II WER SORGEN HAT, HAT AUCH LIKÖR – SUCHT, DIE PEINLICHE KRANKHEIT
1. FIRMA, FRAU UND FÜHRERSCHEIN – DIE SENSIBLEN DREI F
Ich hatte mal wieder psychiatrischen Bereitschaftsdienst im Krankenhaus, und ausgerechnet in der Tiefschlafphase, so gegen 3 Uhr, wurde ich geweckt. Ein Patient sei da zur Aufnahme. Mühsam entrollte ich mich meinem Bett. Man ist auch nur Mensch und um diese Zeit hält sich das Interesse für spannende Diagnosen in bescheidenen Grenzen. Wirklich aufregend schien der neue Fall auch nicht zu sein, denn schon von ferne sah ich einen leicht torkelnden Mann mittleren Alters und beim Nähertreten umwehte mich eine Alkoholfahne, die es in sich hatte und von der ich befürchten musste, dass sie meine eigene Dienstfähigkeit auf Dauer bedrohte. Der Mann war erheblich fröhlicher als ich und eröffnete gleich leutselig das Gespräch mit der Frage, wie es mir denn wohl so gehe. Ich gestand – in weniger leutseligem Ton –, dass es mir nachts um 3 Uhr nach plötzlichem Erwachen in der Regel nicht sehr gut gehe, und raffte mich auf zur Gegenfrage, was er seinerseits denn hier so mache. Bereitwilligst erklärte er, dass er wohl etwas zu viel getrunken habe, und da habe er total harmlose Auseinandersetzungen in einer Kneipe gehabt. Der humorlose Wirt habe daraufhin völlig überflüssigerweise die Polizei gerufen und die habe ihn vor die ganz absurde Alternative gestellt: Ausnüchterungszelle bei der Polizei oder Psychiatrie. Da habe er sich natürlich für die Psychiatrie entschieden. Dabei strahlte er mich so gönnerhaft an, als erwartete er nun einen herzlichen Dank, dass seine Wahl ausgerechnet auf uns und speziell auf mich gefallen sei. Da man Patienten gegenüber zwar nicht immer offen, aber doch stets ehrlich sein soll, und ich noch nicht sicher war, ob der Patient über echten Humor verfügte, unterließ ich es, mich für seinen nächtlichen Besuch wärmstens zu bedanken, und ging, um Zeit zu sparen, gleich aufs Ziel
los: »Sie sind also Alkoholiker.« Das Erstaunen des Patienten war grenzenlos: »Wie kommen Sie denn darauf?« – »Wer nachts um diese Zeit mit einer solchen Alkoholfahne eingeliefert wird, ist meistens Alkoholiker«, antwortete ich freundlich. Der Patient wurde leicht kumpelhaft: »Ich kann Sie gut verstehen, Herr Doktor, aber Sie irren sich. Ich bin weit davon entfernt, Alkoholiker zu sein. Ich möchte auch gar nicht bleiben, sondern am liebsten gleich wieder nach Hause. Wissen Sie, Sie trinken mal etwas zu viel, ich trinke mal etwas zu viel. So ist das Leben. Deswegen sind wir beide doch keine Alkoholiker …« Breit grinsend stand der Patient vor mir. Seine Gesichtshaut war leicht gerötet und zeigte auch sonst Kennzeichen, die für Alkoholiker typisch sind. Ich wollte mich nicht auf eine lange Diskussion einlassen und so kam ich gleich zur Sache: »Haben Sie eigentlich schon einmal eine Abmahnung am Arbeitsplatz bekommen?« – »Ja Herr Doktor, vor einem Jahr.« – »Wegen Alkohol?« – »Ja, aber das war reiner Zufall. Wir hatten Betriebsfest und alle haben tüchtig getrunken. Nur mich hatte der Chef auf dem Kieker. Ich muss wohl irgendwie laut geworden sein. Und da würgt der Alte mir eine Abmahnung rein. Die Welt ist ungerecht …« »Sind Sie verheiratet?« – »Ja.« – »Hat Ihre Frau schon mal mit Scheidung gedroht?« Der Patient schaute mich ungläubig an: »Woher wissen Sie das denn?« – »Wegen Alkohol?« – »Na ja, das war eine ganz blöde Sache. Es gab Probleme bei der Arbeit, Probleme im Freundeskreis, und da hatte ich mir abends halt mal einen gezwitschert. Wie ich ins Bett gekommen war, wusste ich nicht mehr. Und da sagt mir meine Frau am anderen Morgen, sie habe keine Lust mehr, mit einem Besoffenen im Bett zu liegen. Mich hat das sehr getroffen, denn ich liebe meine Frau. Und das hatte sie nicht zum ersten Mal gesagt. Dabei sind wir schon 30 Jahre glücklich verheiratet und ich war immer so eine treue Seele …« – »Haben Sie schon einmal den Führerschein verloren?« – »Ja …« – »Wegen Alkohol?« »Ja wissen Sie, das war nach einer Vereinsfeier und ich bin die paar Hundert Meter nach Hause gefahren …« Der Patient unterbrach sich. Sein verblüffter Gesichtsausdruck verriet angestrengte Geistestätigkeit. Er packte mich
am Arm, legte seine Stirn in bedeutsame Falten, als hätte er gerade eine unglaubliche Entdeckung gemacht, und stieß dann treuherzig hervor: »Herr Doktor, das ist aber jetzt wirklich merkwürdig. Schon wieder Alkohol. Da muss ich wohl ein Problem haben …« Ich stimmte ihm freimütig zu und schlug vor, die Sache morgen noch einmal genauer zu bereden, wenn er nüchtern und ich ausgeschlafen sei. Jetzt war der Patient widerstandslos einverstanden zu bleiben und ging, nachdenklich über sich selbst den Kopf schüttelnd, immer noch leicht schwankend zu Bett.
Die Diagnose der Alkoholabhängigkeit ist etwas ganz Besonderes: Denn nur der Patient kann sie letztlich stellen. Es gibt zwar Laborwerte, mit denen man den Alkoholkonsum in der vergangenen Zeit messen kann, aber ob dieser Alkoholkonsum auf der psychischen Krankheit Alkoholabhängigkeit beruht, die die Freiheit des Menschen so einschränkt, dass er unter dem fast unüberwindbaren Drang steht, zu trinken, das weiß wirklich nur der Patient.
Es gibt den Spruch: Der Alkoholiker geht dem Arzt aus dem Weg und der Arzt geht dem Alkoholiker aus dem Weg. Alkoholiker lassen sich nicht gern mit ihrem Problem konfrontieren und Ärzte sind es seit Jahrhunderten gewohnt, dass der Patient gefälligst tut, was der Herr Doktor sagt. Doch genau das funktioniert bei Alkoholikern nicht und deswegen sind Alkoholiker unbeliebte Patienten. Der Alkoholiker verspricht sich selbst und dem Arzt nicht selten das Blaue vom Himmel, löst solche Versprechen aber dann allzu oft in Alkohol auf. Das ist für alle Beteiligten frustrierend.
Und daher haben manche hervorragenden Hausärzte nur begrenzte Ahnung vom Alkoholismus. Da gibt es dann frohe Botschaften nach dem Motto: Sie sind kein Alkoholiker, Ihre Leberwerte sind einwandfrei! Dabei sagen die Leberwerte allein gar nichts aus. Es gibt Menschen, die keine Alkoholiker sind und doch schon bei geringen Dosen Alkohol mit Leberwerterhöhung reagieren. Und es gibt
Alkoholiker, die horrende Mengen Bier pro Tag konsumieren, aber dennoch jungfräuliche Leberwerte haben. Manchmal ist die Situation, in der Alkohol konsumiert wird, viel gefährlicher als die schiere Menge. Bei Menschen in südlichen Ländern, die Wein ritualisiert zum Essen trinken, entgleitet der Konsum viel seltener im Sinn eines exzessiven Alkoholismus. Das Problem ist die Privatisierung des Konsums: Ich und mein Kühlschrank. Dass es in einer individualisierten Gesellschaft keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr gibt, also der Zusammenbruch der Esskultur, ist eine wichtige Ursache für die Zunahme von Trunk- und Esssucht.
Die Menge des Alkoholkonsums allein ist also kein sicheres Kriterium. Gewiss, bei einem Glas Bier pro Tag wird man nicht zum Alkoholiker. Doch über Mengen zu diskutieren, bringt ohnehin nichts, denn man wird im Zweifel die wahren Mengen nicht erfahren und die sind auch nicht wirklich relevant. Im Rheinland ist es manchmal gar nicht so einfach, herauszubekommen, ob ein Patient überhaupt Alkohol trinkt. Fragt man den durchschnittlichen Rheinländer, ob er Alkohol trinkt, streitet der das bisweilen vehement ab. Fragt man dann geistesgegenwärtig, wie viel »Kölsch« er trinkt, dann kann man zu hören bekommen: »Ach so, das meinen Sie, Herr Doktor. Na ja, sagen wir mal einen Kasten pro Tag …« Auch manche gepflegte ältere Dame streitet auf die Frage nach Alkoholkonsum theatralisch alles ab: »Wo denken Sie hin, Herr Doktor, keinen Tropfen!« Fragt man dann möglichst harmlos nach, wie viel »Klosterfrau-Melissengeist« es denn so pro Tag werden könnte, kommen enorme Mengen zutage: ein, zwei Fläschchen täglich! Man muss wissen: Klosterfrau-Melissengeist ist einer der stärksten Schnäpse Deutschlands, fast reiner Alkohol, 79 Prozent! »Aber er tut doch so gut … in den Tee, in den Kaffee … Er hilft eigentlich gegen alles …« In der Tat, die entzückende ältere Dame ist voll wie eine Haubitze, geht aber nach jahrelangem Training noch vergleichsweise senkrecht über den Flur. Jetzt hat sie allerdings leider einen unangenehmen Entzug vor sich.
Bei der Diagnose Alkoholabhängigkeit kommt es also nicht so sehr auf Alkoholmengen, Leberwerte oder andere messbare Daten an. Alkoholabhängigkeit zeigt sich vielmehr daran, dass der Patient die Unbefangenheit dem Suchtmittel gegenüber verloren hat und durch den drangvollen weiteren Konsum sein Leben ruiniert. So sind zwar Suchtdruck, der Verlust der Kontrolle über das Suchtmittel und Entzugssymptome Kennzeichen der Alkoholabhängigkeit. Auch die Toleranzentwicklung gehört dazu: Der Alkoholiker verträgt zeitweilig mehr Alkohol als andere, weil die angeschlagene Leber den Alkohol schneller verarbeitet. Doch all das will der Süchtige vor sich selbst und anderen lange Zeit nicht wahrhaben. Und so sind die Fragen nach den berühmten »drei F« – Firma, Frau, Führerschein – weiterführend. Kein Zweifel, der Beruf ist existenziell von entscheidender Bedeutung. Wer also so weit geht, eine Abmahnung zu riskieren, weil er trinkt, der hat zum Alkoholkonsum eine ungesunde Beziehung. Die Partnerschaft ist wesentliche Voraussetzung fürs Lebensglück. Wer sie leichtfertig durch unverdrossenes Alkoholtrinken aufs Spiel setzt, beweist, dass die Beziehung zum Alkohol ihm wichtiger geworden ist als die Beziehung zu seiner Frau. Und auch die Bedeutung des Führerscheins ist nicht zu unterschätzen. Der Führerschein ist für viele Menschen die Voraussetzung ihrer Bewegungsfreiheit. Diese Freiheit dennoch durch Alkoholkonsum zu gefährden, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es mit der Freiheit dem Alkohol gegenüber nicht mehr weit her ist. Um die Abhängigkeit zu erklären, sage ich manchmal: »Wenn ich Ihnen empfehlen würde: Essen Sie ab sofort kein Joghurt mehr, sonst bekommen Sie massive Probleme, dann könnten Sie sich wohl ohne Schwierigkeiten daran halten. Doch für den Alkohol sind Sie sogar bereit, Beruf, Partnerschaft und Führerschein aufzugeben. Offenbar haben Sie zum Alkohol ein durchaus anderes Verhältnis als zu Joghurt.« Auf solche oder ähnliche Weise können Patienten, die sich nicht »Alkoholiker« nennen wollen, zugeben, dass sie »ein Problem mit dem Alkohol« haben. Diese zutreffende Eigendiagnose reicht völlig, um eine anständige Therapie zu beginnen.
2. DAS MÄNNCHEN MIT DEM GLASKOPF – WAS DIE PSYCHIATRIE MIT DER MAFIA VERBINDET
Die Therapie fängt mit dem Entzug an. Was ist das eigentlich?
Entgiftung heißt die erste Phase des Entzugs. Sie dauert meistens nur wenige Tage. Und da behandelt man die körperlichen Entzugssymptome des Patienten. Die leichteren Formen sind Schwitzen, Unruhe, Zittern, Ängstlichkeit, Schlaflosigkeit. Wenn die Symptome stark ausgeprägt sind, gibt man Entzugsmedikamente, die vor allem den zwei gefährlichsten Entzugsereignissen vorbeugen, dem epileptischen Entzugsanfall und dem Delirium tremens, »Weiße-Mäuse-Sehen«, wie der Volksmund sagt. Wer was am ehesten bekommt, das ist von Patient zu Patient verschieden und nicht eigentlich vorhersehbar; es sei denn, der Patient hat schon einmal einen Entzug durchgemacht. Als Entzugsmedikamente geben manche ein Benzodiazepin, das beruhigt und vor allem vor Anfällen schützt, andere geben »Distraneurin«, was vor allem das Delirium tremens behandelt. Beide Medikamente haben selbst ein Abhängigkeitspotenzial, sodass man sie nur streng kontrolliert und streng vorübergehend geben darf. Wer im Entzug einen Anfall bekommt, ist noch kein Epileptiker, und außerhalb des Entzugs ist er zumeist vor Anfällen sicher.
Das viel gravierendere Problem ist das Delir. Das Delir ist ein höchst merkwürdiges vorübergehendes Phänomen, das als organisch psychische Störung ganz viele Ursachen haben kann, im Allgemeinkrankenhaus nach Operationen und bei schweren körperlichen Erkrankungen auftritt. In der Psychiatrie sehen wir es aber am häufigsten beim Alkoholentzug. Es ist eine ernste Sache, denn unbehandelt verläuft es mitunter tödlich. Doch sein Ablauf kann unfreiwillig witzig sein. Im Delir ist der Patient in einem veränderten Bewusstseinszustand, an den er sich im Nachhinein zumeist nicht erinnert. Er ist völlig desorientiert und zugleich höchst suggestibel. Das heißt, man kann ihm alles Mögliche einreden. Ich erinnere mich noch
gut an die Vorlesung, in der ein deliranter Patient im Bett hereingefahren wurde. Der Professor hielt ihm ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier vor und wies ihn an, den – nicht vorhandenen – Text vorzulesen. Nach einem gewissen Zögern las der Patient höchst bereitwillig einen fantasierten, wirren Text vom Blatt. Delirante Patienten haben oft optische Halluzinationen, sehen kleine bewegliche Phänomene, die sie als »Tierchen«, »weiße Mäuse« oder Ähnliches wahrnehmen. Das ist für die Patienten durchaus beunruhigend. Außerdem verkennen sie oft grotesk die Situation. Bei der Visite fragte der Chefarzt den deliranten Patienten, wo er sich denn hier befinde. Nach einem unsicheren Blick durch den Flur der geschlossenen psychiatrischen Station meinte der Patient mit fragendem Blick: »In der Bäckerei?« Der Chefarzt insistierte, indem er an seinen eigenen weißen Arztkittel griff: »Aber wer bin ich denn?« Jetzt war der Patient erleichtert und rief im Brustton der Überzeugung: »Der Bäcker natürlich!« Der Chefarzt hatte keine weiteren Fragen, die Studenten schmunzelten. Ein anderer Patient wähnte sich in der Bahn und kam immer wieder ins Stationszimmer, um die Fahrkarte zu lösen. Wieder ein anderer, früher zur See gefahren, meinte, sich auf einem Hochseedampfer zu befinden, und hielt sich auf dem Stationsgang dramatisch an den Handläufen fest, da »schwerer Seegang« herrsche. Die Patienten sind dabei eher zutraulich, verunsichert und kaum je aggressiv.
Unvergesslich ist mir ein Fall aus meiner Zeit im sogenannten Praktischen Jahr, dem letzten Jahr des Medizinstudiums. Ich war in einer neuen kleinen psychiatrischen Abteilung an einem Allgemeinkrankenhaus tätig. Wir behandelten einen etwas skurrilen, aber sehr liebenswürdigen Patienten aus den Tiefen der Eifel, der unter einem auffälligen Phänomen litt. Er sah immer wieder ein kleines Männchen »mit enem Glaskopp und janz vielen Rädchen dadrin. Und Herr Doktor, wenn isch et krisch – isch schlag et kapott …« Morgens bei der Visite kamen wir in sein Zimmer. Großes Chaos, Matratzen
hochgestellt, Kissen und Decken auf dem Boden. Er war mal wieder auf der Jagd nach dem Männchen gewesen. »Na, wo ist es denn jetzt?«, fragte der Chefarzt. Dramatisch zeigte der Patient auf das hohe Fenster: »Da oben, Herr Doktor, da klemp et im Fenster …« Der Patient wurde mit Neuroleptika behandelt, um die Halluzinationen und den Wahn wegzubekommen. Und ich hatte die Aufgabe, in täglichen Gesprächen herauszufinden, ob der Patient sich von seinem Wahnerleben distanziere.
Nach einigen Tagen trat bereits eine gewisse Beruhigung ein. Die Empörung des Patienten ließ nach, und auf meine skeptischen Fragen, ob er nicht langsam etwas unsicher würde, denn solche Männchen gäbe es doch in Wirklichkeit gar nicht, begann der Patient tatsächlich, auch selber Zweifel anzudeuten. Ich war stolz wie Oskar. Die Behandlung zeigte deutliche Fortschritte, der Patient wirkte freier. Eines Tages nun hatten wir einen Alkoholiker ins andere Bett desselben Zimmers aufgenommen. Auf der Abteilung galt das Durchmischungsprinzip. Wie im normalen Leben wurden die Patienten nicht nach Diagnosen auf verschiedene spezialisierte Stationen aufgeteilt. Niemand hatte sich also bei der Aufnahme dieses Alkoholikers etwas gedacht. Als ich am nächsten Morgen meinen schon so erfolgreich anbehandelten Patienten mit dem »Männchen« ins Arztzimmer zu unserem routinemäßigen Morgengespräch bat, fiel mir eine merkwürdige Veränderung auf. Er wirkte plötzlich wieder irgendwie kämpferisch und hatte erneut jenes überlegene Lächeln um die Lippen, das Wahnkranke bisweilen uns schlichten Wirklichkeitsideologen gegenüber an den Tag legen. Kaum hatten wir uns gesetzt, brach es aus ihm heraus: »Herr Doktor, jetz is et klar: Der andere hat et auch jesehen!« Ich war völlig überrascht. »Was hat der andere gesehen?« – »Na, dat Männchen!«, rief der Patient triumphierend aus. Mit allem hatte ich gerechnet, doch nicht damit. Ich sprang auf und lief mit dem Patienten in sein Zimmer. Da lag nun der andere Patient noch im Bett. Er sah verändert aus. Gestern hatte er nur gezittert. Das war auch jetzt zu sehen. Doch es war
schlimmer geworden und er nestelte nun unkoordiniert an seinem Plumeau herum. Die Augen wirkten etwas glasig, er schwitzte stark und schaute unsicher im Zimmer herum. »Was haben Sie gesehen?«, fragte ich. Da begann der Patient mit den Händen einen runden Kopf zu umschreiben und sagte: »Ich habe so ein kleines Männchen gesehen, mit so einem Glaskopf und ganz vielen Rädchen darin …« Die Beschreibung war völlig identisch. Das war einer der kurzen Momente, wo man als Psychiater kurz überlegt, wer hier nun eigentlich verrückt ist. Doch als ich mich gefangen hatte, wurde mir klar, was passiert war: Der Alkoholiker war über Nacht ins Delir gerutscht, hatte sich, suggestibel wie er nun einmal war, die plastischen Beschreibungen seines Zimmernachbarn angehört und das alles für bare Münze genommen. Es war dann gar nicht so einfach, meinem Patienten zu erklären, dass auch zwei gleichlautende Aussagen in der Psychiatrie und bei der Mafia nicht immer die Wahrheit beweisen.
Es kann aber auch andere Komplikationen geben. Einmal wurde ein über 70-jähriger Patient mit der Diagnose »Morbus Parkinson« eingeliefert. Der Hausarzt hatte die Diagnose gestellt. Wir waren damals auch für neurologische Erkrankungen zuständig und der Patient war tatsächlich schwer beeinträchtigt. Er zitterte am ganzen Körper, saß im Rollstuhl und war völlig hilflos. Nur eines fiel sofort auf. Das Zittern war irgendwie merkwürdig. Er zitterte nicht in dem vergleichsweise langsamen Rhythmus, der für die Parkinson’sche Erkrankung typisch ist, er zitterte vielmehr wie Espenlaub. Auch die Entwicklung der Erkrankung war ungewöhnlich. Mehr oder weniger plötzlich hatte das Zittern etwa vor drei Monaten begonnen, und die Antiparkinsonmedikamente, die der Hausarzt verschrieben hatte, hatten es eher schlimmer gemacht. Wir fragten genau nach. Die weitaus meisten Diagnosen ergeben sich durch eine sorgfältige Erhebung der Krankengeschichte eines Patienten. Und dabei kam etwas Unerwartetes heraus. Der Patient nahm nämlich seit Jahren in immer höheren Dosen Benzodiazepine ein. Der Hausarzt wusste nichts davon, denn der
Patient hatte die »Schlafmittel« von seiner Frau bekommen. Die aber war nun vor drei Monaten verstorben. Er war mit den Medikamenten immer mehr durcheinandergekommen. Mal nahm er über längere Zeit gar keine ein und bekam deswegen einen Entzug von den Benzodiazepinen. Der beginnt nicht sofort wie beim Alkohol, sondern zumeist erst einige Tage nach dem Absetzen. Er war unruhig geworden, ängstlich, hatte schlechter geschlafen und vor allem begonnen zu zittern. Dann hatte er wieder Benzodiazepine eingenommen und die Symptome hatten nachgelassen. Da schließlich aber kein Nachschub mehr kam, hatte das Zittern zugenommen und ihn endlich in den Rollstuhl gebracht. Antiparkinsonmittel, die der Hausarzt eingesetzt hatte, verstärkten das Entzugszittern aber noch, und so war ein Teufelskreis eingetreten, der nun zur Aufnahme führte. Wenn Menschen über Jahre Benzodiazepine nehmen, dann setzt man diese Medikamente im höheren Alter nicht mehr ab, weil der Entzug doch sehr belastend ist. In diesem Fall aber war die Situation für den Patienten durch die relativen Entzüge noch belastender geworden, sodass wir einen vollständigen Entzug durchführten. Der Patient geriet sogar in ein Delir, versuchte nachts, eine Baugrube unter seinem Bett auszuheben, doch damit war der Entzug vorbei. Der Patient stand auf. Er konnte ohne Hilfen wieder gehen. Der Rollstuhl wurde verkauft und ein gepflegter älterer Herr in vergleichsweise gutem Zustand verließ voller Dankbarkeit die stationäre Behandlung.
Die Benzodiazepinabhängigkeit wirft übrigens einen Schatten auf die Ärzteschaft: Sehr häufig sind es Ärzte, die durch eine leichtsinnige Verschreibungspraxis eine Mitschuld an dieser Abhängigkeit haben. Freilich tragen auch Patienten dazu bei, wenn sie ultimativ von ihrem Arzt verlangen, dass der ihren Schlaf sicherstellen muss: »Der Nachbar hat von seinem Arzt da etwas Großartiges verschrieben bekommen …« Unmittelbar und sofort Schlaf herzustellen oder Angst wegzumachen, das ist ein Anspruch, der in die Abhängigkeit führt. Auch die Sucht nach Schmerzmitteln kann auf diese Weise entstehen. Sie hat zusätzlich
den unangenehmen Effekt, dass irgendwann die Schmerzmittel selbst den Schmerz bewirken, ein Teufelskreis, der einen Entzug dringend nötig macht.
Medikamentenabhängige Patienten profitieren von ähnlichen Hilfen wie alkoholabhängige. Es gibt Suchtberatungsstellen für Alkohol- und Medikamentenabhängige, die informieren, motivieren und alles Weitere organisieren. Nach der zumeist stationären Entgiftung können die Patienten Selbsthilfegruppen besuchen, die sich als höchst erfolgreich erwiesen haben. Man kann aber auch eine ambulante, tagesklinische oder stationäre Langzeittherapie anschließen.
3. THERAPIE – WAS TUN, STATT SÜCHTIG SEIN?
Wie kann man Alkoholabhängigkeit therapieren? Wenn wir heute Sucht als Erkrankung der Wahlfreiheit verstehen, dann ist eine kooperative Beziehung zwischen Therapeut und Patient wichtig. Als junger Assistenzarzt war man früher bei Alkoholikern in einer misslichen Situation. Entweder es handelte sich um einen zu missionierenden oder um einen bereits missionierten Patienten. Der zu missionierende Patient versuchte einem etwas kumpelhaft klarzumachen, dass er gar kein Alkoholiker sei: »Wissen Sie, Herr Doktor, jeder trinkt doch mal ein bisschen …« Da entfaltete man dann als junger Arzt die ganze Drohkulisse der alkoholbedingten Katastrophe, was regelmäßig damit endete, dass der Patient, wenn er so weitermache, sich demnächst die Radieschen von unten anschauen müsse. Während man selbst am Schluss einer solchen ellenlangen Debatte, die beim Patienten nicht das Geringste bewirkte, mit den Nerven ziemlich am Ende war, saß vor einem ein vergleichsweise entspannter Mensch, der einen in freundlichem Ton beruhigte: »Nehmen Sie es nicht so schlimm, Sie meinen es ja gut, aber ich bin nun mal kein Alkoholiker …« Erst viel später wurde mir klar, dass der
Patient natürlich jahrelang für ein solches Gespräch trainiert hatte. Er kannte diese bedrängenden Gespräche nämlich zur Genüge von seiner Ehefrau, von Freunden, von Angehörigen, die in zunehmender Verzweiflung den Druck immer weiter erhöht hatten, sodass der Patient immer besser gelernt hatte, solchen »Motivationsgesprächen« auszuweichen.
Nun sollte man denken, das Gegenteil, der erfolgreich missionierte Patient, sei für den Therapeuten eine Labsal. Aber weit gefehlt. Da sitzt dann ein strahlender Patient vor dem Therapeuten und erklärt sofort bereitwillig, dass er wieder getrunken habe. In leicht belehrendem Ton erläutert er, er sei nämlich Alkoholiker, habe »Suchtdruck« gehabt und deswegen getrunken. Dann sei der bei Alkoholikern übliche »Kontrollverlust« eingetreten und jetzt sei er eben wieder da. Was nun? Was sollen Sie als Therapeut einem solchen Patienten noch erklären? Der weiß doch schon alles! Der missionierte Patient kann manchen Therapeuten ratloser machen als das zu missionierende Greenhorn.
Therapeutisch wird man aus heutiger Sicht in beiden Fällen auf die Verantwortung des Patienten abheben und seine Wahlfreiheit stärken. Wir achten daher sehr auf eine wertschätzende kooperative Beziehung zu den Patienten und richten den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf die vorhandenen Fähigkeiten. Das sind diese Menschen oft gar nicht gewohnt. Sie erwarten von Therapeuten wie von allen anderen Menschen die Frage: »Warum sind Sie rückfällig geworden?« Dabei ist diese Frage gar nicht besonders interessant. Nicht selten sind es immer dieselben Situationen und es ist immer wieder beschämend für den Patienten, seinen »Sündenfall« zu beschreiben. Viel nützlicher ist die Frage: »Wie haben Sie eigentlich Ihren Rückfall beendet?« Manch resignierter Patient, der auch von Therapeuten vielleicht nur noch weitere Demütigungen erwartet, antwortet dann: »Die Flasche war leer, Herr Doktor.« Doch wenn man freundlich sagt: »Wenn einer von uns beiden weiß, wo er eine neue Flasche herbekommt, dann sind das doch
wahrscheinlich Sie«, dann nickt der Patient und erzählt nun, dass er doch an seine Frau gedacht habe, an seine Kinder, und da habe er sich entschlossen: »Jetzt gehst du in Therapie!« Mit feuchten Augen sitzt der Patient dann da, und wer als Therapeut so fragt, ist manchmal ganz ergriffen von den unglaublichen Bemühungen und den Kämpfen, die Alkoholiker unternehmen, um immer wieder aufzustehen. Ein solcher Gesprächseinstieg lässt den Patienten nicht von ganz tief unten zum Therapeuten aufblicken, sondern auf diese Weise kann ein solcher Mensch dem Therapeuten auf Augenhöhe als jemand begegnen, der etwas geschafft hat und weiter vorangehen will.
Wir haben dann die Aufgabe, den Patienten objektiv auf dem heutigen Stand der Wissenschaft über seine Lage zu informieren sowie über die Hilfsmöglichkeiten, die es gibt und unter denen er wählen kann, was er für am nützlichsten hält. Dabei muss sich der Patient nicht auf bei Suchttherapeuten beliebte Begriffe festlegen. Ob er nun »Alkoholiker« ist oder ob er »Probleme mit dem Alkohol« hat, ist für eine aussichtsreiche Therapie ohne Belang. Auch ob er sich für immer oder nur erst mal für eine gewisse Zeit zur Abstinenz entschließt, ist nicht entscheidend. Wichtig ist, dass der Patient den Eindruck hat, dass er offen reden kann, sich nach guter Information selber für die Maßnahmen entscheiden kann, die er für hilfreich hält, und nicht auf irgendwelche gern gehörten Planungen festgelegt wird.
Entscheidend sind nicht heilige Schwüre, er wolle keinen Alkohol mehr trinken, sondern die wirklich spannende Frage ist, was er denn tun kann oder tun möchte, anstatt Alkohol zu trinken. Denn der Alkoholkonsum hat oft durchaus nachvollziehbare Motive: Probleme, Unsicherheit, Langeweile etc. Wenn ein Mensch da bloß auf Alkohol verzichtet, hat er die gleichen Probleme, die gleiche Unsicherheit, die gleiche Langeweile, nun aber ohne Alkohol. Das macht es auch nicht besser. Was also kann man bei Problemen, Unsicherheit und Langeweile tun anstatt des bisher irgendwie hilfreichen
Alkoholkonsums?
Wichtig ist es, die Angehörigen einzubeziehen, die oft seit Jahren ebenfalls unter der Abhängigkeit des Patienten leiden. Doch es muss klar sein, dass die Verantwortung für die Therapie beim Patienten bleibt. Nicht selten ergeben sich in Suchtfamilien Konstellationen, die man das »Drama-Dreieck« genannt hat. Da gibt es die »Retter«, die powern sich aus, um den Patienten, nennen wir ihn Willi, zu retten. Sie räumen ihm die Flaschen weg, rufen montags beim Arbeitgeber an, um ihn wegen »Grippe« zu entschuldigen, halten die Fassade gegenüber Nachbarn und Freunden aufrecht. Oft sind das die Ehefrauen. Und dann gibt es da die »Verfolger«, meist pensionierte »Retter«, die jahrelang versucht haben, Willi zu retten, immer wieder enttäuscht wurden, weil alle heiligen Schwüre gebrochen wurden, und die jetzt nur noch sauer sind auf Willi. Zwischen beiden Gruppen entwickelt sich dann ein Titanenkampf. Die »Verfolger« beschuldigen die »Retter«, dass sie es sind, die es dem Patienten immer weiter ermöglicht haben zu trinken. Damit haben sie gar nicht so unrecht. Und die »Retter« ihrerseits beschuldigen die »Verfolger«, dass sie den Patienten mit ihrer andauernden ätzenden Kritik immer wieder in die Sucht treiben. Auch nicht ganz falsch. So tobt der Kampf zwischen »Rettern« und »Verfolgern« – und Willi kann in Ruhe weiter trinken, denn um den kümmert sich keiner. Wenn die beiden Parteien sich aber besinnen und überlegen, wer hier eigentlich trinkt, dann erst richtet sich beider Blick auf Willi. Dann wird klar, dass der es ist, der entscheiden muss, und dann gibt es die Chance auf eine erfolgreiche Therapie.
Wenn Probleme im Bereich der drei F – Firma, Frau, Führerschein – entscheidende Anzeichen für eine Alkoholabhängigkeit sind, dann ist verständlich, dass vor allem die Firma der Ort ist, wo dem Patienten sein Alkoholproblem klargemacht werden muss. Denn die Angehörigen stehen in enger emotionaler Beziehung zum Patienten und sind daher in der Regel von der Aufgabe überfordert, den Süchtigen mit seinem
Problem zu konfrontieren. Wer den Führerschein wegen Alkoholkonsums verliert, hat schon Menschen in Lebensgefahr gebracht. Und so sind betriebliche Suchtkrankenhilfen wichtig, die süchtigen Mitarbeitern Wege aus der Sucht weisen und dafür sorgen, dass Vorgesetzte das Problem angemessen ansprechen. Reagiert man hier nur aus dem Bauch heraus, dann wird die Sucht des Mitarbeiters erst lange toleriert und gedeckt, denn Alkoholiker sind oft sehr beliebte Mitarbeiter, die mit ihrer Hilfsbereitschaft unbewusst die Konfrontation mit ihrem Problem vermeiden wollen. Doch irgendwann nimmt die Sucht überhand, die Exzesse nehmen zu, die Zuverlässigkeit nimmt ab und die Atmosphäre kippt. Nun ist man plötzlich zu keinerlei Verständnis mehr bereit. Natürlich sind beide Verhaltensweisen nicht professionell. Der richtige Weg ist, dass der Vorgesetzte zeitig und nüchtern die auffälligen Phänomene zur Sprache bringt und auf Hilfen hinweist, ohne selber Diagnosen zu stellen. Wenn der betroffene Mitarbeiter dann doch nichts ändert, müssen auch arbeitsrechtliche Konsequenzen angedacht werden, zum Besten der Firma – und zum Besten des Patienten.
4. SÜCHTIGE UND NORMALE – VOM SINN DER SUCHT
Süchtige wurden früher von den Normalen als Sünder verachtet. Dabei war immerhin die heilige Monika, die tapfere Mutter des Augustinus, offenbar zeitweilig dem Alkohol verfallen. Augustinus schreibt in seiner Autobiografie, den »Bekenntnissen«, dem ersten psychologischen Buch der Weltliteratur, dass seine Mutter, nachdem sie als heranwachsendes Mädchen immer mal wieder aus Lust am Verbotenen am Wein genippt hatte, »schließlich fast die vollen Becher ungemischten Weines hinuntertrank«. »Trinkerheilanstalten« waren im 19. Jahrhundert eingerichtet worden, um die Alkohol-»Sünder« zur Umkehr zu bewegen. Die alte Verachtung, die Peinlichkeit der Krankheit, die Scham, das sind noch heute die wichtigsten
Hemmungen, die Menschen daran hindern, zur eigenen Sucht zu stehen.
Doch Sucht ist keine Sünde. Wer sich etwas darauf zugutehalten möchte, nicht süchtig zu sein, der sollte wissen, dass es sogar einen nicht unerheblichen Erbfaktor gibt, für den niemand verantwortlich ist. Außerdem kann jeder Mensch in eine tragische Situation geraten, in der er mit süchtigem Verhalten reagiert. Es sind dann gerade die besonders sensiblen Menschen, die von Suchtmitteln abhängig werden. Wer hemmungslos über Leichen gehen kann, der wird kaum süchtig. So repräsentieren die Süchtigen den Schatten einer Gesellschaft von Normalen, die die Menschen im Licht zu immer unerreichbareren Zielen treibt und für die Scheiternden nur noch das Dunkel und die Nischen am Rande übrig hat. Für die Dünnhäutigen und Einfühlsamen ist da kein Platz mehr. Es wird kälter und die coolen aalglatten Typen sind die privilegierten Überlebenskünstler in einer reibungslos funktionierenden Welt, in der die humanitäre Temperatur sinkt. Süchtige strahlen oft mehr menschliche Wärme aus. Nicht selten sind sie feinfühliger als Normale, und es sind andererseits die hemmungslos Normalen, die mit ihrer rücksichtslosen Aggressivität Menschen in die Sucht treiben können. Auch wenn die Therapie sich sinnvollerweise auf die Verantwortung des Patienten für sein Verhalten konzentriert. Dieser Aspekt ist keineswegs die ganze Wahrheit. Und wer die anstrengende Lebensgeschichte mancher Süchtiger verfolgt hat, der kann nur Hochachtung vor den manchmal fast übermenschlichen Mühen dieser Menschen haben, die immer wieder scheitern und immer wieder neu anfangen.
Wer sich angewöhnt hat, den Blick auf die Fähigkeiten der Patienten zu richten, der entdeckt gerade bei Süchtigen reiche Schätze. Obdachlose Alkoholiker hält man gemeinhin für Menschen, die gar nichts können, die völlig gescheitert sind. Schaut man genauer hin, ergibt sich ein anderes Bild. Kaum ein Normaler wäre in der Lage, im
Winter in Köln auch nur eine Woche als Obdachloser klarzukommen: jeden Tag aufs Neue seinen Platz für die Nacht zu organisieren, Essen und vor allem genug zu trinken, um dem Entzug zu entgehen. Dafür braucht man gute soziale Beziehungen, die täglich gepflegt werden wollen. Welcher Normale könnte das schon aus dem Stand? Macht man sich das klar, geht man viel wertschätzender mit solchen Patienten um, und dann ergibt sich eine kooperative Therapiebeziehung ganz von allein. Wir behandelten immer wieder einen schwer alkoholabhängigen Patienten, der obdachlos war und im Rollstuhl saß, der aber leider stets viel zu kurz blieb. Das lag daran, dass er sich sein Geld mit Betteln verdiente und den Verdienstausfall vermeiden wollte. Wir haben dann eine »rheinische Lösung« gefunden. Er machte nachmittags ein »Praktikum« in der Fußgängerzone und blieb dadurch endlich lange genug. Je mehr man sich mit Süchtigen befasst, desto mehr Respekt nötigen sie einem ab. Und man schämt sich mitunter für all die kaltherzigen Normalen, die meinen, so viel besser zu sein als »die da«.
Erst im Jahr 1968 wurde in Deutschland durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts Alkoholabhängigkeit als Krankheit anerkannt. Das nahm ihr das Stigma der Sünde und gab den Patienten endlich das Recht auf Therapie.
Die Alkoholabhängigkeit ist eine ernste Erkrankung. Die Suizidgefährdung, das heißt, die Gefahr, dass sich der Patient das Leben nimmt, ist erheblich. Alle Organe des Körpers werden geschädigt – nicht nur die Leber. Man unterscheidet unterschiedliche Typen des Alkoholismus: Problemtrinken, Gelegenheitstrinken und dann die schwereren Formen, den chronischen Alkoholismus mit massiven Alkoholexzessen, die Spiegeltrinker, die ihren Alkoholspiegel immer konstant halten, nie exzessiv betrunken, aber auch nie nüchtern sind, und schließlich die Quartalstrinker, die zwischen ihren Alkoholexzessen keinen Alkohol konsumieren. Frauen vertragen übrigens im Schnitt nur ein Drittel der Alkoholmenge, die Männer
vertragen.
Bei Alkoholikern gibt es noch einige merkwürdige Phänomene. Da ist zum Beispiel die Alkoholhalluzinose, die bei langjähriger Alkoholabhängigkeit auftreten kann. Der Patient hört Stimmen, und zwar oft aus einer Steckdose oder aus anderen Gegenständen. Im Unterschied zu wahnhaften Halluzinationen weiß er, dass das eigentlich gar nicht sein kann. Dennoch ist so etwas begreiflicherweise für einen Menschen sehr beunruhigend. Ich erinnere mich an eine Patientin, die ihren verstorbenen Verlobten Willi immer aus einer Cola-Dose reden hörte.
Eine noch viel beunruhigendere Erkrankung ist das sogenannte Korsakow-Syndrom. Der Volksmund meint dazu, jemand habe sich »das Gehirn weggesoffen«. Genauer gesagt, verlieren die Patienten bei diesem »amnestischen Syndrom« mehr oder weniger plötzlich die Orientierung und vor allem das Neugedächtnis. Im Gegensatz zur Demenz sind die intellektuellen Fähigkeiten noch weitgehend erhalten. Im Gegensatz zum Delir ist das Bewusstsein nicht getrübt oder durch Halluzinationen beeinträchtigt. Da beim Korsakow-Syndrom oft ein Mangel an Vitamin B1 vorliegt, wird dieses Vitamin im akuten Zustand hoch dosiert als Medikament gegeben, um zu retten, was zu retten ist. Doch die Entwicklung ist langwierig. Oft kann man noch nach Monaten eine deutliche Besserung erreichen. Manche Patienten finden allerdings aus diesem Zustand nicht mehr heraus oder enden in einer Alkoholdemenz. Der Schauspieler Harald Juhnke erlitt am Ende seines Lebens durch fortgesetzten Alkoholkonsum einen schweren Orientierungs- und Gedächtnisverlust. Halluzinose und Amnestisches Syndrom sind organisch psychische Störungen, die auch aus anderer Ursache vorkommen können. Welches Organ durch den Alkoholismus am meisten betroffen ist, das ist im Übrigen zumeist erblich bedingt.
Menschen, die von illegalen Drogen abhängig sind, vertragen sich meistens nicht gut mit den anderen Süchtigen. Aber sie sind vor allem
den Normalen ein Dorn im Auge. Diese flippigen, oft noch jungen Leute ohne Arbeitserfahrung, leben nur noch für den Kick, das ganz kurze und ganz intensive Hochgefühl. Doch bald treibt sie nur noch die Angst vor dem Entzug von einem Zusammenbruch zum nächsten. Dabei ist Cannabis, Haschisch, gewiss weit weniger zerstörerisch als Heroin. Die Organschädigungen durch Haschisch sind sogar geringer als durch Alkohol. Das hat in jüngster Zeit zur Verharmlosung von Haschisch geführt. Doch dafür besteht kein Anlass. Denn Haschisch wird im Gegensatz zu Alkohol ausschließlich wegen der angestrebten künstlichen Bewusstseinsveränderung konsumiert. Das birgt erheblich größere Gefahren. Und so ist es kein Wunder, dass Haschisch de facto bei vielen die Einstiegsdroge für eine verhängnisvolle Drogentragödie ist. Übrigens gibt es Hinweise darauf, dass lang dauernder Haschischkonsum nicht nur ein sogenanntes amotivationales Syndrom (AMS), so eine Art dauerhafte Null-Bock-Haltung, sondern auch eine Schizophrenie auslösen kann.
Von Haschisch kann man noch vergleichsweise leichter loskommen als von härteren Drogen. Die Entzugserscheinungen sind milder. Dagegen ist die Abhängigkeit und der Entzug von Heroin erheblich heftiger. Die Abhängigkeit tritt auch schneller ein. Ich erinnere mich gut, dass ich eine Haschisch konsumierende junge Frau behandelte, die es schließlich schaffte, den Haschischkonsum zu beenden. Da nahm sie eines Tages Heroin. Plötzlich war die Patientin völlig verändert. Sie entglitt sich, ihren Angehörigen und auch der therapeutischen Beziehung. Im letzten Moment gelang es, sie zu einer Entgiftung zu bringen, und sie schaffte es. Heute ist sie glücklich verheiratete Mutter.
Entscheidend ist die Prävention. Es muss gelingen, den ersten Konsum zu verhindern. Dazu ist es wichtig, dass junge Leute in einem Umfeld heranwachsen, in dem die wichtigsten Mitmenschen nicht leichtfertig mit Suchtmitteln umgehen, und dass statt des passiven Genusses durch den »Kick« das Leben aktiv gestaltet werden kann.
Illegale Drogen haben auch ihre Geschichte. Da waren die Morphinisten des 19. Jahrhunderts, vor allem aber die Opiumhöhlen, mit denen die westlichen Kolonialmächte China wehrlos zu machen versuchten. Immerhin führten die Briten zwei regelrechte Opiumkriege, um den chinesischen Kaiser zu zwingen, das Opium weiter einführen zu lassen. Am Ende gab es 100 Millionen Opiumkonsumenten in China. Dieser unglaubliche Zynismus der Europäer erklärt zur Genüge manches antiwestliche Vorurteil geschichtsbewusster Chinesen. Die Flower-Power-Typen der 68er-Generation hatten in LSD die Superdroge, die die Welt halluzinatorisch schon so aussehen ließ, wie man es gern hätte. Wenn da nur nicht die Horrortrips gewesen wären, die plötzlich über einen herfallen konnten. Auch mit Haschisch gab es ja die unangenehmen »Flash-backs«, die noch Wochen nach Cannabiskonsum eintreten konnten, Zustände plötzlicher Panik. Kokain war dann die Partydroge der Schönen und Reichen und derer, die – koste es, was es wolle – dazugehören wollten. Zwar gibt es da kaum eine körperliche, wohl aber eine massive psychische Abhängigkeit, die das Leben genauso gründlich ruinieren kann wie all die anderen bewusstseinsverändernden Verrücktmacher, die Designerdrogen und Aufputscher, mit denen man sich selbst in den Orcus pulvern kann. Doch was den Drogenkonsum weltweit vorantreibt, ist letztlich nicht die irregeleitete Gier der Opfer nach Glück. Es ist die maßlose Gier der Dealer nach Geld, die den Drogenmarkt unter Dampf hält.
Heroin ist wie diese schrecklichen pinkfarbenen Joghurts ein Produkt von Bayer-Leverkusen. Als die Substanz Ende des 19. Jahrhunderts hergestellt wurde, um Schmerzen und Husten zu bekämpfen, hatte man noch keine Ahnung, dass man damit eine der gefährlichsten Drogen überhaupt in die Welt gesetzt hatte. Die Abhängigkeit, die schon nach einmaligem Konsum eintreten kann, ist massiv, der körperliche Entzug höchst unangenehm und Drogenpsychosen sind eine gefährliche Komplikation. Über den Heroinentzug gab es lange heftige Debatten.
Vor Jahren kannte man nur den »kalten Entzug«, das heißt, dass der Patient stationär aufgenommen wurde, keine Medikamente mit Suchtpotenzial bekam und einen kurzen Entzug durchlebte. Da es merkwürdigerweise so gut wie keine Selbsthilfegruppen für Drogenabhängige gibt, kam anschließend eigentlich nur eine rigide mehrmonatige Langzeittherapie in einer Fachklinik infrage. Heilige Schwüre des Drogenabhängigen, dass er bis ans Ende seiner Tage clean leben wollte, waren selbstverständlich. Auf die Härte der Droge reagierte man mit »harten« therapeutischen Maßnahmen. Doch so gut wie keiner ging hin! Die meisten Patienten nahmen diese Therapieangebote einfach nicht an. Die Zahl der jungen Drogentoten nahm dramatisch zu. So ging man neue Wege. Man verließ den dogmatischen harten Kurs und schuf sogenannte niedrigschwellige Angebote. Besonders umstritten war der Einsatz der Ersatzdroge Methadon. Dieses Mittel hat ein noch höheres Abhängigkeitspotenzial als Heroin. Es erleichtert aber einerseits den Entzug, andererseits kann man schwer Abhängige durch dauerhafte Substitution, also durch Ersetzung des Heroins durch Methadon, aus der kriminellen Szene nehmen. Konnte es ärztlich vertretbar sein, Menschen ein Suchtmittel zu verordnen, nur damit die Gesellschaft weniger Einbruchsdiebstähle zu beklagen hat? Doch entscheidend war, dass auf diese Weise tatsächlich mehr Drogenabhängige in Behandlung kamen und schwer Abhängige vor Verelendung und Tod bewahrt wurden. Während sie den »kalten Entzug« zumeist fürchten, lassen sie sich auf den »warmen Entzug« mit Methadon eher ein. Oft kommen sie nur, um sich eine Auszeit von der Szene zu nehmen. Und dann, erstmals seit Langem klar im Kopf, überlegen sie manchmal doch, ob sie nicht den Ausstieg versuchen sollten.
Und dann gibt es da noch die sogenannten nicht stoffgebundenen Süchte. Als ich meinen ersten Spielsüchtigen behandelte und bei ihm einen heftigen körperlichen Entzug sah mit Schwitzen, Unruhe, Zittern etc., wollte ich das zuerst gar nicht glauben. Auch hier wurden
inzwischen spezialisierte Entzugsprogramme organisiert. Im Grunde kann fast jedes Verhalten in die Sucht entgleiten. Heute sind es vor allem interaktive Internet-Spiele, die süchtig machen. Bekannt wurde der Fall eines 28-jährigen Südkoreaners, der nicht mehr damit aufhören konnte, deswegen nicht mehr aß und trank und am Ende nach 50 Stunden ununterbrochenen Spielens starb. In China wurden bereits staatliche Maßnahmen gegen diese Sucht ergriffen, bei uns ist das Problem bereits erheblich, aber es gibt noch kaum wirksame Antworten. Bei allen therapeutischen Maßnahmen muss immer die Frage im Zentrum stehen: Was kann der Süchtige tun anstelle des süchtigen Verhaltens. Je mehr es gelingt, solche sinnvollen Wege (wieder) zu finden, desto eher kann der Patient dauerhaft auf sein süchtiges Verhalten verzichten.
Letztlich ist Sucht der Preis für das utopische und doch mit allen Kräften von den Normalen betriebene Projekt der Machbarkeit des Glücks. Dieses zum Scheitern verurteilte Projekt wird nie enden, solange es Menschen gibt. Und die immer weiter steigende Zahl der feinfühligen Süchtigen zahlt die Zeche für den schwindelerregenden Leichtsinn aller.