Im Verlauf der nächsten Woche entstand eine Art Routine zwischen Hayley und Garrett. Es schneite ziemlich oft in diesem Winter, und sie genossen es, im Schnee herumzutoben. Hayley kam es so vor, als würde sie all die Jahre nachholen, die sie so auf die Arbeit konzentriert gewesen war und kaum gelebt hatte.
Ohne dass sie es bewusst abgesprochen hätten, lebte Garrett im Prinzip bei ihr. Im Laden gab es viel zu tun, und sie verbrachte viel Zeit dort, weil sie länger arbeiten musste als sonst.
Sie wusste nicht, ob es damit zusammenhing, dass Garrett die Nächte bei ihr verbrachte, aber plötzlich hatte sie Angst davor, sich zu sehr auf ihn einzulassen.
Die Fragen, die ihr im Kopf herumschwirrten, über Liebe und woher man wissen sollte, ob man füreinander bestimmt war, wurden immer drängender.
Kurz vor dem Valentinstag fand fast an jedem Abend ein Pralinen-Workshop statt, und Iona schenkte jedem teilnehmenden Paar eine Champagnerflasche. Die Kurse waren sehr beliebt, auch Pete und Crystal nahmen am Valentinstag noch einmal teil. Hayleys Welt wurde größer. Zuvor hatte es nur sie, ihre Freundinnen und die Confiserie gegeben. Nun hatte sie einen Hund und unterstützte Nina gelegentlich immer noch freiwillig an den Tieradoptionstagen. Sie hatte Pokern gelernt und mit Garretts Freunden gespielt und war zu einem Taco-Abendessen im Haus seiner Eltern in Brooklyn eingeladen gewesen.
Die Valentinstags-Pralinenschachteln verkauften sich rasant, und Iona, Cici und sie hatten beschlossen, solche Mottoboxen auch nach dem Valentinstag anzubieten.
Der nächste Feiertag, den Iona für eine groß angelegte Marketingkampagne ausgesucht hatte, war allerdings der Muttertag, und das brachte allerlei Probleme für Hayley mit sich.
Sie verabschiedete die letzten Kursteilnehmer und ging nach unten. Im Laden machte Carolyn gerade die Kassenabrechnung. Sonst war es still, da der letzte Kunde bereits gegangen war. Carolyn war die Geschäftsführerin des Ladens.
»Soll ich dich zur Bank begleiten?«, fragte Hayley.
»Ja, bitte. Ich habe Casey früher freigegeben, weil du noch hier warst. War das okay?«, fragte Carolyn.
Hayley nickte. Vielleicht war es eine alte Gewohnheit aus den frühen Tagen ihres Unternehmerinnenlebens, aber es erschien ihr nicht sinnvoll, eine Aushilfe für Extrastunden zu bezahlen, wenn es nichts zu tun gab. »Ich hole nur schnell meinen Mantel, dann können wir los.«
»Ist gut, ich mache noch die Notiz im Kassenbuch«, sagte Carolyn.
Hayley ging in ihr Büro und holte ihren Mantel. Als sie ihn zuknöpfte, vibrierte ihr Handy. Der Blick aufs Display offenbarte ihr, dass Garrett ihr eine Nachricht geschickt hatte.
Möchtest du auf dem Heimweg Gesellschaft?
Lächelnd tippte Hayley ihre Antwort.
Klar, gerne. Ich muss aber erst noch zur Bank, um die Tageseinnahmen einzuzahlen.
Eine Sekunde später vibrierte ihr Handy erneut.
Lucy und ich stehen draußen.
Hayley kehrte in den Laden zurück, wo Carolyn bereits auf sie wartete. »Da draußen lungert ein Kerl rum. Soll ich die Polizei rufen?«
»Nein, das ist … mein Freund«, entgegnete Hayley. Freund. Es klang so teenagermäßig, aber wie hätte sie ihn sonst bezeichnen sollen? Sie gingen miteinander aus, schliefen miteinander, lebten im Prinzip miteinander, aber ihn »Partner« zu nennen, kam ihr dennoch falsch vor. Sie achteten immer noch beide sehr sorgfältig darauf, ihr restliches Leben voreinander fernzuhalten. Sie sprachen übers Essen, über Sport, aber nie über wichtige Dinge.
Garrett wollte nicht über die Arbeit oder seine Physiotherapie reden, die, wenn sie es nach der Menge Eis beurteilte, die er auf sein Knie packte, sicher anstrengend war.
Und sie sprach nicht über den immer noch ungeöffneten Brief von ihrer Mutter oder dass sie bis jetzt noch keinen Termin ausgemacht hatte, um nach Kalifornien zu fliegen und diese Desserts zu entwickeln, um die ihr Vater sie gebeten hatte.
Die komplizierten Sachen rührten sie nicht an. Und für sie war das auch völlig in Ordnung gewesen, bis sie ihn nun im Licht der Straßenlampe stehen sah. Schneeflocken tanzten um seinen Kopf. Einen Moment lang betrachtete sie ihn. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihn gut kannte, spürte aber gleichzeitig, dass sie ihn nie ganz kennen würde.
Er trug eine verwaschene Jeans und Motorradstiefel. Sie wusste, dass er eine orthopädische Einlage trug, um den Längenunterschied seines linken Beins auszugleichen. Seine Lederjacke hatte schon bessere Tage gesehen, und er hatte eine Mütze gegen die Kälte auf dem Kopf. Er hatte sich die Zeit genommen, um Lucy ihr Mäntelchen anzuziehen, und der kleine Dackel tänzelte im Schnee um seine Füße.
»Er sieht heiß aus.«
»Das ist er auch«, gab Hayley zu. Aber er war so viel mehr für sie als ein heißer Cop. Wieder überflutete sie dieses seltsame Gefühl, und sie fragte sich, ob es Liebe war.
Was, wenn ja?
Woran würde sie das erkennen?
Und konnte sie es wagen, ihn hinter ihre Schutzmauern zu lassen? Konnte sie sich so weit fallen lassen, dass nicht mehr dieser merkwürdige Schwebezustand zwischen ihnen herrschte? Sie wusste, dass sie nicht als Einzige dafür sorgte, dass dieser Zustand anhielt. Am nächsten Tag hatte Garrett seine Gesundheitsprüfung; womöglich war er deshalb gekommen, um sie abzuholen. Er hatte eingestanden, dass er deswegen nervös war und dass er angriffslustig wurde, weil sein Testosteronspiegel stieg, wenn man ihn zu lange mit seiner Trainingsausrüstung allein ließ.
»Und mutig ist er auch«, meinte Carolyn. »Mein Freund würde sich nie mit einem so kleinen Hund in der Öffentlichkeit zeigen.«
Hayley musterte Carolyn von der Seite. Wenn das stimmte, hatte ihr Freund wohl echt ein Problem. Und ihr wurde klar, dass Garrett womöglich auch Probleme hatte, die ihr noch nicht aufgefallen waren. Er war stark. Es spielte keine Rolle, dass sein linkes Bein ihm manchmal Schwierigkeiten bereitete oder dass er mit einem Schoßhund spazieren ging. Er strahlte auf der Straße dennoch Autorität aus.
»Solche Sachen machen ihm nichts aus.«
»Das sehe ich«, meinte Carolyn.
Hayley öffnete die Tür, verließ mit Carolyn den Laden und schloss ab, ehe sie die Alarmanlage einschaltete.
»Hallo, Garrett. Das ist Carolyn. Sie kommt mit uns zur Bank«, erklärte Hayley.
»Schön, dich kennenzulernen, Carolyn. Bist du auch Patissière wie Hayley?«, fragte Garrett. Er reichte Hayley einen Thermobecher, und sie nahm einen Schluck.
Es war eine kleine Geste, ein warmes Getränk an einem kalten Abend, aber sie wusste sie zu schätzen und schenkte ihm einen Luftkuss als Dankeschön.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Carolyn zu. Hayley fragte sich, ob man daran wohl die Liebe erkannte, wenn jemand einem mit kleinen Gesten bewies, wie viel man ihm bedeutete. Ihr bedeutete es jedenfalls mehr, als sie vor sich selbst zugeben wollte.
»Nein, ich esse und verkaufe sie nur«, sagte Carolyn und lachte perlend. »Ich habe vorher in einer Boutique gearbeitet.«
»Carolyn hat uns mit ihrem Wissen sehr geholfen, die Abläufe im Laden zu optimieren. Ich hatte ehrlich gesagt null Ahnung von einigen Dingen, um die sie sich gekümmert hat, wie zum Beispiel die Innengestaltung des Ladens. Es ist eine echte Wissenschaft, wie die Waren am besten präsentiert werden sollten.«
Garrett zog eine Augenbraue hoch, da Lucy stehen blieb. »Ich glaube, die kleine Diva hat genug vom Spaziergang.«
Er hob den Hund hoch. Carolyn erläuterte inzwischen, dass Kunden instinktiv eine gewisse Laufrichtung durch den Laden wählten, die man mit besonderen Anziehungspunkten steuern konnte. »Deshalb haben wir das Café im hinteren Bereich eingerichtet. Und sobald ich Hayley so weit hatte, T-Shirts mit dem Logo des Ladens drucken zu lassen, haben wir sie direkt daneben platziert.«
»Das war eine gute Entscheidung«, sagte Hayley. »Ich glaube, den Leuten gefällt es wirklich, dass sie sich ein Stück vom Apple mit nach Hause nehmen können. So lautet nämlich die Aufschrift.«
»Ich glaube, sie …« Carolyn hielt inne, weil Lucy laut bellte und sich zappelnd aus Garretts Armen zu winden versuchte. Als Hayley aufsah, entdeckte sie eine Gruppe junger Männer, die vor ihnen aus der Dunkelheit trat.
Sie griff nach Carolyns Hand und sorgte dafür, dass sie stehen blieb. Garrett reichte ihr Lucys Leine.
»Wir nehmen das Geld«, sagte einer der Männer.
»Heute Abend nicht«, erwiderte Garrett.
Der junge Mann war etwa genauso groß wie Garrett, aber Garrett war körperlich eingeschränkt. Und konnte er es überhaupt mit drei Kerlen aufnehmen, ohne weitere Verletzungen davonzutragen? Die Angst um ihn jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Sie wollte nicht, dass ihm etwas passierte. Er bedeutete ihr mehr als sonst irgendjemand.
Sie liebte ihn.
Liebe.
Die Vorstellung tanzte schon viel zu lange durch ihr Unterbewusstsein. Nun, im Angesicht dieser Straßenräuber, konnte sie es nicht länger leugnen.
Auch wenn es sich nicht gerade um wenig Geld handelte, war die Summe auf keinen Fall so hoch, dass sie dafür sein Leben aufs Spiel setzen wollte. Sie nahm Carolyn die Tasche mit den Einnahmen ab.
»Garrett, nicht!«
Er schenkte ihr einen kalten, finsteren Blick, packte ihre Hand und schob sie mit Carolyn hinter seinen Rücken. »Auf keinen Fall gebe ich denen das Geld.«
»Ändert das vielleicht deine Meinung?«, fragte der Anführer und zog eine Waffe hervor.
***
Garrett war stinksauer. Er drängte jedoch seine Wut beiseite und nutzte die Techniken, die er in der Ausbildung gelernt hatte. Rohe Gewalt gehörte nicht dazu. Seine Erfahrung sorgte dafür, dass er die Situation gut einschätzen konnte. Er ignorierte Hayley; warum sie an ihm zweifelte, konnte er auch später noch herausfinden.
»Lass die Waffe fallen!«, befahl er. Seine Bedenken, ob er noch geeignet für den Job war, verflogen. Er war durch und durch Polizist, ob er nun hinter einem Schreibtisch saß oder nicht.
»Gib mir die Tasche, oder ich drück ab«, sagte der Junge.
»Keine Chance!«, entgegnete Garrett. »Waffe fallen lassen und Hände hoch!«
»Ja, klar«, meinte der Kerl verächtlich.
»Komm schon, Joe, lass uns abhauen«, sagte ein anderer.
»Nein. Ich mache jetzt keinen Rückzieher«, erwiderte Joe.
Garrett bemerkte, dass die Hand, in der der Junge die Waffe hielt, zitterte. Kurz schossen ihm Erinnerungen durch den Kopf vom letzten Mal, als er einem bewaffneten Angreifer gegenübergestanden hatte. Paco war nicht nervös gewesen. Paco hatte davor schon gemordet und hätte wieder getötet. Und auch dieser Junge, Joe, war offenbar bereit abzudrücken. Im selben Moment, als ihm diese Erkenntnis kam, stürmte Garrett nach vorn. Er packte das Handgelenk des Jungen mit einer Hand und drehte ihm den Arm nach oben. Ein Schuss löste sich, ging in die Luft, durch den Rückstoß schlug ihm der heiße Lauf gegen den Arm und versengte ihn.
»Lauft!«, rief einer der anderen.
»Schlappschwänze!«, brüllte der Junge mit der Waffe.
Garrett ließ sich davon nicht ablenken. Er hielt den Kerl weiter fest. Er war dünn und drahtig und verzweifelt. Dadurch entwickelte er eine enorme Kraft. Dennoch konnte er es mit Garrett nicht aufnehmen, was nicht zuletzt seinem intensiven Fitnesstraining geschuldet war.
Lucy winselte, und eine der Frauen schrie, aber Garrett konzentrierte sich allein auf den jungen Mann. Joe versuchte immer wieder, den Lauf erneut auf Garrett zu richten, und boxte ihn hart in den Bauch. Garrett zuckte zusammen und drehte sich zur Seite weg. Sein linkes Bein schmerzte, als er dem Jungen ins Gesicht schlug. Joe taumelte nach hinten, und Garrett konnte ihm endlich die Waffe entwenden. Er warf sie hinter sich, irgendwo in Hayleys Nähe.
Sie bückte sich und hätte sie fast aufgehoben.
»Hayley, nicht anfassen!«, rief er. »Pass auf, dass niemand sie aufhebt«, wies er sie an. Die beiden anderen Jungen rannten davon, aber er hielt Joe im Klammergriff fest.
»Ruft die Polizei!«, kommandierte er, und Hayley kramte eilig in der Tasche nach ihrem Handy.
Als dem Jungen klar wurde, dass ihm die Festnahme drohte, boxte er Garrett noch mal heftig in den Bauch und versuchte, sich zu befreien, doch Garrett hielt ihn eisern fest. Mit einem gut gezielten Tritt holte er den Jungen von den Beinen. Sobald er auf dem Boden lag, beugte sich Garrett über ihn und hielt ihm die Hände auf dem Rücken fest.
Er nahm vage wahr, dass Hayley im Hintergrund redete, aber seine Aufmerksamkeit galt Joe. Sein Knie tat verflucht weh, und vermutlich würde es gar nicht so leicht werden, wieder aufzustehen.
»Wie heißt du weiter, Joe?«, fragte er den Jungen. Der Boden war kalt, und es fiel immer noch Schnee.
»Leck mich.«
»Einen interessanten Nachnamen haben deine Eltern«, meinte Garrett. »Ich bin Officer Mulligan. Hast du schon von mir gehört?«
Joe verharrte reglos unter ihm. »Ja, Sie sind der Cop, der diesen Jungen getötet hat.«
»Er war kein Junge mehr, außerdem hat Paco Rivera zuvor meinen Partner ermordet«, gab Garrett zurück. »Eine Waffe macht nur Scherereien. Ich bin mir sicher, daran hast du nicht gedacht, als du sie gezogen hast, aber wenn du auf mich geschossen hättest, wärst du den Rest deines Lebens auf der Flucht gewesen. Polizistenmörder kommen nicht so einfach davon, hast du das verstanden?«
Der Junge murmelte etwas und wand sich, um sich zu befreien. Wenn die Verstärkung nicht bald auftauchte, würde er sich etwas überlegen müssen, um Joe die Hände zu fesseln.
»Was hast du gesagt?«
»Ja, ich hab’s verstanden«, antwortete Joe. »Ich brauch keine weitere Lektion von einem Typen, der auch nicht besser ist als ich.«
Mit heulenden Sirenen hielt ein Streifenwagen neben ihnen, bevor Garrett antworten konnte. War er nicht besser als dieser kleine Mistkerl?
»Hände dorthin, wo ich sie sehen kann«, sagte der Teamleiter, als er aus dem Wagen stieg.
Garrett hob die Hände über den Kopf, aber er ließ sein unverletztes Knie auf Joes Rücken und hielt ihn so weiter fest. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass der Kerl flüchten würde, sobald er die Chance dazu bekam, und Garrett wollte kein Risiko eingehen.
»Er ist Polizist!«, rief Hayley. »Er hat verhindert, dass dieser Mann uns ausraubt.«
»Steh auf, Cop, aber mit erhobenen Händen. Du, auf dem Boden, halt die Hände dort, wo ich sie sehen kann.«
Garrett folgte der Anweisung, ebenso wie Joe, und kämpfte sich vorsichtig auf die Füße.
»Mein Dienstausweis ist in meiner Tasche«, sagte er.
Der Polizist nickte. Sein Partner zog derweil Joe vom Boden hoch und legte ihm Handschellen an. Garretts schmerzende Rippen taten gleich weniger weh, als er das getrocknete Blut im Gesicht des Jungen sah. Das Training hatte sich ausgezahlt.
Der Polizist durchsuchte ihn, griff in seine Tasche und holte den Ausweis heraus. »Mulligan?«
»Ja.«
»Ich bin Derek Long, und das ist Harry Miller«, stellte Officer Long sich vor. »Was ist passiert?«
»Er hat eine Waffe gezogen, Geld von den beiden Frauen verlangt, und ich hab ihm die Waffe abgenommen.« Garrett nickte zu Joe. »Und ihn festgehalten, bis Verstärkung kam.«
»Ich muss Ihre Zeugenaussagen aufnehmen«, erklärte Long.
»Kann ich zuerst?«, fragte Carolyn. »Ich verpasse sonst den letzten Zug nach Jersey.«
»Gut.« Officer Long nickte und stellte Carolyn seine Fragen.
Garrett lehnte sich an ein Schaufenster, denn sein linkes Bein tat verdammt weh, und er wusste nicht, ob es sein Gewicht noch viel länger tragen würde. Hayley kam zu ihm, Lucy in den Armen. Sie hatte Tränen in den Augen, wirkte aber auch wütend.
»Du bist nicht in der Lage …«, fing sie an.
»Lass es«, unterbrach er sie.
Entschlossen ergriff sie seine Hand und zog ihn ein Stück von den Polizisten weg. Aber er stolperte, weil sein Knie nachgab. Fluchend stützte sie ihn, einen Arm um seine Hüfte gelegt.
»Ich bin stinksauer auf dich«, stellte sie fest.
»Warum? Weil du gedacht hast, ich könnte euch nicht beschützen?«, fragte er.
»Sei kein Esel«, erwiderte sie und drückte ihn so fest an sich, wie es ihr mit Lucy auf ihrem anderen Arm möglich war.
Vielleicht war sie gar nicht so wütend, wie sie behauptete.
War er ein Esel? Es gelang ihm kaum, sich zusammenzureißen, wenn es um sie ging. Von ihrer ersten Begegnung an hatte er gehofft, dass sie ihn in einem gewissen Licht sah, und an diesem Abend musste er feststellen, er hatte sich getäuscht.
»Dass du an mir zweifelst, ist nicht gerade schmeichelhaft.«
»Deine Dummheit aber auch nicht. Eine Tasche mit Bargeld ist es nicht wert, dass du dafür dein Leben riskierst.«
»Oder deins«, sagte er. »Du weißt nicht, was in dem Kopf des Jungen vorgegangen ist, und ich bin nicht dafür ausgebildet, tatenlos bei einem Verbrechen zuzusehen.«
Sie nickte. »Das weiß ich.«
»Hey, Mulligan. Ich brauche noch Ihre Zeugenaussage!«, rief Officer Long.
Garrett zwang sich, auf eigenen Beinen zu stehen, und ging langsam zu dem Polizisten hinüber. Er würde mit dem Physiotherapeuten über die Einlage reden müssen. Sie glich die Längendifferenz zwar aus, drängte aber gleichzeitig seine Hüfte in eine seltsame Position, die seinem Knie schadete.
Er machte seine Aussage und unterschrieb sie. Danach stellte er fest, dass auch Hayley und Carolyn fertig waren.
Der Junge saß in Handschellen im Polizeiauto. Die Waffe war bei einem Raub vor zwei Tagen verwendet worden, bei dem ein Verkäufer erschossen worden war.
»Ich habe über Sie in der Zeitung gelesen«, sagte Officer Miller.
»Ja, ich weiß«, antwortete Garrett. »Wie wohl fast jeder.«
»Ich halte Sie für einen Helden. Wenn mein Partner und ich jemals in eine solche Notlage geraten würden …«
»Es war eine harte Nacht«, gab Garrett zu. Er fühlte sich nicht wie ein Held, und das würde wohl auch nie so sein. Er hatte Hector nicht retten können, und Paco war tot. Keiner hatte gewonnen.
Und diese Nacht würde wohl genauso lang werden. So leicht kam er da jetzt nicht mehr raus. Er hatte Hayley sehen wollen, weil am nächsten Tag seine Gesundheitsprüfung anstand, die darüber entschied, ob er in den aktiven Dienst zurückkehren konnte.
Dieser Abend hatte ihm jedoch klargemacht, dass er sehr wohl noch immer dazu in der Lage war, auf der Straße seinen Dienst zu verrichten. Und mit solchen schwierigen Situationen würde er ja auch nicht jeden Tag konfrontiert werden. Wenn es darauf ankam, würde er wieder den Abzug drücken können. Er wusste, dass Paco schon seit Jahren kaltblütig gemordet hatte. Seine Opfer waren meist Büroangestellte, Verkäufer und andere Kriminelle gewesen.
Der Junge in Officer Longs Wagen war noch nicht so abgebrüht. Aber womöglich würde er es bald sein. Und Garrett hoffte, dass er ihm nicht noch einmal begegnen würde.
Das war aber nicht das Problem. Das eigentliche Problem war Hayley. Der Abend hatte ihm auch unmissverständlich bewusst gemacht, dass er sie nicht so gut beschützen konnte, wie er es wollte. Hieß das, dass er nicht der Mann sein konnte, der er gerne für sie wäre?