8. Kapitel

Garrett wusste nicht, was er Hayley sagen sollte. Er folgte ihr ins Wohnzimmer und stellte fest, dass sie auf dem Sofa saß und sich das Glas wieder an die Brust drückte.

Es war schon spät und, wie sein Vater zu sagen pflegte, die Zeit, in der der Dämon des Bedauerns zu Besuch kam. Garrett vermutete, dass er deswegen durchs Haus gewandert war. Aber er konnte Hayleys Bedauern nachvollziehen. Der Tod nahm uns viel, vor allem, wenn es um einen nahestehenden Menschen ging.

Er bedauerte den Tod seines Partners. Und er bereute, dass ihn Hectors ständiges Gequassel und die albernen Memes von Promis, die er ihm schickte, manchmal genervt hatten. Nun, nach Hectors Tod, stellte er fest, dass er all das vermisste.

»Das mit deiner Mutter tut mir leid«, sagte er schließlich. Das Schweigen im Raum fühlte sich erdrückend an, schwer lagen die Schatten der Vergangenheit auf ihnen.

»Danke. Sie wurde schwer krank, als ich siebzehn war. Krebs. Und ich konnte damals nicht damit umgehen. Nicht dass ich es je könnte«, entgegnete Hayley. »Sie hat versucht, mir noch so viel mitzugeben, denn ihre Überlebenschancen standen nicht gerade gut, aber ich wollte nicht zuhören. Ich dachte, sie sagt das alles bloß, weil sie mich zu ihrem kleinen Klon machen will.«

Sie schüttelte den Kopf, und Garrett verspürte einen Stich. Durch dieses Geständnis waren sie nun endgültig keine flüchtigen Bekannten mehr, die bloß heiß aufeinander waren. Sie hatten einander schon so viel anvertraut, dass man sie zumindest Freunde nennen konnte. Er sah sie nun mit anderen Augen.

Er setzte sich neben sie auf das Sofa, legte einen Arm über die Rückenlehne und zog Hayley an sich. »Wann hast du gemerkt, dass es ernst war?«

»Als ihr die Haare ausfielen. Du hättest meine Mom kennen sollen. Sie war ehemalige Schönheitskönigin und immer perfekt gestylt. Ich bin ausgerastet. Also wirklich ausgerastet. Mein Dad verreiste nicht mehr, und zum ersten Mal, seit ich ein kleines Kind war, hockten wir alle zusammen«, antwortete sie.

»Warum zum ersten Mal?«, fragte Garrett.

Er hat eine wirklich schöne Stimme, dachte Hayley. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können, und er schien wirklich an ihrer Geschichte interessiert zu sein. Es war schon lange her, nein, es war das erste Mal überhaupt, dass sie mit jemandem über ihre Mutter redete. Die meisten ihre Freunde wussten nur, dass sie an Krebs gestorben war.

Eine innere Stimme warnte sie, dass es wahrscheinlich doch keine so gute Idee war, ihn näher kennenzulernen. Aber warum sonst war sie zu ihm gegangen? Warum saß sie nicht in ihrem großen einsamen Haus auf dem Sofa, statt hier, bei dem sexysten Typen, den sie kannte?

»Hayley?«

Sie sah das Glas in ihrer Hand an. Alkohol tat ihr nicht gut. Sie traf immer dumme Entscheidungen, wenn sie trank. Und ganz egal, wie überzeugt sie davon war, dass sie das Richtige tat, letztendlich ging es dann doch meist schief.

Auch bei Garrett würde es wohl nicht anders sein.

»Oh, tut mir leid. Mein Dad war geschäftlich viel unterwegs. Daher war er häufig weg, und ich ging auf ein Internat. Aber in diesem Sommer waren wir alle da. Plötzlich schien es Mom nicht mehr zu kümmern, dass ich nicht perfekt war, und ich gab mir mehr Mühe, so zu sein, wie sie es sich wünschte. Wir haben viel Zeit in unserem Sommerhaus verbracht und sind täglich am Strand spazieren gegangen. Mom überspielte die Krankheit … Ich wurde allmählich erwachsen, soweit ein fast achtzehnjähriges Mädchen erwachsen sein kann, aber eben nicht schnell genug. Sie ist drei Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag gestorben.«

Hayley wandte sich ab und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Man sollte meinen, dass ich nach all der Zeit über ihren Tod hinweg wäre, aber an manchen Tagen … trifft mich die Trauer hart.«

»Ich weiß, was du meinst.«

Sie sah ihn an. »Wieso? Ich dachte, deine Eltern leben noch.«

»Das stimmt auch. Ich meinte eher, dass ich weiß, wie es sich anfühlt, jemanden zu vermissen. Mein Partner starb in der Nacht, als ich angeschossen wurde. Wir hatten noch so viele Pläne.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wegen der Krankheit hatten Mom und ich alles festgezurrt. Sie hat mir mehrere Briefe geschrieben, jeweils einen für meine kommenden Geburtstage. Darin stand alles, was sie mir noch sagen wollte. Da blieb nichts mehr, über das wir noch reden konnten.« Nur dass ihr mit achtzehn nicht klar gewesen war, dass sie dennoch eine Menge Fragen hatte, die sie ihr gerne gestellt hätte. Zum Beispiel, wie es ist, sich zu verlieben. Woher hatte ihre Mutter gewusst, dass ihr Dad der Richtige war? Alberne Fragen womöglich, aber diese Dinge beschäftigten sie nun mal.

»Hast du den Brief von deinem letzten Geburtstag bereits gelesen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Sie rieb sich über den Nacken. Eben noch hatte sie gesagt, dass sie kein verwöhntes Kind mehr war, und sie hätte auch gerne geglaubt, dass das stimmte. Den Brief hatte sie noch nicht geöffnet, weil sie jedes Mal beim Lesen der Zeilen ihrer Mutter in die Vergangenheit zurückkatapultiert wurde, an ihren Todestag. Und dann kam sie sich wieder wie damals vor, halb Mädchen, halb Frau. Doch in diesem Jahr wollte sie endlich nach vorn sehen. »Ich wollte mich nicht erinnern.«

Er hob sein Glas und prostete ihr zu. »Auf das Nichterinnern.«

Sie trank einen Schluck, aber ihr schwirrte bereits der Kopf, und es war ohnehin zu spät, um Vernunft walten zu lassen. »Hast du schon herausgefunden, wie man das macht?«

Er lächelte sie bedauernd an und schüttelte den Kopf. »Sport und ein Flirt mit einer schönen Frau helfen beim Vergessen, aber davon abgesehen, nein. Nichts, was ich sonst getan habe, kann die Erinnerungen an diesen Moment ausblenden.«

»Manchmal wache ich auf und denke, ich würde sie gern anrufen, um ihr etwas zu erzählen«, gab Hayley zu. »Verrückt, oder? Es ist schon zwölf Jahre her. Wann werde ich endlich nicht mehr ständig an sie denken?«

»Vielleicht musst du es einfach nur annehmen«, meinte er. »Womöglich hinterlassen manche Menschen solche tiefen Spuren in unseren Herzen, dass wir sie immer bei uns tragen.«

Vielleicht lag es am Alkohol oder auch an seinem intensiven Blick, aber Garrett erschien ihr sehr scharfsichtig für einen Mann, von dem sie dachte, er wäre sich viel zu unsicher über seine Zukunft, um ernste Absichten zu haben. Sie stellte ihr Glas ab und wandte sich ihm zu.

***

Garrett hatte versucht, sich einzureden, dass Hayley wie jede andere Frau war, die er kannte, und das stimmte wohl auch, aber er hatte sich verändert. Der Vorfall hatte ihn verändert. Seinen Partner sterben zu sehen, einen Mann zu töten, all das hatte Narben bei ihm hinterlassen, von denen er sich nie wieder erholen würde.

Mit seinem verletzten Bein kam er besser klar. Hier konnte er sich wenigstens vormachen, dass es irgendwann wieder so wie früher sein würde, auch wenn er insgeheim wusste, dass das unwahrscheinlich war. Sein Captain hatte sich unverbindlich gegeben, aber man musste kein Genie sein, um zu wissen, dass ein Cop mit einem versehrten Bein ein Risiko darstellte. Zum ersten Mal im Leben lag seine Zukunft im Ungewissen. In einem einzigen verdammten Moment war seine ganze Welt aus den Fugen geraten. Paco Riveras Entscheidung, bei der Festnahme die Flucht zu ergreifen, hatte Garretts Leben zerstört, ein Leben, von dem er gedacht hatte, er hätte es voll im Griff.

»Das war erstaunlich tiefsinnig dafür, dass es schon so spät ist«, sagte Hayley und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

Ihre Ohren waren klein und zierlich. Schon vorhin waren ihm die hübschen Diamantohrstecker aufgefallen. Schwärmte er jetzt tatsächlich von ihren Ohren? Offenbar war er … wie besessen von ihr.

Er hatte es gewusst.

Und das lag nicht nur daran, dass er sich verändert hatte. Hayley strahlte etwas aus, das in ihm den Wunsch weckte, ein besserer Mensch zu sein. Stärker. Nicht körperlich. Er hatte sich solche Muskelpakete antrainiert, dass es da nicht mehr viel zu erreichen gab. Aber emotional.

Er wollte sich von seiner besten Seite zeigen, denn vom ersten Augenblick an hatte er gewusst, dass sie anders war. Sie hielt ihn auf Trab, und wenn er ehrlich war, brachte sie ihn gleichzeitig ein wenig aus dem Gleichgewicht.

»So bin ich eben«, entgegnete er. Scherze und unverfängliches Geplänkel, das war seine typische Strategie im Umgang mit Frauen. Sein Beruf war gefährlich, verdammt, das wusste er besser als manch anderer.

»Ach ja? Ich hab dich für einen Macho gehalten. Ich Mann, du Frau«, sagte sie.

»Ich bin doch kein Höhlenmensch. Du hast mich schließlich schon herausgeputzt gesehen«, erwiderte er. Natürlich legte er Wert auf sein Äußeres und zog bei einem Date alle Register der Charmeoffensive.

Sie hob eine Augenbraue und musterte ihn mit sarkastischer Miene. »Oh ja. Ich habe erlebt, wie du mit mir geflirtet hast, während deine Verabredung …«

»Das haben wir doch längst besprochen«, unterbrach er sie. Nina hatte ihm bereits verziehen, warum konnte Hayley das nicht auch? »Ich habe mich entschuldigt, und du bist heute Abend hier.«

»Das stimmt. Ich bin heute hier«, sagte sie nachdenklich.

»Warum eigentlich?«, fragte er. Offenbar schienen die meisten Menschen nach Mitternacht ihre Hemmungen zu verlieren. Er hatte das mehr als einmal im Dienst erlebt und wusste es auch aus eigener Erfahrung. Nach Mitternacht verlor sich die Sorge vor Konsequenzen häufig.

»Das habe ich doch schon erwähnt, oder nicht? Ich war einsam und neugierig.«

»Neugierig auf was?«, hakte er nach und rückte näher an sie heran. Sie roch nach Schokolade, Vanille und einem ganz speziellen Duft, der nur ihr eigener war. Einem Duft, von dem er nicht genug bekommen konnte. Den Arm auf die Lehne gelegt, berührte er leicht ihr Ohr. Als er mit dem Finger über die Muschel und über den Ohrstecker strich, erschauerte Hayley, und eine zarte Röte schoss ihr in die Wangen. Ihr Mund öffnete sich leicht, und ihr Atem ging schneller.

Er wusste, warum sie gekommen war. Er kannte die Antwort, die sie ihm nicht verraten wollte. Sie war hier, um sich selbst etwas zu beweisen. Vielleicht auch ihm. Sie wollte eine Affäre mit ihm, und er war mehr als bereit dafür. Aber eigentlich wollte er mehr.

Besessenheit?

Der Gedanke lauerte in seinem Kopf, und er fühlte sich hin- und hergerissen. Jedenfalls soweit es sein Verlangen zuließ. Er begehrte Hayley. Gern würde er ein paar Wochen lang ihr Mann für jede Nacht sein, aber eigentlich wollte er mehr von ihr. Allerdings wusste er, dass er nicht in der besten Lage war, um ihr mehr anzubieten als Sex, und das nervte ihn gewaltig.

»Warum schaust du mich so an?«, fragte sie.

»Wie schaue ich denn?«

Sie biss sich auf die Unterlippe. »So genau kann ich das nicht beschreiben. Als ob … du mich willst, aber gleichzeitig wütend darüber bist.«

Er stand auf und lachte. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. »Ich weiß, dass ich nicht der richtige Mann für dich bin.«

Sie richtete sich auf und beugte sich vor. »Woher willst du das wissen?«

»Das schließe ich aus deinem Verhalten. In meiner Nähe wirkst du immer angespannt. Fast so, als wäre es eine Mutprobe für dich, mit mir zusammen zu sein.«

»Was willst du jetzt hören? Du bist in meinen Kurs gekommen und hast mit mir geflirtet. Und ich bin jetzt hier, um herauszufinden, ob mehr zwischen uns ist. Du weckst in mir den Wunsch, die Frau zu sein, die ich an meinem Geburtstag nur spielte«, erwiderte sie.

Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare und drehte sich um. Dabei geriet er ein wenig ins Schwanken, weil er sein verletztes Bein zu sehr belastet hatte. Verdammt, dachte er. Jedes Mal, wenn er glaubte, es ginge endlich ein Stück voran, musste er den nächsten Rückschlag einstecken. Und Hayley wurde jedes Mal Zeuge seiner Schwäche.

»Spiel mir nichts vor«, sagte er schließlich, während er das Gleichgewicht wiedergewann. Er stützte die Hände in die Hüften und versuchte, das Bein ein wenig zu schonen. Ihre Worte hatten ihm klargemacht, dass auch er sich schon viel zu lange etwas vormachte. Er hatte sich eingeredet, dass sich sein Leben an dem Tag, als er auf Paco schoss, nicht verändert hatte. Und dass er mit Krafttraining seine Gesundheit vollkommen wiederherstellen könnte. Er hatte sich weisgemacht, nur eine Nacht mit Hayley verbringen zu wollen, obwohl er von Anfang an gewusst hatte, dass er viel mehr als das brauchte.

Aber eines hatte er in all der Zeit, in der er zu Hause festsaß, gelernt, nämlich, dass das Schicksal seine eigenen Pläne schmiedete. Und ob er nur eine oder hundert Nächte mit Hayley verbringen wollte, die Entscheidung darüber lag nicht in seiner Hand. Ja, nicht einmal in ihrer. Das Leben war unberechenbar, und Garrett blieb nichts anderes übrig, als es so zu nehmen, wie es kam, und dabei nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Ein erschreckender Gedanke für einen Mann mit Gleichgewichtsproblemen.

»Ich versuche es. Aber es ist viel schwieriger als gedacht, alte Ängste zu überwinden«, sagte sie. »Meine Konditorjacke und meine weiten Jeans waren so bequem. Und meine neuen Klamotten trage ich zwar gern, und sie sind sexy, aber ich bin nicht sicher, ob ich das auch bin. Ich will … entschuldige, ich plappere dummes Zeug.«

»Schon gut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es dir nicht so schwerfällt, deine Komfortzone zu verlassen, wie du denkst«, meinte er.

»Warum?«, fragte sie.

»Sonst wärst du heute Abend nicht hier bei mir.«

***

Garrett stand vor ihr, als gehöre ihm die Welt, aber er hatte Hayley bereits preisgegeben, dass er ebenso gebrochen war wie sie. Es war schon lustig, dass es ihnen beiden gelang, dies so gut vor allen anderen zu verbergen und, wenn sie ehrlich mit sich war, auch vor sich selbst. Aber an diesem Abend musste sie sich nicht hinter ihren Schutzmauern verstecken.

Sie hatte mit ihm über Dinge geredet, die sie viel zu lange in sich verschlossen hatte. Unwillkürlich fragte sie sich, warum sie mit Garrett so offen reden konnte. Warum nicht mit einem anderen Mann? Aus unerklärlichen Gründen fühlte sie sich zu ihm hingezogen.

Okay, seine engen Jeans und die muskulösen Arme hatten sicher auch ihren Anteil daran. Aber sie machte sich Sorgen, dass sie ihn nur wegen seines Äußeren so attraktiv fand. Sie wollte nicht zu diesen Frauen gehören, die eine lange Liste an Ex-Freunden vorzuweisen hatten. Das passte nicht zu dem Bild, das sie von sich selbst hatte – dem Bild einer Frau, die kluge Entscheidungen bei ihrer Partnerwahl traf.

Allerdings sehnte sie sich danach, ihn erneut zu küssen. Der gestohlene Moment in der Kammer im Candied Apple Café reichte ihr nicht. Sie fühlte sich leer und ausgelaugt und war zu ihm gegangen, um das zu vollenden, was sie an ihrem Geburtstag angefangen hatten.

Nicht nur der Alkohol machte sie mutig, sondern auch der Wunsch, am Ende ihres Lebens nicht voller Bedauern feststellen zu müssen, dass sie womöglich etwas verpasst hatte. Diese Was-wäre-wenn- und Hätte-ich-nur-Überlegungen, die ihr Leben langweilig wirken ließen, weil sie bei ihren Entscheidungen immer auf Nummer sicher gegangen war.

Außerdem war ihre Mutter bereits mit achtunddreißig Jahren gestorben. Noch ein Grund mehr, die ihr verbleibenden Jahre voll auszukosten. Und nun, da sie …

»Hey, woran denkst du?«

»Ich suche gerade nach Gründen, um zu rechtfertigen, dass ich dich will.«

Er legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend.

Einen Moment lang starrte sie ihn nur an. Lachte er sie etwa aus? Dann erst wurde ihr klar, dass ihre Antwort lustig gewesen war. Emotionen und Sehnsüchte konnte man weder bändigen noch rechtfertigen. Sie sehnte sich nach ihm. Sie hatte versucht, diesem Verlangen alle möglichen Etiketten aufzudrücken. Sie hatte sich eingeredet, dass es schon in Ordnung wäre, ihn zu begehren, weil er so verloren aussah und nicht bereit war für eine feste Bindung.

Aber sie hatte sich selbst belogen. Garrett Mulligan wurde mit allem fertig, was das Leben ihm in den Weg warf. Er konnte sogar mit einer Frau flirten, während er mit einer anderen ein Date hatte. Er war so selbstbewusst, dass nicht einmal eine schwere Verletzung und eine lebensverändernde Entscheidung ihn erschüttern konnten – und genau das fand sie so faszinierend an ihm. Sie wollte herausfinden, wie er sich dieses verdammt selbstsichere Ego bewahrte, denn sie hatte dringend eine Portion Selbstvertrauen nötig. Sie musste herausfinden, wie sie ihr Leben so sicher in den Griff bekam wie er seines. Sie brauchte … ihn.

Sie stand auf und ging zu ihm. Mit jedem Schritt zerstreuten sich die Zweifel und Ängste, die sie seit ihrem achtzehnten Lebensjahr begleiteten, als sie festgestellt hatte, dass sie auf sich allein gestellt war. Ja, ihr Dad liebte sie, aber er arbeitete viel. Er war immer unterwegs.

Sie hatte seine Lebenseinstellung in gewisser Weise übernommen und ebenso hart gearbeitet, um ihr eigenes Unternehmen zu gründen – und ihre eigene Identität zu finden. Niemals hatte sie zugegeben, wie sehr sie sich wünschte, dass ihre Mutter stolz auf sie gewesen wäre. Sie runzelte die Stirn.

Das war das Problem mit Alkohol. Ihre Gedanken machten, was sie wollten. Statt sich auf den heißen Mann vor ihr zu konzentrieren, dem sie so nahe war, dass sie seine Wärme spürte, bekam sie Schuldgefühle. Heftig schüttelte sie den Kopf. Sie wollte diese Nacht für sich. Keine Pläne, keine Hintergedanken. Sie wollte das, was Iona sexuelle Hemmungslosigkeit nannte.

Sie legte Garrett eine Hand auf die Brust und schaute ihm tief in die Augen. Er musterte sie wachsam. Sie vermutete, dass es ihm als Cop zur Gewohnheit geworden war, immer ein waches Auge und alles im Blick zu haben. Aber sie wollte nicht, dass er sie durchschaute. Sie wollte sich vormachen können, dass die Mauern, die sie zu ihrem Schutz aufgebaut hatte, immer noch existierten.

Allerdings war sie sich auch im Klaren darüber, dass es egal war, welche Frisur und welches Make-up sie trug, auch das war nur eine Schutzmauer, die sie jedoch brauchte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, weil er größer war als sie, aber gerade das gefiel ihr. Er stand einfach nur da, ließ sie das Tempo vorgeben, und auch das gefiel ihr.

Verflixt.

Er gefiel ihr viel zu gut, aber das wusste sie bereits seit ihrer ersten Begegnung. Sie beugte sich vor, ihre Lippen fühlten sich trocken an. Wie konnte das sein? Eben noch waren sie feucht gewesen. Nun prickelten sie jedoch, und sie hätte am liebsten mit der Zunge darübergeleckt, aber sie wollte auch nicht eigenartig oder ungeschickt wirken.

Sie schloss die Augen und ließ sich vom Duft seines Aftershaves betören. Sie nahm seine Wärme in sich auf, atmete seinen Geruch tief ein und wusste, dass sie keinen Rückzieher machen würde. Mit einem Mal war es ihr gleichgültig, ob er hinter die Fassade schauen konnte, die sie sorgfältig errichtet hatte. Das Verlangen nach ihm war stärker als ihr Wunsch, sich selbst zu schützen.

Er würde ihr nicht wehtun. Jedenfalls nicht körperlich. Aber emotional? Sie musste sehr vorsichtig sein, damit sie sich selbst nicht vergaß, und die Art von Mann …

Seine Lippen verschmolzen mit ihren. Eine sanfte, federleichte Berührung, die sie aufschreckte. Sie öffnete die Augen.

»Ich bin ja sehr für Vorfreude, aber verdammt, ich hab gedacht, ich sterbe auf der Stelle, wenn ich dich nicht endlich küsse.«

Sie war froh, dass er die Führung übernommen hatte, denn sie war zu sehr in sich selbst versunken gewesen, um sich zu rühren. Dabei wäre es doch besser, in Garrett zu versinken, oder? Sie erwiderte den Kuss. Nicht sanft, wie sie es vorgehabt hatte, sondern voller Leidenschaft.

Er öffnete den Mund, seine Lippen waren so weich, und sie genoss das Gefühl. Die Hände gegen seine Brust gestützt, kostete sie ihn und vertiefte den Kuss. Ihre Zunge spielte mit seiner, und jede Faser ihres Körpers erwachte zum Leben, als er voller Leidenschaft ihren Mund erforschte. Alle Bedenken und Zweifel verflogen, ihr Herz übernahm die Führung und brachte die Stimme der Vernunft endlich zum Schweigen.