Shootingstar

Niki und Jean legen mit ihrer Kunst den Nerv der Zeit offen.

Noch an Ort und Stelle beschließt Pierre Restany, Niki in die Gruppe der Nouveaux Réalistes aufzunehmen. Ab jetzt ist sie dabei, als einzige Frau. Gleich an der nächsten Gruppenausstellung in Nizza vom 13. Juli bis zum 13. September 1961 nimmt sie teil.

Ebenso wird sie zur großen Ausstellung über kinetische (bewegliche) Kunst eingeladen, die in Amsterdam, Stockholm und Kopenhagen zu sehen ist. In allen drei Städten führt Niki Schießaktionen durch. Als Krönung dieses Sommers hat Niki in der »Galerie J.« von Jeannine de Goldschmidt ihre erste Einzelausstellung in Paris, zwei ganze Wochen lang! Der Besucherandrang ist enorm, das Medieninteresse auch, und am Ende sind alle Schießbilder verkauft.

 

Einer der Käufer ist Robert Rauschenberg, was Niki tief bewegt. Er und Jasper Johns sind gerade in Paris, weil sie hier eine eigene Ausstellung haben. Oft sitzen sie alle – Niki, Jean, Bob und Jasper – zusammen in der Impasse Ronsin, essen und trinken gemeinsam und führen leidenschaftliche Gespräche über die Kunst und das Leben bis tief in die Nacht.

»Ja«, denkt Niki, unendlich glücklich, zwischendurch, »genau so will ich leben! Intensiv und frei und in aufrichtiger Freundschaft und Liebe!«

Eines Tages stellt Bob spontan aus Betttüchern Jean zu Ehren ein Kunstwerk her. Und Niki arbeitet zwei Reliefs für ihre amerikanischen Freunde: »Tir de Jasper Johns« und »Hommage to Bob Rauschenberg«. Sie sollen sie selber schießen. »Rot! Rot! Ich will mehr Rot«, schreit Bob dabei voller Enthusiasmus, und kann gar nicht genug davon kriegen.

Retterin der Welt

Über Nikis Schieß-Sessions berichten Zeitungen und Fernsehen. Die einen Kritiker machen Niki zum Vampir, die anderen zur Frauenrechtlerin. Und die Pazifisten sagen: Mit Gewalt spielt man nicht!

Im Lebensgefühl der Menschen ist Gewalt zurzeit allgegenwärtig. Frankreich steckt im Krieg gegen seine einstige Kolonie Algerien, das für seine Unabhängigkeit kämpft. Und der Konflikt zwischen den USA und der UdSSR spitzt sich dramatisch zu. Der Ausbruch eines Dritten Weltkriegs scheint möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich. Schon ziehen die Menschen ängstlich ihre Köpfe ein. Und dann kommt gerade jetzt auch noch eine Frau daher und ballert lustvoll auf die Kunst?

 

Uralt-Niki: Ja, gerade dann! Meine Kunst legte den Nerv der Zeit offen!

 

Ungerührt stellt Niki das gängige Frauenbild auf den Kopf. Nicht nur, dass sie schießt – was sonst nur Männern gebührt. Nein, sie legt jetzt auch zu jeder Session ein ganz bestimmtes Outfit an: einen hautengen, weißen Anzug und schwarze Stiefel. SEXY und kämpferisch stilisiert sie sich wie Wonder Woman zur unbeschreiblich weiblichen Retterin der Welt, PENG!

Kontinuierlich entwickelt sie ihre Reliefs weiter. Bald geht es nicht mehr nur um das Offenlegen an sich, um die Verletzung der Hülle. Mehr und mehr stellt Niki nun sichtbar dar, worauf sie eigentlich schießt.

Sie formt Reliefs in Form von Kathedralen, schießt symbolisch auf die Kirche und rettet den Glauben. Sie formt bedrohliche Monster, schießt symbolisch auf die Angst und rettet die Hoffnung. Sie nimmt Kennedy und Chruschtschow, die streitenden Präsidenten von USA und UdSSR, mitsamt ihren Jagdbombern, symbolisch ins Visier und rettet den Frieden. Sie schießt auf Bräute und rettet die Selbstbestimmtheit der Frau.

Revoluzzer der Kunstszene

Jean wird ihr Komplize dabei. Er begleitet und unterstützt sie bei ihren Aktionen und sie ihn bei seinen. Gemeinsam touren sie 1962 durch die USA.

Niki debütiert erfolgreich in einer Galerie in LosAngeles und beehrt anschließend Jane Fonda und ihre Gäste mit einer exklusiven Schießaktion.

Jean übt in der Wüste Nevada schon mal den Weltuntergang und inszeniert seine eigene eindringliche Warnung vor dem Krieg: Dafür karren Niki und er lastwagenweise Schrott heran, stellen ihn kunstvoll arrangiert auf und sprengen ihn dann in einem dramatischen Akt in die Luft. Journalisten, Fernsehteams und jede Menge Polizisten verfolgen das Schauspiel. Auf diese Weise hat Jeans Spektakel mehr Zuschauer als die Atombombenversuche, die Jahre zuvor ebenfalls in dieser Wüste stattgefunden haben – nicht umsonst hat Jean gerade diesen Ort für sein Action-Spectacle gewählt.

 

Bild 7

e9783641070939_i0008.jpg

Als Kind fürchtete Niki sich vor Schlangen, später waren sie ein häufig wiederkehrendes Motiv in ihrer Kunst.

Uralt-Niki: Wir waren wild und rebellisch! Es war die Kunst, die uns diesen Freiraum gab.

Niki & Jean

»Ich liebe ihn sehr!«, flüstert Niki ihrer Box überschwenglich zu.

»Wunderbar!«, ruft diese laut heraus und dreht einen übermütigen Salto.

Und Niki erzählt mehr:

»Oft liegen wir zusammen da und spinnen. Flash – steht da plötzlich eine Kunstidee im Raum oder ein Anfang davon. Dann fängt’s an zu knistern zwischen uns, und – ping-pong – hüpfen die Ideen hin und her.«

 

 

 

 

Aus Unsinn, Klarsinn, Blödsinn entwerfen die beiden unzählige Projektideen. Im Bistro auf der Serviette, beim Bloody-Mary-Trinken und Olivenessen, wo sie gehen und stehen – allein, zu zweit, mit anderen.

Jean ist immer in Bewegung – wie seine Maschinen – und sprüht nur so vor Witz. Schnell ist er für neue Ideen zu begeistern. Langeweile kennt er nicht. Und er arbeitet gern mit anderen zusammen: »So ein Leben mit dem eigenen Ich ist doch sonst recht lang«, meint er. Gemeinsam entdecken Jean und Niki voller Neugier immer wieder Neuland.

Zwischen den beiden spielt sich ein fröhlicher Künstlerwettstreit ab. Er bewundert ihre verrückten Ideen, hilft ihr mit Vergnügen bei ihrer Ausführung, und danach fühlt er sich angespornt, selber etwas Größeres zu schaffen. Sie lieben es, sich gegenseitig zu verblüffen.

Dann ist es genug

Nikis letztes Schießbild wird fast drei Meter hoch und gut sechs Meter breit. Nach dem berühmten Filmmonster nennt sie es »King Kong«. Im Mai 1963 wird es in Los Angeles geschossen. Dann ist Schluss.

»Ich muss aufhören damit«, vertraut sie ihrer Box an.

»Ja, das Gefühl hab ich auch«, erwidert diese zu Nikis Überraschung.

»Ich erlebe jedes Mal einen ekstatischen Moment, als bekäme ich beim Schießen einen Rausch!«, erklärt sie weiter.

»Ich weiß.«

»Das ist herrlich und zugleich teuflisch.«

»Wie eine Sucht?«

»Ja, es fühlt sich an wie eine Sucht. Ich hasse es, von etwas abhängig zu sein.«

»Dann hör auf!«

»Ja, das mach ich jetzt. Ich höre auf.«

»King Kong« vereint die wichtigsten Themen, die Niki in den letzten Jahren bearbeitet hat: Frauen, Kirche, Krieg, Männer, Politik. Als es abgeschlossen ist, ziehen Niki und Jean aufs Land um nach Soisy-sur-École.