Hayleys Wecker klingelte um 4:30 Uhr. Stöhnend rollte sich Garrett auf die Seite und zog sie näher an sich, doch sie machte sich los und stand auf.
»Wozu die Eile?«, fragte er. Verdammt, er hasste das Aufstehen, vor allem, wenn er mit einer so warmen und kuscheligen Frau wie Hayley im Bett lag. Allerdings befand sie sich im Moment nicht gerade in Kuschelstimmung.
»Ich muss um fünf los zum Laden, um die Waren für den Tag herzustellen.«
Er stöhnte erneut. »Das Candied Apple Café ist dir wirklich sehr wichtig«, meinte er, als sie sich einfach ein T-Shirt aus seinem Regal schnappte und es überstreifte.
»Ja, das ist es. Kommst du nun mit, oder hast du kein Interesse mehr daran?«
»Verflucht. Der Morgen ist viel zu schnell gekommen, findest du nicht?«
Sie zuckte mit den Schultern. Er war sich nicht sicher, was in ihrem Kopf vorging, ob es Reue war oder ob sie ihre Meinung inzwischen geändert hatte, sie schien sich jedoch von ihm zurückziehen zu wollen. Und vermutlich auch vor sich selbst.
»Ich komme mit. Ich zieh mich schnell an.«
Als er aufstand, schmerzte sein verletztes Bein, und er wusste, dass er viel mehr tun müsste, als sich in einem warmen Bad einzuweichen, um sich von einer Frau wie Hayley zu erholen.
Nackt stapfte er zum begehbaren Schrank und stieg in eine Boxershorts. Dann schlüpfte er in Jeans und Hemd. Als er aus dem Schrank wiederauftauchte, war sie nirgendwo zu entdecken.
Rasch verschwand er ins Badezimmer, putzte sich die Zähne und kämmte sich, bevor er hinunterging. Dort stand Hayley bereits wartend und in den Klamotten vom Vorabend im Flur.
»Ich muss mich auch noch umziehen.«
»Okay. Ich bin fertig.«
»Äh, sollen wir uns um fünf draußen treffen?«
Er nahm sie in die Arme und küsste sie. Das hatte er schon machen wollen, seit sie aufgewacht waren. »Klar. Ich bring Kaffee mit.«
»Ich, also, äh, danke.«
»Gerne.«
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und er machte sich auf den Weg in die Küche, um Kaffee zu kochen. Hayley war wirklich ein ziemlich komplizierter Mensch. Je besser er sie kennenlernte, desto klarer wurde ihm, wie wenig er über sie wusste. Jede Schicht, die er enthüllte, offenbarte bloß weitere Schichten, eine komplexer als die andere. Wäre er ein anderer Mann gewesen oder hätte er sie zu einem anderen Zeitpunkt kennengelernt, hätte er sie vermutlich nicht wiedersehen wollen.
Aber sie faszinierte ihn.
Er erinnerte sich an die Tränen in ihren Augen, als sie von ihrer Mutter gesprochen hatte. Sie war so tief ergriffen gewesen, als wären die Wunden ihres Verlustes noch ebenso frisch wie seine Trauer um Hector.
Im Moment ging er anderen Menschen lieber aus dem Weg, doch sie hatte ihn dazu gebracht, dass er sich für sie interessierte.
Er füllte den Kaffee in zwei Thermobecher, auf denen das Logo des Sportausstattungsunternehmens seines Vaters prangte, verschloss sie und verließ das Haus, um draußen auf Hayley zu warten.
Sie trat im selben Moment aus der Tür, in einer ausgebleichten Jeans, Biker Boots und einem dicken Kaschmirpullover. Ihre Haare waren noch feucht, und sie schlang sich eine große Ledertasche über die Schulter.
Er reichte ihr den Kaffee, sie nahm einen großen Schluck und lächelte ihn zum ersten Mal an diesem Morgen an. In ihren braungrünen Augen stand ein schüchterner Blick, als ob sie sich in seiner Nähe plötzlich unsicher fühlte. Ganz und gar nicht das, was er von ihr erwartet hatte.
Aber auch ihm war es nicht leichtgefallen, sein Seelenleben vor ihr zu offenbaren. Sie hatte als Einzige seine Narben gesehen und seine wahre Schwäche erlebt.
»Danke, den hatte ich dringend nötig. Du solltest wissen, dass ich ein Morgenmuffel bin.« Mit raschen Schritten ging sie die Straße entlang.
»Ach nein, wirklich?«
Mr. Kalatkis packte gerade frisches Gemüse in die Körbe vor seinem Laden, als sie daran vorbeikamen. Er wünschte ihnen einen guten Morgen und zwinkerte Garrett zu, als Hayley nicht hinschaute.
Er zwinkerte zurück.
Aber was auch immer Mr. Kalatkis dachte, die Sache zwischen ihnen war weitaus verworrener.
»Warum fängst du so früh mit der Arbeit an, wenn du ein Morgenmuffel bist?«, fragte Garrett, als sie sich ihren Weg durch den frühmorgendlichen Fußgängerstrom bahnten.
»Meine Mutter hat großen Wert auf einen geregelten Tagesablauf gelegt. Bevor sie krank wurde, war sie immer schon um fünf auf und von dem Moment an, in dem sie das Bett verließ, bis abends, wenn sie um sieben ihren Manhattan Cocktail trank, immer aktiv. Wie ein Dynamo.«
Wie mochte es wohl sein, wenn man seine Eltern niemals als Erwachsener erlebte? Hayley gründete ihre Vorstellungen, wie eine Frau sein sollte, auf ein Bild, das sie zu Teenagerzeiten gewonnen hatte.
»Du besitzt ihre Energie«, meinte er.
»Glaubst du wirklich? Das bezweifle ich. Ich bin bloß ein Sturkopf, der nicht zugeben will, dass sie stärker war, als ich es bin.«
Sie überquerten die Straße und betraten den Durchgang, der zum Hintereingang des Candied Apple Cafés führte. Sie tippte den Code in die Alarmanlage und schloss ihnen auf. Die Küche befand sich im Erdgeschoss.
»Bist du hier, um zu helfen?«, fragte sie. Ihre Morgenmuffeligkeit schien allmählich zu verfliegen. Seit sie den Laden betreten hatten, wirkte sie viel entspannter.
»Du hast doch meine Versuche gestern Abend gesehen. Ich glaube, es ist besser, wenn ich bloß zusehe.«
»Du könntest mir die Schokolade vom Block raspeln«, schlug sie vor. »Dafür sind keine besonderen Fertigkeiten nötig.«
Während sie arbeitete, bemerkte er, wie die Nervosität und Anspannung völlig von ihr abfielen und eine Hayley erschien, von der er bisher nur einen kurzen Blick erhascht hatte. Selbstsicher bewegte sie sich in der Küche und erzählte ihm witzige Anekdoten aus ihren Anfängen und ihrer Ausbildung in Paris. Ganz offenbar fühlte sie sich in ihrem Laden zu Hause. Hier musste sie nicht vorgeben, eine andere zu sein. Und das zeigte sich in jeder ihrer Bewegungen.
»Probier mal.« Sie hielt ihm einen Löffel mit Schokolade hin.
Er öffnete den Mund und ließ sich von ihr füttern. Der Geschmack explodierte förmlich auf seiner Zunge. Die weiche Schokolade schmeckte süß und pikant zugleich und erinnerte ihn an Hayleys Küsse.
Eine weitere ihrer Schichten kam damit zum Vorschein; noch ein Rätsel, das er lösen musste. Sie präsentierte ihm so viele verschiedene Puzzleteile von sich selbst, dass er sich bislang kein richtiges Bild von ihr hatte machen können. Sein Instinkt sagte ihm jedoch, dass er auf dem besten Weg war, ihr wahres Ich zu entdecken.
Was würde er tun, wenn er es gefunden hatte? Seine Zukunft lag immer noch im Dunkeln, und er fühlte sich verloren. Warum war es ihm nur so verdammt wichtig, dass Hayley einen Platz in seinem Leben einnahm?
***
»Also dann, pack mal aus«, sagte Iona, als sie um zehn nach neun die Küche betrat. »Was läuft wirklich zwischen dir und dem heißen Cop? Cici hat mir erzählt, dass der Kuss in der Vorratskammer wohl ziemlich stürmisch gewesen war.«
»Heißer Cop?«, fragte Garrett. »Nennst du mich so?«
»Ach du Scheiße«, meinte Iona. »Ist er etwa hier?«
»Ja, ich bin hier«, bestätigte Garrett.
Vielleicht lag es am Schlafmangel, aber Hayley fing unwillkürlich an zu lachen und konnte nicht mehr aufhören. Iona sah so geschockt aus und Garrett belustigt, aber auch nervös. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Vermutlich wäre ihm eine Begegnung mit ihrem Vater lieber gewesen als mit einer ihrer besten Freundinnen.
»Iona, das ist Garrett Mulligan. Garrett, das ist Iona Summerlin. Sie ist ein Marketing-Genie und eine meiner Geschäftspartnerinnen.«
»Schön, dich kennenzulernen.« Er streckte ihr die von Kakaopulver überzogene Hand hin.
»Ich behalte mir mein Urteil vor, bis ich über den vergangenen Abend vollständig auf dem Laufenden bin. Cici wollte nicht tratschen«, wandte sich Iona an Hayley. »Ich habe sie mit drei Martinis und dem Versprechen bestochen, dass sie im Urlaub das Sommerhaus meiner Eltern haben kann, bevor sie sich überhaupt dazu überreden ließ, mir zu verraten, dass es so aussah, als wärt ihr euch in der Vorratskammer gleich an die Wäsche gegangen, wenn sie euch nicht in die Quere gekommen wäre. Das ist nicht die Hayley, die ich kenne.«
Hayley musterte Iona. Schaute hinter das makellose Make-up und das modische Outfit, das ein kleines Vermögen kostete. Iona war besorgt. »Du hast mir doch vorgeschlagen, ich soll mein Leben ändern.«
»Ja, aber ich habe damit nicht gemeint, dass du Knall auf Fall deine ganzen bisherigen Prinzipien über Bord werfen sollst. Gibst du uns mal einen Moment?«, bat sie Garrett.
»Ja. Ich muss sowieso noch den Termin bei meinem Physiotherapeuten bestätigen«, meinte Garrett. »Seh ich dich später noch, Hayley?«
»Ja.«
Er küsste sie kurz, fast so, als wollte er Iona etwas beweisen, und verließ dann den Laden durch die Hintertür. Hayley sah ihm nach, und schlagartig wurde ihr klar, dass sie sich den ganzen Vormittag eingeredet hatte, die gestrige Nacht wäre für sie etwas ganz Normales gewesen. Jetzt, mit Iona in der Küche, ging das nicht mehr.
»Okay, also was läuft zwischen euch?«
»Hm. Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Seit meinem Geburtstag, als er mir geholfen hat, habe ich mich gefragt, ob der Kuss damals nur ein Glückstreffer war.«
»Du weißt doch, dass es keiner war. Du hast ihn noch mal geküsst. Ich nehme an, gestern ist noch mehr passiert?«
»Ja. Es war … ich weiß auch nicht, Iona. Mir ist bewusst, dass er im Moment nicht bereit für eine Beziehung ist, deshalb ist es so, als machten wir einen Schritt vorwärts und zwei zurück. Aber kaum bin ich mit ihm zusammen, lösen sich all meine Zweifel in Luft auf.«
Sie senkte den Blick auf die marmorne Arbeitsfläche und die Schokolade, die sie gerade verarbeitete. Pralinen herzustellen war so viel einfacher, als herauszufinden, was sie von Garrett wollte. Denn ehrlich gesagt hatte sie keine Ahnung, was sie wollte.
»Mit ihm zu schlafen war … Also, ich bereue keine Sekunde. Ernsthaft, ich hätte nicht erwartet, dass er so …« Sie wusste nicht, wie sie es in Worte fassen sollte. Dass er ihre Wahrnehmung von sich selbst auf den Kopf gestellt und ihr klargemacht hatte, dass sie die sinnliche Frau war, die sie so gern sein wollte.
»Okay«, sagte Iona.
»Nett, dass du mir deine Zustimmung gibst«, sagte sie sarkastisch.
»Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das tue. Aber ich sehe, dass du ihm ins Netz gegangen bist und jetzt in der Falle hockst.«
»Genau das ist es«, sagte Hayley und betrachtete ihre Freundin. »Es fühlt sich allerdings nicht wie eine Falle an. Er ist witzig und ziemlich durcheinander. Stark und verletzt. Er ist all das, was ich mir von einem Mann wünsche, und ich bin sicher, dass ich ihm dabei helfen kann, seine Ängste und Sorgen zu überwinden.«
Iona verschränkte die Arme vor der Brust. »Du kannst ihm nicht helfen. Du bist immer noch nicht sicher, wer du selbst eigentlich bist.«
Sie hasste es, wenn Iona recht hatte. Vor allem, wenn sie mit etwas recht hatte, von dem Hayley sich am liebsten eingeredet hätte, dass es unwichtig wäre.
»Ich möchte es aber probieren«, beharrte sie. »Vielleicht mache ich einen Fehler, mag sein, aber im Moment fühlt es sich gut an. Ich habe mich noch nie mit einem Mann so tief verbunden gefühlt.«
»Okay«, wiederholte Iona. »Ich bin für dich da, wenn du reden willst oder von ihm schwärmen willst oder dir Sorgen machst.«
»Danke«, sagte Hayley, froh, dass sie auf wahre Freundinnen in ihrem Leben zählen konnte. »Da du meine Aushilfe in die Flucht getrieben hast, darfst du dir jetzt eine Schürze anziehen und die Pralinen mit Kakao bestäuben.«
»Uh. Marketingpläne liegen mir mehr.«
»Spar dir die Diva, Iona. Ich hab selbst erlebt, wie du um drei Uhr morgens Pralinen in Schachteln einsortiert hast, damit wir diesen Laden eröffnen können«, meinte Hayley. Ihre Freundin würde alles für das Geschäft tun, und da Hayley dieselbe Einstellung hatte, waren sie meistens einer Meinung.
»Was aber nicht heißt, dass es mir Spaß macht. Wo ist überhaupt deine Küchenhilfe?«, fragte Iona.
»Ich habe ihr heute freigegeben. Sie ist am Tag nach meinem Geburtstag eingesprungen«, erklärte Hayley.
Iona betrachtete ihre manikürten Nägel und seufzte. »Und jetzt war’s wieder eine Nacht mit dem heißen Cop. Er bringt dein Arbeitsleben durcheinander, Mädchen. Pass auf, dass du keine Dummheiten machst. Du warst sonst immer so konzentriert auf die Arbeit.«
»Wie mein Dad«, erwiderte Hayley. »Und ich will kein Workaholic sein, wenn ich sechzig bin, ohne echte Beziehung zu meinen Kindern. Und die will ich und eine Familie und das hier auch. Ich will alles.«
»Mit Officer Schnittchen?«, fragte Iona.
Sie versuchte, sich eine Zukunft mit Garrett vorzustellen, aber im Moment beherrschte allein die Erinnerung daran, was in der vergangenen Nacht in der Küche passiert war, ihre Gedanken. Als Paar sah sie ihn und sich jedoch nicht. »Ich weiß es nicht. Aber er zeigt mir Dinge, von denen ich gar nicht wusste, wie sehr ich sie bisher vermisst habe.«
»Sex?«, fragte Iona.
»Richtig guten Sex«, erwiderte Hayley. Die langweilige Blümchenvariante hatte sie oft genug gehabt, doch inzwischen wusste sie, dass ihr zukünftiger Traumprinz auf jeden Fall auch eine starke sexuelle Anziehungskraft auf sie ausüben musste. Sie wusste nicht, ob ihr Mr. Right tatsächlich Garrett sein würde, aber sie musste zugeben, dass sie ihn nach seinem Bild modellierte.
Und das war gefährlich.
Iona hatte recht. Sie musste erst einmal herausfinden, was sie selbst wollte, bevor sie einem anderen helfen konnte. Sie dachte an den Brief ihrer Mutter, der zu Hause auf dem Nachttisch auf sie wartete. Immer noch ungeöffnet. Ungelesen. Sie hatte nicht erfahren wollen, was ihre Mutter sich für sie in diesem Jahr erhoffte.
Bisher waren die Briefe ihrer Mutter immer sehr vage formuliert gewesen. Ihre Mutter hatte Hayley gewünscht, dass sie einen guten Mann in ihrem Leben haben würde, und Hayley hatte immer ihren Vater als diesen Mann gesehen. Das euphorische Gefühl in ihrem Bauch ließ sie jedoch glauben, dass Garrett womöglich der Mann sein könnte, von dem ihre Mutter gehofft hatte, dass sie ihn finden würde.
***
Im Lauf des Tages fiel Hayley auf, dass sie Garretts Handynummer nicht hatte und ihn deshalb nicht anrufen konnte, und auch er meldete sich nicht bei ihr. Zwei Tage lang sahen sie sich nicht, dann fand sie eine Nachricht in ihrem Briefkasten, in der er ihr mitteilte, er müsse erst einige persönliche Dinge erledigen und werde sich danach bei ihr melden.
Sie hatte Verständnis, dass er so bald wie möglich wieder in den Polizeidienst zurückkehren wollte, und vermutlich gab es eine einfache Erklärung, warum er ihr aus dem Weg ging. Vielleicht hatte er wegen der Physiotherapie oder eines aufwendigen Wiedereingliederungstrainings keine Zeit. Ehrlich gesagt war ihr das herzlich gleichgültig.
Seit ihrer gemeinsamen Nacht fühlte sie sich verletzlicher, als sie sich selbst eingestehen wollte. War sie zu weit gegangen? Hatte sie ihm zu viel von sich gezeigt?
Insgeheim befürchtete sie, dass die Intensität ihrer gemeinsamen Nacht ihm Angst eingejagt hatte. Der Himmel wusste, dass ihr diese Leidenschaft einen Riesenbammel verursachte. Seit sie seine Nachricht erhalten hatte, verkroch sie sich in ihrer Arbeit, blieb von fünf Uhr morgens bis spät in der Nacht im Laden und schimpfte sich eine Närrin.
Kopfschüttelnd gestand sie sich ein, dass sie wohl nur so schlechte Laune hatte, weil ihre Regel fällig war und Iona ihr den halben Arbeitstag mit einem Presseinterview verplant hatte, als Valentinstags-Werbung für das Candied Apple Café.
Sie kam zwanzig Minuten zu früh bei dem Radiosender an, wo sie das Interview geben sollte. Ihr Plan war gewesen, sich mit der U-Bahn-Fahrt abzulenken und dann zu Fuß zu der Adresse zu gehen, die sich in einem Viertel befand, in dem sie vorher noch nie gewesen war.
Anfangs hatte das auch wunderbar funktioniert. Genau zwanzig Minuten lang. So lange dauerte es, bis sie die Karten-App auf ihrem Handy heruntergeladen und die Strecke zurückgelegt hatte. Jetzt saß sie mit einer Flasche Wasser in einem Aufenthaltsraum und wurde allmählich wieder sauer, während sie dem Moderator lauschte und auf ihr Interview wartete.
Ja, Sex war nicht gleichbedeutend mit Liebe. Auch wenn sie dumm genug gewesen war, zuzulassen, dass ihre Gefühle über bloße Begierde hinausgingen. Sie begriff jedoch nicht, wie sie sich so sehr in Garrett hatte täuschen können.
Bevor sie miteinander geschlafen hatten, waren sie sich ständig begegnet. Tatsächlich war es richtig schwierig gewesen, ihm aus dem Weg zu gehen. Also was zum Teufel war passiert?
Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. In den drei Wochen seit ihrem Geburtstag war es nachgewachsen. Noch war es nicht wirklich lang, aber der Pixie war auch nicht mehr so extrem kurz wie an dem Tag nach ihrem Friseurtermin. Inzwischen hatte sie sich an den Kurzhaarschnitt gewöhnt.
Die Produktionsassistentin holte sie für das Interview ab und erklärte ihr das Procedere. Hayley schenkte ihr eine Pralinenbox und hatte auch noch eine für den Moderator in der Tasche.
Sie nahm am Tisch ihm gegenüber Platz. Er schob sich den Kopfhörer vom Ohr und begrüßte sie.
»Hallo, ich bin Thom.«
»Hayley«, stellte sie sich vor und schüttelte ihm die Hand. Der Aufnahmeraum war voller Hightechgeräte, was ihre flatternden Nerven nicht gerade beruhigte. »Die sind für Sie.«
»Meine Frau wird sich riesig darüber freuen. Sie kann es kaum erwarten, an einem Ihrer Workshops teilzunehmen. Ihre Pralinen mag sie am liebsten.«
Hayley errötete. »Oh, danke. Ich lasse Ihnen eine Karte da. Sie können gern mal auf eine Gratisstunde reinschnuppern.«
»Vielen Dank. Hat Ihre PR-Frau Ihnen erklärt, dass die Leute in der Sendung anrufen, um Ihren Beruf zu erraten?«, fragte er.
»Ja. Und Ihre Assistentin hat mich auch eingewiesen«, antwortete Hayley. Sie wurde immer nervöser. In solchen Sachen war sie einfach nicht gut. Aber Iona hatte darauf beharrt, Hayley sei das Gesicht vom Candied Apple Café und habe deshalb gar keine andere Wahl, als das Interview zu machen. Zum Glück war es wenigstens kein Fernsehinterview.
Ein Zettel im Briefkasten. Das war nicht unbedingt das, womit sie gerechnet hatte, aber den Zweck hatte es erfüllt. Er hatte ihr keine Erklärung für sein tagelanges Schweigen geliefert, bis auf den vagen Hinweis, dass sein Dienstantritt noch mal verschoben werden musste. Aber die Botschaft war bei ihr angekommen.
Sie konnte nachvollziehen, dass der Job sein Leben bestimmte. Verdammt, bei ihr war das nicht anders, und sie wusste auch, dass er im Moment herauszufinden versuchte, wie es mit ihm beruflich weitergehen sollte.
Deshalb hatte sie sich selbst ermahnt, es langsam anzugehen, aber irgendwie hatten die Dinge sich verselbstständigt.
Eine große Frau mit rotbraunen Haaren betrat den Aufnahmeraum und schenkte ihr ein Lächeln, als sie sich neben Thom setzte.
»Mona macht die Nachrichten. Wenn sie fertig ist, sind wir mit dem Interview dran.«
Hayley nickte der Frau zu. Mit den riesigen Kopfhörern kam sie sich seltsam vor.
Mit halbem Ohr hörte sie zu, als Mona die Nachrichten verlas, bis eine ihre Aufmerksamkeit erregte. Der Polizist Garrett Mulligan wurde von der Familie von Paco Rivera wegen Totschlags verklagt, obwohl ein Disziplinarverfahren ihm kein Fehlverhalten nachweisen konnte.
Ihr zitterten die Hände, als ihr klar wurde, was Garrett ihr verschwiegen hatte. Wenn sie ihn richtig einschätzte, hatte er das getan, um sie nicht mit seinen Problemen zu belasten und sie zu schützen. Sie brachte das Interview hinter sich und schickte eine Nachricht an den Laden, dass sie sich den Nachmittag freinehmen würde.
Anschließend kehrte sie in ihr von Bäumen gesäumtes Wohnviertel zurück und klingelte an Garretts Tür. Die Tür öffnete sich jedoch nicht, deshalb kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Block. Rasch kritzelte sie ihre Telefonnummer darauf und schrieb »Ruf mich an« darunter.
»Oh, hallo«, sagte ein Mann hinter ihr.
Er kam ihr vage bekannt vor, und sie überlegte, ob sie ihn schon mal mit Garrett gesehen hatte.
»Hallo.«
»Pete Mulligan«, stellte er sich vor. »Garretts Bruder. Wir haben uns im Pralinenkurs kennengelernt.«
»Wie schön, Sie wiederzusehen«, sagte sie.
Er hielt einen Schlüssel in der Hand. Man musste kein Genie sein, um herauszufinden, dass Garrett nicht zu Hause war.
»Können Sie Garrett das bitte geben?«, bat sie und streckte ihm den Zettel hin.
Pete nahm ihn. Er sah seinem Bruder wirklich ähnlich. Beide hatten graue Augen und ein kantiges Kinn. Garrett hatte jedoch dunkelbraune Haare, während Petes aschblond waren.
Er holte einen Umschlag aus seiner Tasche. »Er hat mich gebeten, Ihnen das hier zu geben.«
Sie ergriff den Umschlag und konnte es kaum erwarten, ihn zu öffnen. »Danke.«
Es gab nichts weiter zu sagen, und sie fühlte sich unwohl, einfach so dazustehen. Daher ging sie ohne ein weiteres Wort zu ihrem Haus hinüber und schloss auf. Sie legte den Umschlag auf den Konsoltisch im Flur, direkt neben den ihrer Mutter.
Nun musste sie zwei Briefe öffnen, und beide weckten in ihr eine Mischung aus Aufregung und Angst.