter, sagt er, ob sie sich nicht einmal seine Arbeiten ansehen möchte? Niki schaut ihn überrascht an. Aber dieser Mann mit den dunklen, intensiven Augen, den Lachfältchen an den Schläfen und den buschigen Brauen weckt ihr Interesse, sie geht mit.
Was sie dann zu sehen bekommt, berührt und begeistert sie zutiefst. Draußen stapelt sich angerosteter Schrott massenweise und drinnen – da sieht sie genau diesen Schrott in zarte, schalkhafte Reliefs verwandelt! Wie von Zauberhand bewegen sie sich in einem immer gleichen Ablauf: »Kling!«, klopft der kleine Hammer an die Flasche, ratternd zucken die Zahnrädchen. »Kling!«, … Unwillkürlich beginnen Nikis Augen zu leuchten. »Das ist … genial!«, ruft sie aus. Das muss sie Harry zeigen!
Am nächsten Tag bringt sie ihn vorbei, und die beiden kaufen Jean genau dieses Relief mit dem Hämmerchen ab. Derweil erscheint oben ein aparter Kopf mit dunklem Kurzhaarschnitt. »Salut, Eva!«, ruft Niki hinauf. Eva Aeppli ist Jeans Frau, Niki hat sie gestern schon kennengelernt. »Salut, Niki!«, kommt die Antwort zurück. Eva hat dort oben ihr Atelier, während Jean das Erdgeschoss belegt. Auch sie ist Künstlerin und fertigt aus Textilien lebensgroße, sehr ausdrucksstarke Skulpturen von Menschen.
Die vier – Harry, Jean, Eva und Niki – treffen sich von jetzt an öfter. Erstaunlich ist, wie Jean und Eva ihre Ehe führen; denn Eva hat in aller Offenheit und Freundschaft neben Jean noch einen sehr jungen Liebhaber und Jean sehr viele Freundinnen.
»Wie kann das gut gehen?«, fragt Niki sich insgeheim schon manchmal.
Schön ist jedenfalls für Niki, dass Jean ihre Bilder gefallen und er sie als Künstlerin ernst nimmt.
Niki und Harry finden bald eine Wohnung in der Rue Alfred Durand-Claye, nicht weit weg von der Impasse Ronsin. Niki freut sich: Sie bekommt das große, obere Zimmer direkt unterm Dach als Atelier. Dass es auch als Wohnzimmer genutzt wird, stört sie nicht. Und Harry kann sich unten ins kleine Zimmer zum Schreiben zurückziehen.
Doch dann werden Niki und der kleine Philip schwer krank. Nach vielen harten Monaten ziehen sie erst einmal wieder aufs Land, nach Lans-en-Vercors in den Bergen. Ums Eck wohnt ein nettes Bauernehepaar, bei dem auch die Kinder gerne sind. Konzentriert gehen Niki und Harry dort nun wieder ihrer künstlerischen Arbeit nach.
Zack!, zerschmeißt Niki Teller und Tassen, sammelt alte Puzzleteile, Knöpfe, Perlen und Steine. Mosaikartig arbeitet sie ihr Selbstporträt, setzt ihre Bilder nun aus Gegenständen zusammen: Ein Dosendeckel wird zur Sonne, Steine zum Muster eines Rocks.
Dann packt mich die Lust, die Dinge einfach so in den Gips hineinzudrücken, ohne dass sie etwas anderes bedeuten: Der Knopf steckt dort in dem Bild schlicht als Knopf, die halbe Tasse als halbe Tasse. Was das soll? Ich weiß es noch nicht. Aber es fasziniert mich, mit diesen Dingen zu spielen.
Manche Gegenstände sind so groß und dick, dass aus dem Bild ein richtiges Relief entsteht. In aller Stille hat Niki für sich die Technik der Assemblage entwickelt.
Derweil brodelt in Paris die Szene. Wieder einmal machen junge Künstler sich daran, den Rahmen für das, was als Kunst gilt, zu erweitern.
Noch ist Abstrakter Expressionismus der Stil der Zeit. Eine eigene Variante hat der New Yorker Jackson Pollock mit seinem »Action Painting« entwickelt: Mit einem dicken, satt mit Farbe getränkten Pinsel tropft er mit großen Bewegungen Farbkleckse auf riesige, liegende Leinwände. Seine Werke werden nächstes Jahr auf der »documenta II« in Kassel, der Ausstellung zeitgenössischer Kunst, gezeigt werden – genauso wie die von Joan Mitchell. Sie ist eine der wenigen Frauen der New Yorker Künstlerszene.
Aber dann gibt’s da noch Marcel Duchamp, der einst ganz andere Ideen hatte. Er schuf 1913 das erste »Readymade«: Dafür nahm er einen Küchenhocker und steckte durch das Loch der Sitzfläche kopfüber eine Fahrradgabel mitsamt dem Vorderrad – fertig.
Er ist heute, im Paris von 1958, nur unter wenigen Künstlern noch ein Begriff – zu gründlich haben die Nazis die explosive Kreativität jener Zeiten abgewürgt. Doch gerade jetzt beginnt sich das zu ändern.
Denn es rumort in den Pariser Ateliers. »Schluss mit dem ›emotionalen Gekleckse‹ des Abstrakten Expressionismus! Kunst soll sich einmischen ins Leben!«, fordern immer mehr Künstler hier. Und sie holen den »Alltag« in die »Kunst« hinein.
François Dufrêne, Raymond Hains und Jacques Villeglé zum Beispiel lösen in den Straßen der Stadt zerrissene Plakate von den Wänden ab und erklären sie zur Kunst.
Christo, der »Verpackungskünstler«, kommt 1958 nach Paris und beginnt, Ölfässer, Flaschen, Motorräder und vieles mehr einzuwickeln: ebenfalls Kunst!
Yves Klein ist der Künstler unter ihnen, der tatsächlich noch malt – und zwar ausschließlich einfarbige Bilder. Bis er wenig später »immaterielle Bilder« verkauft, das ist – de facto – nichts. Aber Kunst!
Im folgenden Jahr dann, 1959, wird Daniel Spoerri nach Paris ziehen und sein erstes »Fallenbild« erstellen: Einer Blitzidee folgend, fixiert er akribisch sein abgegessenes Frühstücksgeschirr – mitsamt den Speiseresten, gefülltem Aschenbecher, Eierschalen und Besteck – auf einem Brett. Das hängt er dann an die Wand und sagt dazu: »Das ist Kunst.«
In Paris kocht also die Kunstwelt neue, erstaunliche Rezepte und Niki auf dem Land in Lans weiterhin ihr eigenes privates Bilder-Süppchen? Nicht ganz. Auch sie kommt künstlerisch voran. Regelmäßig besucht sie mit Harry die Hauptstadt. Vieles erfährt sie dort durch Jean. Er berichtet ihr von der neuen Ausstellung im Musée d’Art Moderne. Zeitgenössische amerikanische Kunst wird gezeigt – das also, was die New Yorker Szene grad so an speziellen Süppchen kocht.
»Die musst du dir ansehen!«, sagt Jean begeistert.
Niki geht hin. Was sie dort dann sieht, trifft sie heftig.
Die gewaltigen Werke von Jackson Pollock nehmen hier gleich mal kühn ganze Wände in Beschlag. Und wie beeindruckend sind erst die jungen Newcomer: Eine gemalte Zielscheibe von Jasper Johns, genannt »Target« (Ziel), fesselt Nikis Blick. »Die ist stark!«, denkt sie bewundernd. »Das wirkt abstrakt, weil die Form so klar ist, und doch ist es ein realistisch gemalter Gegenstand.« Dann entdeckt sie eine Assemblage. Niki tritt näher und betrachtet nachdenklich das Werk von Robert Rauschenberg. »Nein, eine reine Assemblage ist es gar nicht. Rauschenberg hat Gegenstände hergenommen, sie zueinander angeordnet und das Ganze dann mit Malerei kombiniert.«
Niki spürt plötzlich eine riesige Kluft zwischen diesen kraftvollen, neuartigen Werken hier und ihrer eigenen Suche. So weit ist sie noch lange nicht!
In dieser Zeit des Zweifels lernt Niki in Paris Joan Mitchell kennen. »Sie hat es geschafft!«, denkt Niki anerkennend. »Als Frau.« Und sie folgt gern ihrer Einladung, gemeinsam ein paar Tage auf der bretonischen Insel Belle-Île zu verbringen. Joan nimmt ihren Lebensgefährten mit, den kanadischen Künstler Jean Paul Riopelle, und Niki ihre ganze Familie.
Doch welche Enttäuschung erlebt sie da! »Du bist also eine von diesen malenden Schriftstellerehefrauen …«, kriegt sie süffisant von Joan zu hören und spürt nur zu deutlich deren mitleidigen Blick.
Niki entgegnet nichts. Aber innerlich kocht sie.
Als Niki und Harry wieder nach Lans zurückfahren, herrscht Schweigen im Auto. Joan hat einen wunden Punkt getroffen.
»Wir leben wie 80-Jährige und sind noch nicht mal 30!«, sagt Niki zu Harry.
Das Thema hat begonnen, in ihr zu gären.
Unruhig wälzt sie sich in ihrem Bett hin und her. Wieder einmal kann sie nicht schlafen. »Ich muss weiter gehen, bis zum Grund vorstoßen«, sagt sie zu sich in die Dunkelheit hinein. Leise steht sie auf und schleicht in ihr Atelier hinüber.
Schwarz wie die Nacht muss die Sperrholzplatte werden. Unter den tiefschwarzen Himmel kommt die gipsweiße Erde. Aber erst muss ich meine Objekte zusammensammeln. Ein paar Nägel. Metallringe. Da der verrostete Winkel. Ein Kreissägeblatt. Aus der Küche noch die Reibe. Die drei Spielzeugpistolen müssen auch dazu. Jetzt hinein mit all dem in den Gips!
Betroffen betrachtet Niki ihr Werk, das sie »Night Experiment« betitelt.
»Das ist es also, was noch immer aus mir heraus will?«, flüstert sie.
»Wo, um alles in der Welt, führt mich das hin?
Ist das Leben mit der Familie für mich zu nett?
Muss ich mir ohne Familie einen Platz als Künstlerin erkämpfen. Was wird mit den Kindern?«
Niki quält sich lange. Dann hat sie eine Lösung gefunden: die Trennung auf Zeit. Ein Jahr erbittet sie von Harry, damit sie sich ausschließlich in ihre Kunst vertiefen kann. Schweren Herzens stimmt dieser zu. Alle zusammen ziehen sie daraufhin wieder nach Paris: Niki in die alte Wohnung mit ihrem Atelier unterm Dach, Harry und die Kinder in eine neue Wohnung in der Rue de Varenne.
Uralt-Niki: Da ahnte ich noch nicht, dass mein Plan überhaupt nicht funktionieren würde: Ich konnte nie mehr zurück! Schrecklich litt ich unter der Trennung von den Kindern. Als Ersatz stürzte ich mich in die Arbeit – für den Rest meines Lebens.