Mit Haut und Haar der Kunst verschrieben

Treffer! Niki verliebt sich in Jean Tinguely und kreiert ihr erstes Schießbild.

In Paris findet inzwischen die erste Biennale statt, die junge Künstler fördert. Jean Tinguely ist eingeladen und wird mit seiner automatisch kritzelnden Maschine »Méta-Matic No. 17« erstmals in größerer Öffentlichkeit wahrgenommen. Marcel Duchamp kommt vorbei und ist begeistert.

Jean erzählt Niki von ihm.

Dann ist er – schwupp – schon wieder weg, eingeladen nach New York ins berühmte Museum of Modern Art (MoMA). Im dortigen Garten baut Jean eine Maschine namens »Hommage to New York«, die sich selbst zerstört. Dabei freundet er sich mit Robert Rauschenberg an.

Das Manifest der Nouveaux Réalistes

Auch an der Mailänder Gemeinschaftsausstellung mit Arman, Raymond Hains, François Dufrêne, Yves Klein und Jacques Villeglé nimmt Jean teil. Pierre Restany, ein rühriger Pariser Kunstkritiker, hat sie organisiert. Im Vorfeld hämmert er auf seine Schreibmaschine ein und hält jene Gedanken fest, die seiner Meinung nach die neue Kunstbewegung in Paris charakterisieren:

Sie schließt die Kluft zwischen Leben und Kunst.

Sie betrachtet die Welt als ein Bild, aus dem sich der Künstler Versatzstücke von Bedeutung – Objekte – herausnimmt.

Der Künstler als Urheber wird unwichtig. Er tritt hinter sein Werk beziehungsweise seine Aktion zurück. Das Publikum arbeitet am Erschaffen des Werks mit. Ebenso der Zufall.

 

 

 

 

Das Action-Spectacle wird ein wichtiges Ausdrucksmittel des Künstlers.

Restany hat auch schon einen griffigen Namen für die neue Kunstbewegung parat: Es ist »Nouveau Réalisme« (Neuer Realismus). Bald wird über diese neuen Grundsätze öffentlich diskutiert. Was kann den Künstlern mehr nützen als das, um bekannt zu werden?

»Portrait of my lover / Portrait of myself«

Natürlich bekomme ich all das durch Jean mit, doch ich arbeite inzwischen konzentriert für mich. Ich brauche die Einsamkeit, das weiß ich jetzt. Dann werden meine Ergebnisse gut und klar.

 

»Dieser Mistkerl!« Kurze Zeit später kocht Niki vor Wut.

»Warum muss mir das immer und immer wieder passieren?«

Niki hat sich auf eine Affäre eingelassen. Ausgerechnet mit einem Mann, der sich das Frauen-Angeln zum Sport gemacht hat.

Peng, fliegt in ihrem Atelier eine Tasse an die Wand: »Das ist für dich, Mistkerl!«

Peng, fliegt die Untertasse hinterher: »Das für mich, verdammt noch mal!«

Immer und immer wieder pfeffert Niki Sachen an die Wand. Dann lässt sie sich erschöpft auf einen Stuhl fallen, mustert die Spuren ihres Wutausbruchs.

»Halb so wild«, denkt sie sich dann. »Gips hab ich ja da.«

Grinst. »Vielleicht sollte ich mir fürs nächste Mal besser gleich eine Dart-Scheibe anschaffen zum Abreagieren …«

Springt dann auf, wie elektrisiert.

»Im Kinderzimmer müsste doch noch eine sein«, stürmt sie die Treppe hinunter und wieder hinauf. Ihr ist eine Idee gekommen. Eine Superidee.

Auf die Sperrholzplatte kommt oben wie ein Kopf die Dart-Scheibe. Dann rührt sie Gips an und verteilt eine dicke Schicht unterhalb der Scheibe. Da hinein muss ein Männerhemd als Körper. Einer ihrer Atelierkittel muss herhalten. Tief drückt sie ihn in den Gips hinein, betrachtet kritisch ihr Werk.

»Gut ist es, das ist gut!«, sagt sie laut vor sich hin.

Für den Hintergrund wählt sie ein strahlendes Ultramarinblau, ergänzt noch einige Knöpfe und Abzüge von Spielzeugpistolen, fertig ist die neue Assemblage. Sie schlägt einen Nagel in die Wand und hängt sie über die beschädigte Stelle.

Als Jean und Daniel Spoerri Niki das nächste Mal besuchen, wird ihr Blick von der prägnanten Zielscheibe auf dem leuchtenden Blau gleich gefangen.

»Das musst du ausstellen!«, ruft Jean begeistert aus.

»Ja, das ist gut!«, stimmt Daniel zu.

Die beiden schlagen Nikis Werk bei den »Nouveaux Réalistes« für die Teilnahme an ihrer nächsten gemeinsamen Ausstellung vor. Sie wird vom 6. Februar bis zum 6. März 1961 im Salon Comparaisons im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris stattfinden. Jetzt haben wir Ende Oktober 1960.

Nikis 30. Geburtstag

Ich hab’s geschafft! Das ist mein schönstes Geburtstagsgeschenk aller Zeiten!

Mein zweites schönstes Geschenk ist die wundervolle weiße Jacke von Harry, die mir so gut steht. Ich bin unglaublich gerührt.

Ja, und mein drittes schönstes Geburtstagsgeschenk, das ist meine LIEBE MIT JEAN! (Eva hat sich vor Kurzem frisch verliebt und Jean verlassen.) Wir sind jetzt ein Paar, und ich liebe ihn!

Februar 1961

Dann ist die Ausstellung im Musée d’Art Moderne eröffnet. Zum ersten Mal ist ein Werk von Niki im Museum zu sehen. Natürlich muss sie nachschauen, wie ihre Assemblage ankommt. Dart-Pfeile liegen bereit. Werden die Leute das Angebot nutzen? Verstohlen schielt Niki hinüber und sieht – da! – die Pfeile bereits fliegen. Es funktioniert!

Niki will sich gerade wieder zurückziehen, da bemerkt sie aus dem Augenwinkel ein weißes Gipsrelief. Wie im Traum schaut sie es an und sieht dann plötzlich – tack – das weiße Relief vor ihren Augen bluten.

Glasklar steht es Niki vor Augen. Abrupt dreht sie sich auf dem Absatz um.

»Das muss ich Jean erzählen!«, denkt sie sofort und rennt aus dem Museum, zur Seine hinunter, über die Brücke, all die Straßen entlang, dann durch das Hinterhofgewirr zur Impasse Ronsin und zu Jeans Atelier.

»Jean!«, ruft sie atemlos und lässt sich aufeins der Schrottteile fallen.

Der kommt angestürzt, denkt, Gott weiß was sei passiert. Doch dann sieht er Nikis Gesicht.

»Jean!« Noch immer ist Niki nicht zu Atem gekommen. »Ein weißes Relief…«

»Ja – und?«

»… rote Farbe …«

»Wo?«

»… dahinter … und dann …« Niki deutet mit ihren Fingern einen Schuss an.

Jean kapiert sofort, was sie meint: »Das ist genial!«, lässt er sich von ihrer Begeisterung anstecken. »Das machen wir SOFORT!« Und schon ist er in Bewegung, um die nötigen Sachen zusammenzusuchen.

Gips ist da, Farben besorgen sie mitsamt Beuteln. In eine Holzplatte schlägt Niki lange Nägel, damit hinterher in der Senkrechten alles genug Halt hat. Dann füllt sie die Farbbeutel. Schnell, denn sie kann es kaum erwarten. Spaghetti kommen auch hinein, Tomaten, Eier, was herumliegt. Sie ist wie im Rausch. Am Schluss legt sie Gips über das reiche, wirre Innenleben, deckt seine Geheimnisse unter einer weißen Decke zu. MAGISCH. Jetzt muss es trocknen.

Sich mit dem Handrücken die Haare aus dem feuchten Gesicht streichend, richtet Niki sich auf und dreht sich um zu Jean: »Und wo kriegen wir jetzt ein Gewehr her?«

Konspirative Zusammenkunft

Sie haben keins, und Niki kann ihr neues Kunstwerk nicht sofort vollenden. Aber vielleicht ist das auch gerade gut so, denn so erfährt dieser aufregende Moment seine gebührende Feierlichkeit durch Mitwirkende.

Am 12. Februar 1961 ist es soweit: Exklusiv geladen sind Pierre Restany, die Galeristin Jeannine de Goldschmidt, Daniel Spoerri, Hugh Weiss, die beiden befreundeten Fotografen Harry Shunk und Janos Kender sowie der Betreiber einer Jahrmarktsschießbude, der der Besitzer des Gewehrs ist. Sie alle sind gekommen und gespannt auf das, was sich vor ihren Augen jetzt ereignen wird.

 

Niki spürt ihr Herz heftig klopfen. Rund um sie herum stehen erwartungsvoll die Zuschauer. Da, vor ihr an der Ziegelwand hängt ihr Relief. Langsam und konzentriert legt sie an, nimmt ihr Ziel ins Visier und setzt einen entschlossenen SCHUSS. Getroffen. Das erste Farbrinnsal fließt über das jungfräuliche Weiß, nimmt ihm seine Unschuld. Gebannt sieht Niki dem Schauspiel zu, sammelt sich. Noch ein SCHUSS, erneut ein Treffer.

 

 

 

 

Dann tritt sie zurück und reicht die Waffe weiter. Jeder kommt dran, jeder der hier Anwesenden schießt. Gemeinsam vollenden sie das Werk. Symbolisch wird das Relief getötet und im selben Akt erschaffen. Dies Erlebnis beeindruckt sie alle zutiefst.