II WEN BEHANDELN?
1. DIE KLEINE WELT DER PSYCHIATRIE – MEIN GEHIRN UND ICH
Mit alldem haben wir den Zuständigkeitsbereich der Psychiatrie erheblich eingeschränkt. Nur sehr wenige der außergewöhnlichen Menschen, denen wir im Leben begegnen, verdanken diese Außergewöhnlichkeit einer Krankheit.
a) Was ist das Gute am Schlechten? – Über die Chancen der Krankheit
Gewiss, man stutzt, wenn es heißt, man verdanke etwas einer Krankheit. Doch es ist eine Tatsache, dass selbst die schwere psychische Krankheit nicht nur ihre leidvollen, sondern auch ihre guten Seiten hat. Für viele Patienten, die längst wieder gesund sind, stellt sich ihre kranke Phase im Nachhinein als positiver Wendepunkt in ihrem Leben dar. Sie verklären die Krankheit nicht, dazu besteht kein Anlass, aber sie reihen sie in die abenteuerlichen Wegstrecken ihres Lebens ein, die auch zu mancher wichtigen Erkenntnis beigetragen haben. Es klingt banal, aber wer einmal überraschend eine depressive Phase erlitten hat, der kann nie mehr unvorbereitet in eine Depression stürzen. Vielleicht geht er jetzt dankbarer und intensiver mit allen hellen Lebensphasen um als ein immer Gesunder, dem alles in gleicher trüber Beleuchtung vor dem Auge vorbeizieht. Wer in einem schizophrenen Schub akustische Halluzinationen erlebt hat, der hat da eine kaum überbietbare Lebensintensität gespürt. Das ist auch Leid, aber es gibt Menschen, die sogar das als Bereicherung ihres Lebens verstehen und annehmen.
Genau das versuchen auch die modernen Methoden von Psychiatrie und Psychotherapie zu tun. Das Störende der Störung, das Kranke der Krankheit, das Belastende der Belastung, das sieht der Patient zumeist selber zur Genüge, wenn er erstmals in Behandlung kommt. Da ist es
Aufgabe des professionellen Therapeuten, die Beleuchtung zu ändern und die Perspektive so zu wechseln, dass eine nützlichere Sichtweise zustande kommt, die zu Lösungen führt. Von der Kinderpsychiaterin Thea Schönfelder stammt der berührende Satz: »Was mich von meinem psychotischen Mitmenschen unterscheidet, ist meine Möglichkeit, ihn ›heiler‹ zu sehen, als er es selbst vermag.« Diese nützlichere Perspektive kann dann die Fähigkeiten und Kräfte des Patienten ins Licht stellen, die er früher bewiesen, jetzt in der Krise aber ausgeblendet hat. Denn womit soll der Patient die Krise lösen? Gewiss nicht mit den Fähigkeiten, die er gerne hätte, sondern nur mit den Fähigkeiten, die er nun einmal hat.
Die Unfähigkeit, die Perspektive zu wechseln, wird psychiatrisch als Wahn definiert. Der Wahnkranke kann die ganze Welt nur unter dem alles beherrschenden Gesichtspunkt sehen, dass zum Beispiel der Nachbar ihn mit Kameras überwacht, mit Autos verfolgen lässt und mit energiereichen Strahlen quält. Von diesem Gedanken ist er mit keinem vernünftigen Argument abzubringen, obwohl er ansonsten ganz rational reagiert. Ideologien haben ebenfalls etwas Wahnähnliches. Sie sehen die Welt nur unter einer bestimmten Perspektive. Und auch die Psychiatrie ist ideologieanfällig. Psychiatrische oder psychologische Schulen sehen den Menschen gern unter nur einem Gesichtspunkt. Doch neuerdings ist man zur Einsicht gelangt, dass gerade die Möglichkeit zum Perspektivwechsel den guten Therapeuten auszeichnet. Sich in ganz verschiedene Lebensentwürfe hineindenken zu können, aber auch das gleiche Leben oder die gleiche Störung unter unterschiedlichen Gesichtspunkten zu sehen, kann dem Patienten einen aussichtsreichen Ausweg aus einer Sackgasse eröffnen.
b) Ansichtssachen – Der Mensch, sein Gehirn und wie das Leben so spielt
Man kann jede psychische Störung, aber auch jede gesunde
psychische Reaktion unter biologischer Perspektive sehen. Zweifellos gehen mit jedem Gedanken biologische Gehirnvorgänge einher. Wenn wir uns freuen, drehen irgendwelche Neurotransmitter Kapriolen. Wenn wir traurig sind, werden andere chemische Substanzen in unserem Gehirn aktiviert. Neben der Welt unserer Gedanken spielt sich in unserem Gehirn eine zweite Welt aus Molekülen ab. Da stellt sich die alte Frage, ob zuerst die Henne oder zuerst das Ei da war. Sind also das Ursprüngliche die organischen Vorgänge im Gehirn – und die psychischen Phänomene sind nur die notwendige Folge davon? Sind wir demnach Marionetten unseres Gehirns? Oder ist es umgekehrt, dass wir uns für unsere psychischen Reaktionen unseres Gehirns bedienen, dessen Aktivitäten bloß ein äußeres Zeichen dafür sind, dass wir denken? Die Frage ist streng wissenschaftlich nicht zu entscheiden.
Doch für unseren Bedarf ist das auch nicht nötig. Denn unstreitig ist, dass man alle seelischen Vorgänge unter biologischer Perspektive sehen kann. Ob das die ursprüngliche, die einzig wahre oder auch nur die entscheidende Perspektive ist, muss uns hier gar nicht interessieren. Ob sie im einzelnen Fall hilfreich ist, das ist die entscheidende Frage. Am nützlichsten ist die biologische Perspektive selbstverständlich bei allen materiellen Angriffen auf das Organ Gehirn. Wird das Gehirn verletzt, blutet es hinein, entzündet es sich oder wird es vergiftet, dann ist immer die biologisch-organische Perspektive entscheidend für die Diagnose und auch für die Therapie. Natürlich wird daneben auch die Lebensgeschichte des Patienten für die Bewältigung der Erkrankung eine Rolle spielen, die Reaktionen seiner Mitmenschen und spezielle Ereignisse der jüngsten Zeit. Doch die zentrale Perspektive bleibt die Art und Weise, wie das Organ Gehirn auf die organische Schädigung reagiert. Auch bei den bisher körperlich nicht so klar zu begründenden psychischen Krankheiten, bei Schizophrenie, Depression, Manie und vielen anderen, hat man inzwischen genauere Vorstellungen von den körperlichen Aspekten dieser Erkrankungen und daraus hat man nützliche therapeutische
Konsequenzen gezogen.
Inzwischen steht die biologische Perspektive bei allen psychischen Störungen im Zentrum des Interesses. Sogar bei gesunden Menschen versucht das umstrittene sogenannte Neuro-Enhancement die psychischen Fähigkeiten durch biologische Manipulationen zu verbessern. »Biologisch« ist übrigens auch die Vererbung. Man kann alle psychischen Eigenarten unter der Perspektive der Erblichkeit betrachten. Die biologische Perspektive ist also zu Recht eine Sichtweise, unter der man ausnahmslos alle psychischen Phänomene betrachten kann. Ideologisch, also unwissenschaftlich, wird es erst dann, wenn man die biologische Perspektive für die einzig wahre hält. Sie ist nicht wahr. Sie ist bloß mehr oder weniger nützlich.
Man kann ausnahmslos alle psychischen Phänomene aber genauso gut unter lebensgeschichtlicher Perspektive betrachten. Man kann Ereignisse aus jüngster Zeit für die Ursache der psychischen Störung halten. Das ist genauso wenig widerlegbar wie die biologische Hypothese. Übrigens ist das die häufigste Sichtweise der Patienten selbst und ihrer Angehörigen. Die Depression kann als Folge einer Ehekrise, eines Berufskonflikts, einer Auseinandersetzung mit Freunden oder Nachbarn gesehen werden, der schizophrene Wahn als Folge von Mobbing, man könnte sogar unwiderlegbar behaupten, die psychischen Symptome nach einer organischen Hirnschädigung seien im Wesentlichen von Ereignissen der vergangenen Wochen geprägt. Auch das ist niemals wahr oder falsch. Auch das ist im jeweiligen Fall unter therapeutischen Gesichtspunkten bloß mehr oder weniger nützlich.
Ein Beispiel: Ein Patient kommt wegen einer schweren phasenhaften Depression, bei der der genetische Faktor eine große Rolle spielt, in Behandlung. Diese Form der Depression tritt oft ganz unvermittelt auf. Plötzlich erwacht der bis dahin unauffällige Patient morgens tief depressiv, ist verzweifelt, sieht keinen Ausweg mehr und ist durch kein
Gespräch zu beruhigen. Jeder Hinweis auf die in Wirklichkeit glückliche Lebenssituation prallt ab, führt bloß noch zu Selbstvorwürfen: Was er doch dieser großartigen Familie alles antue! Wer mit einem solchen Patienten spricht, kann fast den Eindruck bekommen, gegen Moleküle anzureden. Argumente erreichen ihn gar nicht. In einem solchen Fall ist die biologische Perspektive für alle Beteiligten in der Regel die angemessenste und nützlichste. Denn sie vermeidet den Irrtum, dass an dieser Depression irgendjemand »schuld« ist. Nicht der Patient, aber auch nicht die Angehörigen, die sich nicht selten furchtbare Vorwürfe machen, weil sie vielleicht einige Tage zuvor eine banale Auseinandersetzung mit dem Kranken gehabt haben. Und dann gibt es da noch eine gewisse Sorte Verwandte, die etwa 150 km entfernt wohnen, nichts Genaues, dafür aber alles besser wissen. Die nehmen eine solche Krise gern zum Anlass, über die angeblich so herzlose Ehefrau herzuziehen. Das ist eine besondere Frechheit, denn die Ehefrau ist nach dem Patienten das zweite Opfer der Erkrankung. Sie leidet mit, fühlt sich völlig hilflos und untergründig tatsächlich oft auch schuldig. Da muss dann der Therapeut mit aller zur Verfügung stehenden Autorität erklären, dass an dieser Depression niemand, wirklich niemand, schuld ist. Er muss erklären, dass das eine Stoffwechselerkrankung ist, die man gut behandeln kann, indem man den Stoffwechsel mit Medikamenten beeinflusst, und die mit großer Wahrscheinlichkeit gänzlich heilbar ist. Das heißt natürlich nicht, dass irgendwelche Ereignisse im Vorfeld der Depression nicht doch gewisse Einflüsse insbesondere auf die besondere Färbung der Depression haben könnten. Doch die wesentliche und vor allem die mit Blick auf die Therapie nützlichste Perspektive ist in diesem Fall die biologische.
Da ist dann aber der andere Fall: Ein Ehepaar kommt zur Paartherapie mit dem Problem, dass der Mann die Frau immer wieder schlägt. Der Ehemann berichtet fröhlich, er habe gerade in einer Zeitschrift gelesen, dass Aggression mit dem Serotoninhaushalt zu tun habe. Ob er nicht einfach ein paar nette Pillen nehmen könne, um das Ganze zu beenden.
In einem solchen Fall wird der Therapeut diese biologische Perspektive überhaupt nicht für angemessen und nützlich halten. Ich weise dann gelegentlich darauf hin, dass der rechte Arm mithilfe von Willkürmuskulatur bewegt wird und daher nur durch einen Willensakt im Gesicht der Ehefrau landen kann und dass die Verantwortung dafür beim schlagenden Ehemann und nicht beim unschuldigen Serotonin liegt. Ich werde in einem solchen Fall psychotherapeutisch versuchen, das Schlagen zu beenden und andere Auseinandersetzungsformen einzuüben. Selbstverständlich ist die Serotoninhypothese der Aggression nicht falsch und manchmal helfen bei extremen Ausmaßen da auch bestimmte Medikamente. Doch es bleibt dabei: Die biologische Sichtweise ist bei einem solchen Problem überhaupt nicht nützlich. Vielmehr ist hier die lebensgeschichtliche Perspektive hilfreich. Was sich im Laufe eines Lebens in eine schlechte Richtung entwickelt hat, kann mit viel psychotherapeutischer Arbeit wieder zum Guten gelenkt werden. Wenn der Patient motiviert ist.
Manche Patienten schieben die Verantwortung mit Vorliebe nicht auf die Biologie, sondern ganz im Gegenteil auf ihre frühkindliche Entwicklung, deren hilfloses Opfer sie waren. Nun hat die Psychoanalyse Sigmund Freuds und seiner Nachfolger tatsächlich in nicht angemessen gelösten frühkindlichen Konflikten eine Ursache für späteres seelisches Leid gesehen. Die psychoanalytische Behandlung versucht, diese verdrängten Konflikte wieder bewusst zu machen, durchzuarbeiten und dadurch heilende Effekte zu erzielen. Man kann ausnahmslos alle psychischen Phänomene unter der Perspektive der frühen Kindheit zu verstehen versuchen. Auch eine solche Perspektive ist aber nicht wahr und nicht falsch. Auch sie ist nur mehr oder weniger nützlich. Dennoch hat es Psychoanalytiker gegeben, die die Psychoanalyse für die einzig wahre Sichtweise der menschlichen Seele hielten. Moderne Psychoanalytiker freilich werden eine solche ideologische Sicht der Dinge zurückweisen. Sie wissen, dass die Psychoanalyse in gewissen Fällen helfen kann, dass sie aber kein
Allheilmittel ist. Und sie würden es sich vor allem verbitten, dass die Psychoanalyse für die pauschale Entschuldigung von gewalttätigen Machos herhalten soll.
Zu Zeiten der Studentenbewegung hatten soziologische Deutungen Hochkonjunktur. Die Gesellschaft wurde für alles und jedes verantwortlich gemacht, natürlich auch für alle psychischen Erkrankungen. Es gab das Heidelberger »Sozialistische Patientenkollektiv«, das die Psychiatrie als bürgerliche Beruhigungspille für die in Wirklichkeit gesellschaftlich unterdrückten psychisch Kranken ablehnte. Nach dem Motto »Macht kaputt, was euch kaputt macht« ging man zum Angriff auf die krank machende Gesellschaft über und wurde terroristisch. Aber natürlich ist auch diese Perspektive nicht falsch. Natürlich kann man ausnahmslos alle psychischen Phänomene auf soziologische Einwirkungen zurückführen. Denn nichts Menschliches ist nur individuell. So wird man den zunehmenden Stress bei der Arbeit nicht bei seiner Wurzel packen, wenn man für die Arbeitnehmer bloß einen erleichterten Zugang zu psychiatrischen und psychotherapeutischen Hilfen schafft. Wichtig wäre vielmehr, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die Stress vermeiden, sodass dieser dann gar nicht erst behandelt werden muss. Doch auch hier bleibt die soziologische Perspektive nur eine mögliche Perspektive. Sie darf nie die einzige Sicht der Dinge sein und man muss in jedem Einzelfall prüfen, ob eine solche Sichtweise wesentlich und nützlich ist oder nicht.
2. DAS GROSSE REICH DER FREIHEIT – ICH UND MEIN GEHIRN
All diese Perspektiven, die biologische, die lebensgeschichtliche, die psychoanalytische, die soziologische und manche andere, versuchen, psychische Phänomene so zu deuten, als gäbe es die Freiheit des Menschen nicht. Nicht der freie Mensch, sondern die Moleküle, das
Lebensschicksal, die frühe Kindheit, die Gesellschaft sind »schuld«. Solche Sichtweisen sind auch ganz in Ordnung, denn genau das erwartet man zu Recht von wissenschaftlichen Einsichten: dass sie Ursachen ermitteln, die das menschliche Verhalten bestimmen und voraussagbar machen. Wenn sie jedoch behaupten würden, damit alles über den Menschen zu sagen, wären sie nicht mehr seriös. Denn ein solcher Anspruch auf Totaldeutung wäre nicht Wissenschaft, sondern Ideologie. Wissenschaft kann die Freiheit des Menschen daher nicht ausschließen, aber sie kann sie auch nicht erfassen, denn dann wäre die Freiheit keine Freiheit mehr. Freies Verhalten kann man definitionsgemäß nicht vorherbestimmen, sonst wäre es ja nicht frei. In weiten Bereichen unseres Lebens ist unser Verhalten allerdings nicht wirklich frei. Wir haben eine Menge Gewohnheiten, die wir von unseren Eltern, aus der Gesellschaft oder durch bestimmte Einflüsse im Laufe des Lebens übernommen haben. Für diese Verhaltensweisen entscheiden wir uns nicht in voller Freiheit jedes Mal neu, sondern sie sind in gewisser Weise zu Automatismen geworden. Das macht uns für uns selbst und für andere berechenbar. Ursache und Wirkung solchen Verhaltens ist der wissenschaftlichen Forschung zugänglich. Doch wir können diese Automatismen jederzeit außer Kraft setzen. Wir können uns absichtlich anders verhalten. Und genau das nennt man Freiheit.
a) Freiheit und Krankheit – Diesseits von Gut und Böse
Diese Freiheit, die nach Überzeugung der Aufklärung der Grund der Würde jedes Menschen ist, ist ebenfalls eine Perspektive, unter der man psychische Phänomene sehen kann. Und zwar ebenso ausnahmslos alle Phänomene. Doch auch die Freiheit ist stets eine mehr oder weniger angemessene Sicht der Dinge. Im gerade vorgestellten Beispiel wird man bei dem Mann, der seine Frau schlägt, gewiss an Freiheit und Verantwortung appellieren. Bei einer schicksalhaft einbrechenden Depression ist das in der Regel keine gute Idee.
Sucht ist Unfreiheit. Aber nicht totale Unfreiheit. Sucht betrachten wir heute als Erkrankung der Wahlfreiheit. Der Süchtige hat keine Wahl. Er muss trinken. Die Therapie versucht nun, dem Patienten wieder Wahlfreiheit zu ermöglichen. Doch um überhaupt Therapie mit Aussicht auf Erfolg machen zu können, muss man beim Patienten wenigstens einen Funken Freiheit annehmen. Denn sonst könnte sich der Patient ja gar nicht zur Therapie entscheiden und vor allem nicht dazu, dann mithilfe der Therapie sein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Da war eine allzu ideologisch dargebotene Suchttheorie mitunter misslich, die Sucht als lebenslang unveränderbare Störung vorstellte. Zwar half diese Sicht einigen Patienten, aber für andere ergab sich daraus das lähmende Gefühl einer völligen Hilflosigkeit vor dem Suchtmittel. Wenn man die Überzeugung verinnerlicht hatte, dass »Suchtdruck« eine große Gefahr, der »Rückfall« ein schreckliches Verderben und der »Kontrollverlust« eine unvermeidliche Folge davon war, dann traten diese Ereignisse mitunter im Sinn einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung ein. Der Kranke erlebte sich nur in der beschämenden Rolle des hilflosen Opfers. Der Patient als handelndes Subjekt kam gar nicht vor. Ein modernes Rückfallmanagement war unter solchen Voraussetzungen schwierig. Schon das Wort »Rückfall« hat etwas von einem Überfall von außen, und vor allem liegt in dem Ausdruck die Behauptung, was in der Vergangenheit schon mal da war, werde wieder passieren. Beides sind in der Regel wenig nützliche Suggestionen.
Wir sagen daher heute lieber, dass jemand »sich entschieden hat, zu trinken«, und wir sprechen unbestimmter von »Vorfall«, der, was ja stimmt, ganz genauso in der Vergangenheit noch nie da war und aus dem man gegebenenfalls gute Schlüsse für die Zukunft ziehen kann. Sorgfalt im Umgang mit der Sprache ist für gute Psychotherapie wichtig, denn die Sprache ist das Skalpell des Psychotherapeuten. »Sich
entscheiden« ist eine vergleichsweise neutrale Formulierung. Sie beschuldigt nicht einfach, weil damit noch nichts zum Suchtdruck, zum Kontrollverlust und anderen drängenden Faktoren gesagt ist. »Sich entscheiden« erinnert aber an die Freiheit des Patienten, die immer noch besteht, trotz der Sucht. Und genau diese Freiheit ist es ja, die dann genutzt werden soll, um die Entscheidung zu treffen, nichts zu trinken. So steht der Süchtige zwischen der drängenden Sucht auf der einen und seiner Freiheit auf der anderen Seite. An die Chancen der Freiheit zu erinnern, ist Aufgabe jeder guten Therapie. Dabei vermag niemand von außen zu entscheiden, wie viel Sucht und wie viel Freiheit im Einzelnen vorliegt. Und vor allem: Kein Mensch kann sicher sein, ob er selbst bei vergleichbarem Suchtdruck nicht auch gegen seinen Willen getrunken hätte. Das macht Therapeuten bescheiden.
So kommt die Freiheit vor allem bei der Therapie mit ins Spiel. Unter dem Aspekt der Freiheit kann man durchaus fragen, was der Sinn einer psychischen Störung sein könnte. Es gibt bestimmte sogenannte Rentenneurosen, bei denen Menschen, die mehr Freude an der Rente als an der Arbeit haben, ganz bewusst ein Krankheitsbild simulieren, um an ihr Ziel zu gelangen. Eine Behandlung solcher Störungen ist natürlich aussichtslos. Denn die Behandlungsmotivation tendiert bei diesen Möchtegernpatienten gegen null. Doch es geht auch weniger absichtlich. Manche »reagieren« mit einer psychischen Störung auf irgendein Lebensereignis, ohne dass man dabei genau auseinandertüfteln kann, wie viel da unterbewusst und wie viel bewusst inszeniert ist. Jedenfalls ist die Perspektive der Freiheit für jede psychische Situation immer möglich. Auch sie ist natürlich stets mehr oder weniger angemessen. Man kann das ganze Leben eines Menschen als Kunstwerk seiner selbst betrachten. Und das gilt nicht nur für große Künstler, sondern im Grunde für jeden Menschen. Jeder ist seines Glückes Schmied, sagt der Volksmund. Und diesmal hat er jedenfalls nicht ganz unrecht.
Was frei entschieden wird, ist jedenfalls nie krank. Es ist gut oder böse, es ist sogar unglaublich gut und bestialisch böse. Und doch, es gibt keine Psychomethode, mit der man Gutes oder Böses vermehren oder vermindern kann, denn Gutes oder Böses zu tun, ist niemals krank. Psychische Krankheiten dagegen sind immer Einschränkungen der Freiheit eines Menschen, gut oder böse zu handeln. Durch die Symptome der Krankheit wird ein Patient mehr oder weniger daran gehindert, zu sagen und zu tun, was er selbst existenziell eigentlich sagen und tun will. Daher wird man einem Patienten in einer Phase schwerer psychischer Krankheit von existenziellen Entscheidungen abraten, also von Eheschließung und Ehescheidung, von Antritt oder Kündigung eines Arbeitsplatzes. Aufgabe jeder guten Therapie ist es, dass sie mit all ihren ausgeklügelten Methoden die Wahlfreiheit des Patienten für solche Entscheidungen möglichst schnell wiederherstellt.
b) Menschenwürde und Wahlfreiheit – Unsere Herren, die Kranken
Die Perspektive der Freiheit ist die wichtigste von allen Perspektiven auf das Leben. In ihr trifft man sozusagen den Menschen selbst an und nicht bloß seine Krankheit. Immer ist hinter all den sich in den Vordergrund drängenden psychischen Störungen der einzelne Mensch als freies Wesen da, auch wenn man das mitunter bei sehr ausgeprägten psychischen Erkrankungen nur ahnen kann. Der Respekt vor diesem geheimnisvollen, unverwechselbaren existenziellen Kern des Menschen, auf dem seine Würde beruht, unterscheidet eine menschenfreundliche Psychiatrie von ihrer menschenverachtenden Variante, die den Patienten nur als Ansammlung von Symptomen zu sehen vermag. Daher sind in einer humanen Psychiatrie Räume der Freiheit wichtig. Man darf nicht alles bloß unter therapeutischem Gesichtspunkt sehen. Die Patienten müssen auch mal tun und lassen können, was sie wollen. Sie sollten ohnehin so weit wie möglich in die Therapieplanung einbezogen werden. Es gibt nur wenige Studien darüber, auf welche Weise Ergotherapie, Kunsttherapie und
Musiktherapie helfen. Sicher ist aber, dass sie dort wohl kaum eine therapeutische Wirkung entfalten können, wo sie nur als aufgezwungene Behandlung erlebt werden. Wahlfreiheit wird damit zur konkreten Übersetzung der Menschenwürde in die therapeutische Praxis.
Das Prinzip des »informed consent«, der informierten Zustimmung durch den Patienten, gilt in der gesamten Medizin, aber es ist in der Psychiatrie besonders brisant. Denn einerseits ist die Wahlfreiheit des Patienten krankheitsbedingt manchmal zeitweilig eingeschränkt, sodass der Rechtsstaat nach strengen Regeln Hilfspersonen bestimmt, die für ihn entscheiden müssen. Andererseits muss dennoch der Respekt vor der Freiheit des Patienten im Zentrum aller Bemühungen stehen. Denn die krankhafte Unfreiheit im Dienste der Freiheit des Patienten zu überwinden, ist Ziel aller Therapie. Daher muss es letztlich immer der Patient sein, der das Ziel der Therapie bestimmt, und wir Therapeuten haben diesem Ziel in kooperativer Haltung zu dienen. Das mögen dann manchmal auch merkwürdige Ziele sein.
Als junger Arzt in der Psychiatrie hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Eine chronisch schizophrene Patientin hörte Stimmen. Sie war gescheit, etwas skurril, daher auf Hilfe angewiesen, aber guter Stimmung. Ich befasste mich ausführlich mit ihrer Krankengeschichte und stellte fest, dass man offenbar aus mir unerfindlichen Gründen keinen Versuch gemacht hatte, die Psychopharmaka höher zu dosieren, damit das Stimmenhören endlich aufhörte. Ich besprach das kurz mit der Patientin. Beim nächsten ambulanten Termin traf ich auf eine außerordentlich verstimmte Patientin. Was ich denn da angestellt hätte! Es ginge ihr jetzt viel schlechter als vorher. Ob denn die Stimmen aufgehört hätten, fragte ich. Ja, die hätten aufgehört, doch gerade das sei das Problem. Sie habe immer die freundliche Stimme einer verstorbenen Lehrerin gehört. Das habe ihr gutgetan. Und diese Stimme sei jetzt weg … Ich war ratlos. Da hatte ich gelernt, wie man
Stimmen wegmacht, und hatte dieses Wissen auch korrekt und vor allem mit Erfolg angewendet. Doch die Patientin war dafür noch nicht einmal dankbar, im Gegenteil, sie beschimpfte mich. Ich versuchte, mich in die Gedankenwelt der Patientin zu versetzen. Sie litt nicht unter der Stimme, die Stimme gehörte zu ihrer Welt, in der sie sich offensichtlich wohlfühlte. Und so entschloss ich mich, die Neuroleptika wieder zu reduzieren, bis die Stimme der Lehrerin wiederkam. Die Patientin war zufrieden – und ich hatte wieder mal viel gelernt. Natürlich ist das Hören von Stimmen für die meisten Menschen eine unangenehme Beeinträchtigung. Doch manchmal eben auch nicht. Und da wir nicht Diagnosen behandeln, sondern Menschen, und diese Menschen mit ihren Zielen im Mittelpunkt stehen, war in diesem besonderen Fall die Konsequenz für mich klar.
Ich habe es später mit erfahrenen Patienten immer so gehalten, dass ich ihnen den jeweiligen Stand der Wissenschaft erläutert habe, sodass sie dann selbst entscheiden konnten, welches Medikament sie in welcher Dosis nehmen wollten. Selbstverständlich habe ich nur Therapieziele und Therapiemethoden akzeptiert, die ich ethisch verantworten konnte, doch zu Konflikten ist es da kaum je gekommen. Denn Patienten sind in aller Regel vernünftige Menschen. Und warum sollen sich vernünftige Menschen auf Dauer selber schaden wollen?
Der moderne Dienstleistungsgedanke steht der Psychiatrie gut an und vielleicht auch die Erinnerung an die mittelalterlichen Krankenanstalten der Johanniter, die stets von »unseren Herren, den Kranken« sprachen. Orte der Freiheit in der Psychiatrie können auch Gespräche mit Seelsorgern der jeweiligen Religion sein. Denn das sind keine zum Zweck der Behandlung geführten therapeutisch-methodischen Gespräche, bei denen sich der Therapeut letztlich bedeckt hält, sondern das ist im besten Fall ein freier Austausch von Existenz zu Existenz.
Die religiöse Perspektive ist eine kollektive Form der existenziellen
Perspektive. Ausnahmslos alle psychischen Situationen kann man unter religiöser Perspektive sehen: als Fügung Gottes, als Versuchung des Teufels. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht wahr, das ist aber auch nicht falsch. Vielmehr mag die religiöse Perspektive in jedem einzelnen Fall angemessen oder unangemessen, nützlich oder wenig nützlich sein. So ist in einer schweren Depression die wahnhafte Vorstellung eines Menschen, von Gott verlassen oder des Teufels zu sein, eine kranke Vorstellung. Der Patient kann sich ohne Behandlung von dieser Vorstellung nicht lösen. Man wird als religiöser oder als atheistischer Psychiater dieser Vorstellung nachdrücklich widersprechen. Doch wenn ein Mensch im Nachhinein seine Erkrankung als Prüfung Gottes oder als Versuchung des Teufels interpretieren will, dann ist das eine mögliche Perspektive eines bestimmten Patienten, die jedenfalls aus psychiatrischer Sicht nicht zu widerlegen ist. Wenn Psychiater und Psychotherapeuten auf diese Weise die Religiosität von Patienten respektieren, dann ist es nicht erforderlich, dass religiöse Menschen von religiösen Psychiatern behandelt werden. Manchmal kann das sogar schädlich sein, dann nämlich, wenn bei bestimmten Therapeuten die Gefahr besteht, dass die notwendige Grenze zwischen Psychotherapie und Seelsorge verwischt wird.
Am Beispiel der religiösen Perspektive wird noch einmal besonders klar, dass es bei den unterschiedlichen Sichtweisen, unter denen man psychische Phänomene sehen kann, nicht um die Wahrheit geht. Frühere Auseinandersetzungen zwischen therapeutischen Schulen darüber, ob nun die biologische, die psychoanalytische, die verhaltenstherapeutische oder irgendeine andere Sicht wahr sei und alle anderen daher falsch, sind inzwischen glücklicherweise überwunden. Man muss viele Methoden kennen und dann die für den Patienten und übrigens auch für den Therapeuten angemessenste Methode wählen.