Niki hat jetzt wieder ein Ziel, für das es sich lohnt, erneut zu Kräften zu kommen.
Sie will zurück in die Berge gehen und dort sofort mit Studien über Götter-Legenden beginnen; denn ihr Garten soll ein mythologischer Skulpturengarten werden. Das ist ihr Thema im Jahr 1975.
Marina schickt Niki den jungen Dichter Constantin Mulgrave mit – zur Unterstützung bei ihren Studien und als Gesellschaft. Dabei verlieben sich die beiden ineinander. Auch das gibt Niki neue Lebenskraft.
Zwei Jahre später ist es dann soweit. Niki klemmt ihr Modell unter den Arm und fährt in die Toskana. Sie muss jetzt Marellas Brüder, denen das Grundstück gehört, von ihrem Projekt überzeugen und – sie bekommt den Zuschlag!
Zwei weitere Jahre später, 1979, rückt Jean mitsamt dem »All Swiss Star Team« an und beginnt in bewährter Manier mit dem Verlegen der Fundamente und den Schweißarbeiten.
Dabei kann Niki im Moment nicht viel tun. Deshalb nutzt sie die Zeit, sich um die Finanzierung zu kümmern. Um künstlerisch frei zu sein, hat sie nämlich beschlossen, alles aus eigener Tasche zu bezahlen. Es wird viel, sehr viel Geld sein, das sie braucht.
Dafür lässt sie sich einiges einfallen. Schon vor acht Jahren hat sie erfolgreich damit begonnen, Schmuck zu entwerfen, der in limitierter Auflage teuer verkauft wird. Nun produziert sie noch farbige Möbel dazu sowie Lampen und Spiegel, später Vasen. Für die Firma Stuyvesant bemalt sie ein Flugzeug, das auf Werbeflug über den Atlantik geschickt wird. Der absolute Verkaufsrenner aber werden ihre Parfüms: Sie konzipiert die Düfte und entwirft dazu passende Flakons. Allein diese Parfüms, wird sie später im Rückblick feststellen, liefern ein Drittel der gesamten benötigten Summe!
In der Zwischenzeit nehmen die Bauarbeiten ihren Lauf. Niki wohnt in Capalbio, kann es aber kaum erwarten, bis sie in die »Kaiserin« einziehen kann – die riesige bewohnbare Nana-Skulptur, die daliegt wie eine ägyptische Sphinx: halb Mensch, halb Löwin, mit vollen Brüsten, einem runden Hinterteil und großen Tatzen.
In die eine Brust kommt die Küche, in die andere das Bad, und die Brustwarzen sind zwei runde Fenster, von denen aus ich aufs Meer blicken kann. Den großen Innenraum kleidet Ugo mir rundum mit unendlich vielen Spiegelscherben aus. Dort hinein stelle ich einen langen Tisch mit Stühlen, an dem wir alle täglich unsere Frühstückspause machen und unsere Arbeit besprechen.
Schon immer habe ich mir gewünscht, einmal in einer Nana-Skulptur zu leben und in die »Urmutter« zurückzukehren. In der kühlen Jahreszeit zünde ich im Kamin ein Feuer an. Dann flackert das Licht tausendmal gebrochen in all den Spiegeln. Ich fühle mich zurückversetzt in meine Kinderzeit, als ich in unserer verspiegelten Wohnung zu »schweben« begann. »Ich werde imaginäre Räume machen, Märchenräume, eines Tages, wenn ich aus diesem goldenen Zoo ausbreche«, habe ich mir damals gesagt. Dieser Raum hier wird mein Atelier, in dem alle weiteren Ideen und Figuren entstehen.
Für die Figuren ihres mythologischen Gartens hat Niki sich von den Karten des Tarot-Spiels inspirieren lassen. Diese jahrhundertealten Spielkarten werden zum Vorhersagen der Zukunft benutzt. Denn die Karten – es gibt 22 sogenannte große Arkana – stellen in symbolischen und allegorischen Figuren alle wichtigen Aspekte des Lebens dar. »Arkana« heißt übersetzt »Geheimnis«. Es geht hier also um die Geheimnisse des Lebens und des Kosmos und um das tiefere Verstehen der allumfassenden Zusammenhänge.
Dabei formt Niki all ihre Figuren natürlich nach ihren eigenen Vorstellungen und keinesfalls genau so, wie sie auf den Karten abgebildet sind.
Gleich wenn man den Anstieg zum Garten hinter sich gebracht hat, sieht man die Hohepriesterin und den Magier. Das sind die »Experten« für die Spiritualität und Unerklärliches – und zwar als Frau und als Mann. Niki findet, dass die beiden eng zusammengehören, und hat deshalb zwei übereinander liegende Köpfe entworfen: Unten ist die Hohepriesterin, die gleichzeitig den Körper des Magiers bildet. Aus ihrem gewaltigen Mund fließt Wasser, das lebensspendende, urweibliche Element, in ein großes Becken hinein. Eine große Schlange beschützt die Hohepriesterin.
»Dies ist ein weibliches Reich«, signalisiert diese Doppel-Figur also gleich am Anfang dem Besucher. Im Becken steht das »Rad des Lebens«, eine Skulptur von Jean.
Rechts daneben stellt Niki die »Sonne«. Niki stellt sie durch den Sonnenvogel dar – das Wesen, das der Sonne am nächsten kommen kann. Seine Flügel formt sie nicht massiv, sondern wie aus dicken Schnüren zusammengesetzt mit großen Löchern dazwischen. Man kann hindurchschauen, und die Luft wird zum Teil der Figur. Dies ist der neueste Skulpturentyp, den Niki entwickelt hat. Sie nennt ihn ihre »Skinnies« (die Dünnen). Der Vogel thront auf einem großen blauen Bogen – dem Himmel –, unter dem man nun hindurchgeht, um den Rundweg zu beginnen.
Man passiert den Hohepriester, den Lebensbaum mit dem »Hängenden« darin und gelangt zur Gerechtigkeit. Sie ist eine riesige schwarz-weiße Nana, deren große Brüste die Waagschalen bilden. In ihr drin steht – hinter einem fest verschlossenen Gitter sicher eingesperrt – die »Ungerechtigkeit«, eine Skulptur von Jean.
Dann kommt man zum Schloss des Kaisers. Man sieht also nicht ihn selbst, sondern nur seine Statussymbole, auf die viele Männer solchen Wert legen, meint Niki. Dazu gehört auch eine leuchtend rote Rakete mit verspiegelten Flügeln – Teil des Waffenarsenals. Der Innenhof des Schlosses aber ist mit seinen 22 Säulen wunderbar gestaltet mit vielen Details in allen Farben und Formen. In der Mitte steht ein Nana-Brunnen mit lustig spritzenden Brüsten.
Aus der Schlossmauer wächst der Turm zu Babel empor, in den der »Zorn Gottes«, wiederum eine Skulptur von Jean, eingeschlagen hat.
Man kann j etzt noch weiter nach oben gehen zu den Liebenden, dem Stern und dem Propheten. Den Triumphwagen aber stellt Niki in den Bauch der Kaiserin. Unterhalb errichtet sie eine Kapelle mit der Figur der Mäßigung auf dem Dach.
Beendet man den Rundgang, findet man rechts ein vertrautes Bild: Hier steht eine junge Frau in Weiß einem bedrohlichen Drachen – dem Sinnbild für das eigene Unbewusste – gegenüber. Monster und junge Bräute hat Niki schon sehr häufig dargestellt. Hier nimmt sie Bezug auf die Legende vom heiligen Georg, der die Jungfrau vor dem Drachen rettet, indem er ihn tötet. In Nikis Version aber braucht die Frau den Schutz des Ritters nicht, und der Drache wird auch nicht getötet. Wohl aber blickt die Jungfrau der »Gefahr« direkt ins Auge – und ist dadurch vor ihr geschützt.
Unterhalb des Rundwegs liegen, etwas versteckt, noch der Teufel, der Tod und die Erde.
Um dieses große Projekt umsetzen zu können, braucht Niki einen ganzen Mitarbeiterstab. Nikis engster Vertrauter und Assistent wird über zehn Jahre hinweg der Argentinier Ricardo Menon, den sie aus Paris kennt. Constantin und sie haben sich kurz nach Beginn der Bauarbeiten bereits in aller Freundschaft voneinander getrennt. Ricardo betreut Niki daher auch, wenn ihre rheumatische Arthritis sie neuerdings plagt. Dabei entzünden sich ihre Gelenke so stark, dass sie vor Schmerz die einfachsten Handgriffe nicht durchführen kann. Eine Liebesgeschichte beginnt aber nicht zwischen Ricardo und ihr, denn er ist schwul.
Jean zieht sich nach drei Jahren von der Arbeit hier zurück, um sich wieder seiner eigenen Kunst widmen zu können, und gibt seine Aufgaben weiter. Viele Mitarbeiter kommen aus Capalbio.
Recht bald wird Niki klar, dass ihre Skulpturen in leuchtenden Farben strahlen und glänzen sollen. Spiegel, farbiges Glas und bunte Keramik müssen dafür her. Ugo Celletti wird Nikis Spezialist für die vielen Spiegelmosaike. Venera Finocchiaro aus Rom leitet die Keramikarbeiten. Und der junge Franzose Pierre Marie Lejeune reist landauf, landab, um herauszufinden, wo das beste farbige Glas zu haben ist. Sie alle tragen entscheidend dazu bei, dass der Garten mit seinen fantastischen Skulpturen in jener überwältigenden Pracht leuchtet, in der er seit 1998 zu besichtigen ist.
Der Garten nimmt Niki über zwanzig Jahre hinweg in Anspruch. Und doch ist er bei Weitem nicht das Einzige, was sie in jener Zeit künstlerisch macht. 1982 erhalten Jean und Niki den Auftrag, den Igor-Strawinsky-Platz beim neuen Pariser Kulturzentrum Centre Pompidou mit einem Brunnen zu verschönern. Dafür studieren sie das Werk des Komponisten Igor Strawinsky: das Thema des Brunnens. Heraus kommt ein Wasserbecken, in dem alsbald 16 Skulpturen von Niki und Jean nach Herzenslust sich bewegen und strahlen und aus einer Vielzahl von Wasserdüsen Millionen feiner Regenbogentröpfchen versprühen.
Der französische Präsident François Mitterrand ist von diesem Werk so begeistert, dass er dem Künstlerpaar 1988 einen ähnlichen Auftrag erteilt: Die kleine Stadt, in der er einst Bürgermeister war, hat auch so einen schönen Brunnen verdient.
Dazwischen halten Niki Ausstellungen und weitere Aufträge neben dem Tarot-Garten in Atem. Nur einen Moment gibt es, in dem sie alles links liegen lässt: Als Jean mit einer Herzattacke ins Krankenhaus eingeliefert wird und drei Operationen über sich ergehen lassen muss.
Nun ist es an ihr, an seinem Krankenbett zu sitzen und ihn anzuflehen: »Verlass mich nicht!« In einer kleinen russischen Kapelle betet sie für sein Leben und gelobt, im Tarot-Garten eine Kapelle zu errichten, wenn Jean nur überlebt.
Die Kapelle steht heute, Jean hat also überlebt. Sein Bild stellt Niki in ihrem Innern auf – gemeinsam mit Ricardos Foto, der 1989 an Aids stirbt. Wohl nicht umsonst krönt Niki das Dach der Kapelle mit der Figur der Mäßigung – in der Hoffnung, Jean möge in Zukunft etwas leiser treten.
Aber Jean tritt nicht leiser, zügelt sein Tempo nicht. Im Gegenteil: Er hat ja noch so viel zu schaffen! Und gleichzeitig beginnt er eine weitere ernsthafte Beziehung mit einer Frau: mit der jungen bulgarischen Künstlerin Milena Palakarkina. Das trifft Niki noch einmal hart; denn ihr künstlerisches Zusammenspiel ist doch bis jetzt immer das gewesen, was sie mit Jean allein verbunden hat!
Dann stirbt im Juni 1991 überraschend Micheline. Jean folgt ihr am 30. August.
Niki kümmert sich um Jeans Vermächtnis. Sie sorgt dafür, dass für seine Kunstwerke in Basel ein Museum entsteht. Andere seiner Werke finden ihren Platz gemeinsam mit denen seiner Künstlerfreunde in Jeans Heimatstadt Fribourg. Auch den Zyklopen führt Niki zu seiner Vollendung.
Nachdem alles erledigt ist, zieht Niki nach Kalifornien an die Pazifikküste der USA. Dort leben mittlerweile ihre engsten Familienmitglieder.
Niki kauft sich eine Villa mit einem ehemaligen Tanzsaal. Der wird ihr neues Atelier. Sie sammelt um sich herum einen neuen Mitarbeiterkreis und fährt weiter fort, Kunst zu machen.
Oft ist Bloum zu Besuch, die auch schon einen kleinen Sohn hat, Djamal.
Niki setzt sich hin und beginnt, ihr Leben aufzuschreiben. Dafür zeichnet sie in ihrer altbewährten, meditativen Weise Bilder, verziert die Buchstaben mit vielen Kringeln, verfasst Texte und Gedichte.
»Mutter«, schreibt sie darin, »ich warf dir vor, du seiest zu streng. Heute danke ich dir dafür. Denn in meinen älteren Jahren profitiere ich wirklich sehr von all dieser Disziplin«.
Und auch Bloum setzt sich hin und beginnt ein Buch über Niki und Jean zu verfassen:
»Heute, da ich erwachsen bin und inzwischen auch die Möglichkeit hatte, mit einigen der Leute zu reden, die damals um mich waren, wird mir klar, dass ich das einzige Kind war in dieser verrückten Welt von Erwachsenen, die alle große Kinder waren und an ihre Träume glaubten und sie geschehen ließen. Dies ist das wunderbare Geschenk, das Jean und Niki mir gemacht haben, jener Gedanke, dass du einen verrückten Traum haben kannst, aber dass es wirklich verrückt ist, ihn nicht zu verwirklichen.«
Uralt-Niki: Bloum, als ich noch auf der Erde lebte, fragte ich mich einmal:
»Existiere ich?
Ist das Leben ein Traum?
Mein Traum, dass ich wählen kann,
ob ich einen Albtraum habe
oder ein Lied komponiere?«
Jetzt weiß ich: Mein Leben ist MEIN LIED geworden, das ich komponiert habe.
Und Laura schreibt fünf Jahre nach Nikis Tod:
»Einen Tag bevor sie starb, hatte sie unsere kleine Familie wiedervereint. Wie in einem magischen Zirkel hielten wir uns zur Versöhnung reihum an den Händen. Nach einem außergewöhnlichen, aber auch leidvollen Leben starb sie in Frieden.«
Uralt-Niki: Ich bin ja nicht tot.
Na ja, in Wirklichkeit schon, aber wie du siehst (Niki macht auf ihrer rosa Wolke einen Nana-Kopfstand) im Grunde noch quicklebendig!
Okay. Ich weiß schon. Du lässt dir nichts vormachen.
Aber auch in DEINER Wirklichkeit kannst du immer noch zum Tarot-Garten gehen und mir dort NAHE sein.
Das ist ja das Tolle am Künstlerdasein, meine WIRKUNG ist immer noch da!!
Du kannst zum Beispiel in die große Kaiserin hineingehen. Dort sein, wo ich jahrelang war und mir meinen Traum erfüllt habe, einmal in den Bauch der Urmutter zurückzukehren.
Hier ist die Küche, da habe ich gekocht und »Mutter« gespielt für all die mutterverliebten italienischen Arbeiter, sie umsorgt und bei Laune gehalten.
Hier ist das Bad.
Hier das Bett, in dem ich geschlafen habe.
Oder du fährst nach Paris.
Dort steht beim Centre Pompidou Jeans und mein Strawinsky-Brunnen.
Gemeinsam – wie schön! – versprühen wir dort noch immer für euch unseren Spaß und unsere Lebensfreude.
Habe ich das nicht gut gemacht?
Auf diese Weise bin ich überall auf der Welt – hier und da verteilt – immer noch da.
Und zwar alles andere als mausetot.
Nein, quicklebendig, schau her! (Niki macht auf ihrer rosa Wolke einen etwas verunglückten Nana-Sprung.)
Okay, okay – gebongt.
Du hast ja recht.
Aber ich auch, oder?