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Nachts
in der Geisterstadt

Bob und Victoria lenkten die Wagen zu einem verfallenen Hotel und stellten sie so ab, dass ihnen eine Wand des Gebäudes Schutz vor feindlichen Pfeilen bot. Die anderen im Treck machten es ähnlich. Kim sah, wie Wild Bill mit seinem Planwagen vor eine ehemalige Schmiede fuhr. Calamity Jane blieb in seiner Nähe. Die Zugtiere wurden ausgespannt und mit Futter und Wasser versorgt. Dann schauten sich die Armstrongs mit den Freunden das alte Hotel an. Bob trug eine Petroleumlampe.

„Ob wir hier ein Plätzchen zum Schlafen finden?“, überlegte Sally laut.

„Lieber nicht“, sagte Kim und sah um sich. Ein Stuhl, der nur noch drei Beine hatte, eine aufgebrochene Truhe, ein paar zersplitterte Kisten. Durch eine der zerborstenen Scheiben pfiff der Wind. Überall lagen Dreck, Scherben, Staub und Vogelkot.

Benjamin hingegen war begeistert: „Doch, vielleicht gibt es hier Geister, vielleicht spukt es hier! Das wäre doch klasse! Ich will hierbleiben.“

Seine Mutter schüttelte energisch den Kopf. „Auf keinen Fall. Du schläfst genau wie wir auf dem Planwagen.“

Dann blickte sie zu Kim, Julian und Leon. „Leider haben wir nicht genug Platz auf dem Wagen. Aber ihr könnt euch darunter legen. Ich gebe euch ein paar Decken.“

Kurz darauf hatten sich die Gefährten mit den Decken der Armstrongs ein recht bequemes Lager unter dem Wagen gebaut.

Kim spähte unter der Deichsel hervor zum Himmel, an dem unzählige Sterne funkelten. Dann schaute sie zu den gegenüberliegenden Häusern und schließlich die Straße hinunter, wo einer der Siedler mit seinem Gewehr patrouillierte.

„Ob uns die Angreifer gefolgt sind?“, fragte sie leise. „Vielleicht warten sie nur darauf, dass hier Ruhe einkehrt. Dann überwältigen sie die Wachen und …“

„Kim, hör auf!“, bat Julian. „Du und deine blühende Fantasie. Es wird schon nichts passieren. Und jetzt mach die Augen zu. Wir müssen morgen fit sein.“

Kim verkniff sich einen Kommentar. Julian hatte ja recht. Sie sollten wirklich schlafen und neue Kräfte tanken. Andererseits war sie nervös. Der Angriff am Fluss wollte ihr nicht aus dem Kopf. Sie schloss die Augen, drehte sich auf die linke Seite, dann auf die rechte, danach auf den Rücken, schließlich auf den Bauch. Aber es nützte nichts: Sie konnte einfach keinen Schlaf finden.

„Bist du bald fertig?“, zischte Julian.

„Jaha“, maulte Kim.

„Sehr schön. Dann gib endlich Ruhe!“

Kim verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte auf die Unterseite des Planwagens. Toll!

Wie gut, dass jetzt Kija auf samtenen Pfoten heranschlich und sich neben sie kuschelte. Sofort begann Kim, dass seidene Fell des schönen Tieres ausgiebig zu streicheln. Das entlockte Kija ein wohliges Maunzen, woraufhin Julian prompt motzte: „Habt ihr es jetzt bald?“

„Entspann dich“, erwiderte Kim mit einem Grinsen. „Nimm dir ein Beispiel an Leon: Der scheint bereits zu schlafen.“

Kurz darauf war wohl auch Julian eingenickt, vermutete Kim. Jedenfalls beschwerte er sich nicht mehr über Kijas Maunzen und Schnurren oder über Kims Unruhe.

Schließlich fand Kim doch noch eine Position, die es ihr erlaubte, ins Reich der Träume zu wandern. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Katze auf dem Bauch. Das klappte! Endlich schlummerte sie ein.

Doch nach einiger Zeit schreckte sie hoch. Was war das gewesen? Ihr Herz hämmerte. Kim wischte sich über die Augen. Was hatte sie geweckt? Ein Geräusch, ein böser Traum?

Irritiert blickte Kim sich um. Schattenhaft hoben sich die Konturen von Leon und Julian ab. Aber wo war Kija?

Ein Fauchen ertönte und nun entdeckte Kim die Katze. Sie hockte einen Schritt vom Planwagen entfernt und drehte den Kopf zu Kim, als wolle sie ihr etwas zurufen. Kijas Ohren waren gespitzt, die Schwanzspitze zuckte. Keine Frage, die Katze war in Alarmbereitschaft und hochgradig nervös. Aber warum?

Vorsichtig schälte sich Kim aus der Decke und krabbelte ein Stück in Richtung der Katze, ohne dass die Jungen etwas davon mitbekamen. Kija setzte sich in Bewegung und lockte das Mädchen vom Planwagen der Armstrongs fort.

Was soll das?, fragte sich Kim, folgte aber weiter der Katze, die zielstrebig auf den Planwagen von Wild Bill zulief.

Kim schaute sich prüfend um. Da, im Eingang eines der verfallenen Häuser war ein Schatten zu sehen!

Was war das? Kim schluckte und blickte genauer hin.

Der Schatten bewegte sich im Mondlicht, wurde größer, schrumpfte dann wieder.

Nun erkannte Kim, dass es eine Tür war, die sanft im Wind hin und her schwang. Das Mädchen atmete auf und ging weiter. Nur ein Fehlalarm, was für ein Glück! Doch was wollte Kija beim Planwagen des Revolverhelden? Jetzt verharrte die Katze für einen Moment – ihr Körper war gespannt wie ein Bogen. Kija war bereit zur Attacke.

Doch wo war der Feind?, überlegte Kim und schaute sich erneut suchend um. Am Ende der Straße sah sie die Silhouette eines Mannes mit einem Gewehr. Das war die Wache – oder?

Und wenn nicht? Der Mann schien sich zu bewegen, doch Kim war sich nicht sicher, ob er auf sie zukam oder wegging. Sollte sie ihn rufen?

Ja, das wäre womöglich …

In dieser Sekunde legte sich von hinten eine große Hand auf ihren Mund und Kim hatte das Gefühl, zu einem Klumpen Eis zu erstarren. Sie wurde zur Seite gezerrt – und jetzt erwachten ihre Lebensgeister wieder. Sie trat und schlug um sich und versuchte zu schreien. Doch der Druck auf ihren Mund wurde nur noch größer. Zudem schloss sich eine zweite Hand wie ein Schraubstock um ihren linken Arm und sorgte dafür, dass sie jeden Widerstand aufgab.

Panik überfiel Kim und lähmte sie. Wer war der schweigsame Kerl?

Offenbar wollte der kräftige Mann sie in den Hinterhof der Schmiede schleifen, vor der Wild Bills Planwagen stand.

Doch bis dorthin kam er nicht – denn plötzlich flog eine höchste aggressive Katze heran. Fauchend, kratzend und beißend stürzte sie sich auf den Angreifer. Der Mann stieß einen unterdrückten Fluch aus und versetzte Kim einen Stoß, sodass sie in den Hof taumelte und dort zu Boden ging. Dann versuchte der Kerl, die Katze loszuwerden.

Das schien jedoch gar nicht so einfach, weil sich die tobende Kija in seinen Nacken verbissen hatte und nicht lockerließ.

Kim rappelte sich indes auf und rief um Hilfe. Doch nichts rührte sich. Wild Bill schien einen extrem tiefen Schlaf zu haben – und der Wächter ließ sich ebenfalls nicht blicken.

Kim eilte Kija zu Hilfe und erkannte dabei, dass der Angreifer ein Lederhemd, eine Art Leggings und darüber einen Lendenschurz sowie einen Umhang aus Bisonfell trug. Keine Frage, das war die Kleidung eines Indianers, womöglich eines Sioux! Das Gesicht des Unbekannten war unter einem Tuch verborgen.

In diesem Moment gelang es dem Mann, die Katze abzuschütteln und zu Fuß zu fliehen.

Kija verfolgte ihn, während Kim erneut um Hilfe rief – wieder umsonst.

Nun kehrte die Katze mit einem Stück Leder im Mäulchen zurück. Zitternd kniete Kim sich neben das mutige Tier.

„Dem Mistkerl hast du es aber gegeben, was?“, sagte sie und musste trotz der Anspannung und Angst lächeln.

Kija maunzte zufrieden und legte den Lederfetzen vor Kim ab. Das Mädchen steckte ihn ein und schaute sich erneut prüfend um: Lauerte sonst noch ein Feind irgendwo in den dunklen Hauseingängen?

Nein, glaubte Kim. Von dem Wächter war nach wie vor weit und breit nichts zu sehen. Sollte sie Wild Bill aus dem Schlaf reißen?

Lieber nicht, dachte Kim. Jetzt brachte es ohnehin nicht mehr viel. Sie wollte schon zu Leon und Julian laufen, um sie zu wecken, als ihr Blick auf den Boden fiel, wo im Mondlicht ganz schwach allerlei Fußspuren zu sehen waren. Auch Kijas Pfoten waren im sandigen Boden zu erkennen. Die hier, das mussten von der Größe her ihre eigenen Fußabdrücke sein, und die dort die Spuren des unheimlichen Angreifers.

Plötzlich stutzte Kim. Sie beugte sich über die Spuren. Ihr war etwas aufgefallen.

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